John oder Selbstverständlich
Keiner wusste so recht, woher John gekommen war, oder seit wann er überhaupt schon an der Ladenpassage saß, die ich jeden Morgen auf dem Weg zu meiner Arbeit betrat, geschweige denn wie alt John sein mochte. Er bettelte nicht. Keiner wusste, warum er dort saß, nicht einmal seinen Namen kannte man; deswegen nannte ich ihn einfach John. Er saß friedlich da, lächelte jedem, der vorbei kam, mit einer Freundlichkeit zu, die ihn ganz und gar zu erfüllen schien; das tat er, wenn ich morgens zur Arbeit kam ebenso, wenn ich sie abends wieder verließ.
John musste jenseits der sechzig sein; durch sein braungebranntes Gesicht zogen sich tiefe, jedoch elegant Falten, seine buschigen silbrig leuchtenden Augenbrauen ließen den Blick seiner tiefen blauen Augen noch stechender wirken, jedoch nicht unangenehm bohrend. Unter einem ledernen Hut, der so alt wie John selbst zu sein schien, quollen schlohweiße, lange Haare hervor und fielen über seine breiten Schultern. Den Stuhl, von dem ich ihn sich noch nie erheben hatte sehen, musste er sich selbst dorthin mitgebracht haben, wo er nun dem Anschein nach Tag und Nacht wachte.
John trank nicht, wollte kein Geld, er machte keinen Lärm und verhielt sich auch sonst so unauffällig, dass der Sicherheitsdienst sich nie Gedanken um ihn gemacht hatte; er war gleichsam schon ein Teil des Einkaufszentrums geworden und doch wurde er mit der gleichen Hartnäckigkeit ignoriert, mit der er jeden einzelnen Angestellten und Kunden begrüßte, der ihn passierte. John war so selbstverständlich, wie seinem Chef ein ‚Guten Morgen’ zu heucheln.
Eines morgens nun, als mir mein Chef bereits den gesamten Tag verdorben hatte, indem er mir auftrug, die Kartei unserer Klienten neu zu ordnen, bemerkte ich, dass etwas nicht stimmte. Nicht etwa, dass ein Jurist, der sein Studium mit Auszeichnung bestanden hatte, die Arbeit eines Tippfräuleins übernahm und auch nicht, dass mein hoch geschätzter Arbeitgeber mit seinem aufgequollenen Gesicht und dem neuen Haarschnitt vielmehr wie ein Ochsenfrosch mit Pilzbewuchs aussah; nein! Ich lief an meinem Chef vorbei, der gerade zu einer Ausführung über ein gepflegtes Erscheinungsbild ausholen wollte und beschleunigte meinen Schritt auf dem Weg zu Haupteingang. Schon von weitem konnte ich erkennen, dass Johns angestammter Platz leer war und bog noch vor der großen Glasdrehtür in den Tabakwarenladen ein, da ich mich zu erinnern glaubte, dass John geraucht hatte.
„Wo ist denn John?“ platzte ich atemlos heraus und deutete nur auf meine Zigarettenmarke. Der Verkäufer reichte sie mir „Wer bitte?“ „Na unser Ehrenportier! Von draußen!“ Verunsichert beäugte mich der Mann hinter der Theke „Was? Der Penner? Keine Ahnung! Dreineunzig macht das!“, presste er hervor. Ich bezahlte und verließ das Geschäft.
Niemand war in der Lage, mir zu sagen, wohin John verschwunden sein sollte; so mancher wollte ihn noch nie bemerkt haben und wer ihn kannte, interessierte sich nicht dafür, wohin der ‚Alte’ oder ‚Penner’, wie sie ihn unwirsch betitelten, verschwunden sein mochte.
Nur sein Stuhl und wie ich beim Näherkommen erkannte, auch sein Hut, der noch darauf lag, zeugten davon, dass er real gewesen sein musste und ich ließ mich darauf nieder, wobei ich mir seinen Hut, der bei näherer Betrachtung aus feinem Kaninchenleder gearbeitet war, aufsetzte und mir eine Zigarette ansteckte. Vor mich hin dösend traf mich blitzartig die Erkenntnis, dass John vermutlich der einzige Mensch gewesen war, der mich aufrichtig und von ganzem Herzen freundlich gegrüßt hatte. Und ich habe das für selbstverständlich gehalten.