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Tropfen gegen die Welt


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Nun war sie regungslos, voller Leere. Sie blickte auf das Meer, auf dem sich in einem endlos scheinenden Kreislauf immer wieder eine Welle behautete, sich in ihrer Größe aufrichtete, nur um kurz danach von einer anderen verdrängt zu werden. Es war ein Kampf, und dieser selbst war sein einziger Sieger, der sich in seinem Triumph immer wieder aufhob und aus seiner fiktiven Existenz neue Mittel für seinen weiteren Bestand entnahm.

Sie umklammerte einen toten Fisch, drückte ihre Stirn gegen ihn. Das war zwar unüblich, kühlte ihren heißen Kopf aber etwas, und sie machte sich deshalb keine Vorwürfe, aus allen anderen möglichen Gründen übrigens schon.

 

Zahlreiche Wassertropfen erhoben sich aus der undurchdringlichen Masse, in welcher sie bedeutungslose Einzelstücke gewesen waren, sie wurden praktisch gerade geboren, auf eine Weise, die außergewöhnlich rasch und umstandslos war. Erst einmal das Licht wahrgenommen, strebte jeder einzelne dieser Tropfen die Sonne an, dieses Loch in der Leere des Himmels, welcher von keiner Seele mehr bewohnt war, als hätte Gott sein billiges Hotel gesäubert, und sie alle schienen von der machtlosen Energie des runden Sterns innerhalb weniger Sekunden aufgelöst zu werden, doch eigentlich fristeten sie ihre fragwürdige Existenz im Verborgenen weiter, und wurden in Dampf verwandelt. So sanken sie wieder zu Boden, um von den dort wohnhaften Delfinen, an denen alles eine Parodie auf das Ursprüngliche zu sein schien, verschlungen zu werden und im Leib ihrer Mutter zu sterben. Ja, das war das Ende eines jeden Tropfendaseins, so unbesonders, dass keiner von ihnen dem Fluch ausgesetzt war, durch die Erinnerung an ihn nach seinem Tode weiterzuleben. Was interessierte die Frau das alles? Sie war so verdorben, sich all diese Gedanken zu machen.

 

Gestern war es noch umgekehrt gewesen, dachte sie, und blickte in nasse, trübe Augen. Nun konnte sie nicht mehr länger warten, die Zukunft würde bald ihr Ende in ihrer Umkehrung in die Vergangenheit gefunden haben, und ihre Angst wurde immer größer. Sie musste genutzt werden, bevor sie unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbrechen, sich erdrücken und versperren, ihr Wachstum gemeinsam mit der Zeit umstülpen würde.

 

Wieder fühlte sie sich dazu veranlasst, mit dem Zählen zu beginnen, wusste aber, dass sie dann wieder in den Konflikt mit der Unendlichkeit kommen würde. Also brach sie ihre Regungslosigkeit, stampfte ein einziges Mal mit ihrem Fuß auf den Boden und riss die Hände in Richtung des altbekannten Himmels. Zusammen mit dem durch die Bewegungen des Wassers vor ihr erzeugten Wind bildeten ihre Gliedmaßen nun eine Bahn, eine Leiter ohne Stufen, wie sie in ihrem alten Zimmer gestanden hatte, und der Fisch fand keinen Halt, wie es ihre beiden Kinder geklagt hatten, und fiel dank seines potentiell uneingeschränkten Gewichts zu Boden.

 

Als sie bereit dazu war, ihre Aufgabe zu erfüllen, setzte sie jenen Teil ihres Körpers, den sie zu steuern können glaubte, in Bewegung, wurde sogleich unerwartet schnell und kreiste einige Male um dicke, kahle Säulen, die vor ihr auftauchten und die, nachdem sie ihren Zweck, ihr den Weg zu versperren, erfüllt hatten, wieder verschwanden, um in die Welt der Perfektion in Isolation zurückzukehren, nahm sie an, auch wenn sie kurz davor war, ihren Glauben an diese zu verlieren. Diese Säulen waren rund, brutal und mächtig, so wie jene, die ihr den Weg aus ihrem Zimmer versperrt hatten, nur dass diese nicht verschwunden waren.

