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19:32. Ich stehe. Der kühle Wind weht mir durch die Haare. Während in weiter Ferne die Sonnenkugel sich hinter den Horizont schleicht, wird sie von einem Heiligenschein aus zarten Rosatönen verfolgt. Vögel singen fröhliche Hymnen und kreisen über das Dickicht. Es ist unbequem. Bald wird es dunkel, dann wird es einfacher. Den Schlüssel des roten Polos in dem ich hergefahren bin, habe ich stecken gelassen - es wäre verschwenderisch ihn mitzunehmen.

Dass ich feige bin weiß ich, doch es ist mir egal. Du und all die anderen haben zugesehen und nichts getan. Und ich? Ich habe es zugelassen. Wer Schuld hat? Diese Frage stelle ich mir schon lange nicht mehr, die Liste wäre zu lang. Meine Freunde, meine Eltern und dann warst da noch du Jonas.

Du warst reinstes Gift und ein Gegenmittel gab es nicht. Nach der Sache mit dem Tape wollte ich nichts weiter als unsichtbar sein und es irgendwie durchs Schuljahr schaffen, doch du und jeder andere haben mich täglich daran erinnert, was passiert ist. Es hieß „ich sei einfach zu haben“ oder „eine Schlampe“. Als ich am Boden lag, hat sich niemand zu mir gelegt und gesagt „Hey, was eine scheiß Aussicht, lass uns wieder aufstehen“, nicht ein Mal meine besten Freunde Lena und Jana. Nein, ihr habt mich mit euren Sprüchen und Lästereien dazu verdammt am Grund eines Meeres voller Verachtung und Hass in Einsamkeit zu ertrinken. Und meine Eltern? Ich liebe euch, auch wenn ihr durch eure Arbeit blind für mein Leid wart und auch sonst viel zu sehr mit sich selber beschäftigt, um zu merken, dass mit mir irgendwas nicht stimmt. Ich hoffe, dass mein Brief es euch erklären wird. All die Briefe.

 

Die Gewässer sind heute besonders unruhig. Auf das fast pechschwarze Wasser fallen einige letzten Sonnenstrahlen und schimmern wie Blitze an der Oberfläche. Auch die Wärme auf meiner Haut hat nachgelassen. Ich fühle wie mein Körper abkühlt, gleichzeitig bin ich von Angstschweiß bedeckt. Unwillkürlich klammere ich mich ein wenig fester ans Geländer.

 

Ich habs versucht. Ich habe es wirklich versucht. Anfangs war er unscheinbar, aber dann wurde er stärker. Und schließlich war der Schmerz mein stetiger Begleiter. Innerlich habe ich geschrieen, immer öfter, immer lauter, doch niemand hat mich gehört. Gefangen in meiner persönlichen Hölle suchte ich vergeblich nach einem Ausweg. Und dann passierte es.

Meine Entrüstung, meine Wut und Machtlosigkeit flossen in Strömen und die Flut war nicht mehr zu stoppen. Das Fass war übergelaufen und als es sich geleert hatte, blieb nichts weiter als Gleichgültigkeit und emotionslose Stille zurück. In mir wurde es dunkel und stumm. Meine Gedanken höre ich seitdem nur noch in weiter Entfernung, als seien es nicht meine eigenen. Gleichgültigkeit und Kälte ummanteln mich

Ich zittere. Mein Blick gleitet über die mir vertraute Umgebung. Die Tannen, die mir in meiner Kindheit als Riesen, gekleidet in prachtvolle Kleider, erschienen, sind zu Zwergen geschrumpft und haben ihre Nadeln verloren. Das Vogelgezwitscher ist verstummt, als wüssten selbst die Vögel, dass ein Unheil naht. Inzwischen ist die Sonne untergegangen und langsam wird der Wald in einen Mantel aus Dunkelheit gehüllt.

Seit Monaten lebe ich in Dunkelheit, eine Dunkelheit die sich unscheinbar und leise in deine Seele schleicht und sie erbarmungslos zerfrisst, bis nichts mehr übrig bleibt. Sie lässt eine leere Hülle zurück, äußerlich makellos, doch der Schein trügt. Sie übernimmt dich und wenn du es bemerkst ist es längst zu spät und der Kampf ist verloren. Alles scheint ohne Sinn, doch es gibt eine Ausweg. Einen Ausweg aus Allem - die Einbahnstraße der Ewigkeit entgegen, wo Frieden und Harmonie herrschen. Doch alles hat seinen Preis und dieser ist besonders hoch.

 

Eine kühle Brise erfasst mein Gesicht. ich atme sie ein. Erleichterung lässt meinen Körper aufbeben und plötzlich scheint alles so einfach.

Ich werde ihn zahlen.

 

Ein letzter Blick auf die Uhr. 19:39. Auf Wiedersehen Welt.

Langsam lösen sich meine Finger aus dem festen Griff, mit dem ich das kalte Metall umklammerte. Es folgt ein Gefühl der Schwerelosigkeit und zum ersten Mal seit langer Zeit fühle ich Frieden und Ruhe. Erlösung.

Ich lasse mich fallen bis die schmerzhafte Unendlichkeit endlich endet.

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Hallo Anastasia,

vielen Dank für deine Kurzgeschichte, die Geschichte finde ich sehr gut geschrieben, sie hat mich beim Lesen richtig gefesselt, zahlreiche Bilder hast du verwendet, die die Dramatik und ihre Ausweglosigkeit sehr gut darstellen. 7 Minuten die alles verändern.

 

Ich bin froh endlich die Zeit gefunden zu haben die Geschichte zu lesen und freue mich schon auf weitere Werke von dir.

 

Wünsche dir ein schönes Wochenende.

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