 

Ihre Orientierung war schlecht, ihre Gedanken verdrängten die Bilder vor ihren Augen, doch sie ging ihren Weg weiter. Hatte sie das nicht schon immer so getan? Gab es überhaupt eine Alternative dazu? Wo war ihre Wahlfreiheit, wie sie auf den schmutzigen Schildern mit ihren nichtssagenden Pfeilen an den Rändern der hässlichen Wege verkündet wurde, die indirekt von Blut überzogen waren, deren Löcher ihren Sohn verschlungen hatten und über die sie noch nie zuvor nachgedacht hatte?

 

Anscheinend war sie vorangekommen. Sie spürte die angestrebte Wärme der Flüssigkeit, es war kein Wasser mehr, die bereits ihren gesamten Körper umgab.

 

Sie hatte auch einmal gehört, das, was sie tat, sei richtig. Es fühlte sich nicht mehr nicht so an, und legal war es sowieso nicht, doch sie wollte sich ja von all diesen Werten zu befreien, von den Gesetzten, den Emotionen und natürlich von der Wahrscheinlichkeit. Sie selbst sprach es anfangs in ihrem Kopf nicht aus, doch sie schämte sich für ihre Taten. Die Zweifel an ihrer Skepsis traten hervor, und hallten als eine von vielen Stimmen durch ihren Körper. Bis jetzt war alles so gewesen, wie es sein sollte, und nun zerschlug sie die Utopie ihres Lebens mit einem mächtigen Hammer, aber weil ihre natürlich keine solch bedrohlichen Waffen zur Verfügung standen, zerschlug sie sie in Wirklichkeit mit der verschrumpelten Leiche eines Delfins.

 

All die verschiedenen Kräfte, die auf sie wirkten, bildeten das Fundament eines Berges, eines solchen Haufens toter Steine, der so stumm und taub ist, dass es in den Augen eines denkenden und fühlenden Wesens kaum Sinn ergibt, dass ein solches Ungetüm überhaupt existieren kann, und der trotzdem täglich Leben beendet und Leben ausruft. Wie sich dieses Monstrum in der Gestalt eines verformten Kegels im Laufe seiner Entwicklung nach oben, in seinem Streben nach jener Richtung, die häufig mit dem Guten assoziiert und als Ziel definiert wird, wie der Berg so immer weniger wird und sich an seiner Spitze, in der letzten Ebene, schließlich eine Singularität befindet, so stapelten sich ihre kognitiven Prozesse, unklar, ob es Gedanken oder Emotionen waren, und immer mehr der ziehenden Kräfte brachen hinweg.

 

Eine einzelne Sache blieb übrig, doch diese war anfangs noch verschwommen, als wäre sie gerade geschlüpft und noch mit unreinem Schleim bedeckt, so dass sie selbst sie nicht vollständig erkennen konnte. Doch dieses Etwas geleitete sie zu einem Beschluss, welcher ihr sofort bewusst war. Sie begann zu schwimmen, in diesem ätzenden Gemisch, das sie davor für Wasser gehalten hatte. Sie spürte Boden unter ihren Füßen, so sehr, wie sie dieses Gefühl davor gehasst hatte, verehrte sie es nun, und schaffte es, ihre Augen zu öffnen. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, sie geschlossen zu haben, wer weiß, wie lange das schon her gewesen war. Sie kämpfte sich durch die flüssige Masse, ihr Körper erhob sich über der verhassten Brühe, die ihr Tod und Erkenntnis bringen hätte können. So wuchs sie, streckte ihre zitternden Arme aus, und erschrak, als sie plötzlich einem ihr allzu gut bekannten Gefühl ausgesetzt war. Es war das Gefühl der Anwesenheit von Macht, das sie in ihrer Vergangenheit, die sie nun erstmals als ein eigenes Kapitel betrachtete, so oft eingeschüchtert hatte. Doch nun wurde es weder von einer Autoritätsperson noch von einem Gerüst aus Beton ausgestrahlt, sondern kam direkt aus dem einzigen, das sie in diesem Moment wahrnehmen konnte: Aus ihr selbst.

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