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Luzifer (Kapitel 1)


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Golden färbte die junge Sonne die Wolken des Himmels. SIE hob den Kopf, sah mitten hinein in den Glanz und ließ den Blick dann durch die Weite des Himmels schweifen.

Strahlender noch als die Sonne, weißer als die Wolken und schöner als alle Geschöpfe, die SIE jemals ersonnen hatte, so würde ER sein. Erschaffen aus Licht und Feuer. Erschaffen, um IHRE Schöpfung von ihren Sünden zu erlösen. Erschaffen, um ewigen Frieden zu schenken den Völkern IHRER Welt. Erschaffen, um das Böse zu bekämpfen und zu vernichten, auf das die Erde wieder zu jenem Paradies wurde, das sie einstmals war.

Lichtbringer, so würde SEIN himmlischer Name lauten, doch IHRE Geschöpfe unten auf der Erde würden IHN unter einem anderen Namen preisen:

 

LUZIFER

 

IHR Blick blieb an vier Gestalten hängen, die im Halbkreis um IHN herum standen. Michael, Raphael, Gabriel und Uriel, IHRE vier Erzengel. Skeptisch betrachteten sie IHN.

"Viel zu schön", brummte Raphael schließlich, "SEINE Flügel sind viel zu filigran. Wie soll ER damit fliegen, ohne dass SEINE Federn brechen?"

SIE lächelte.

Da trat ein fünfter Engel zu ihnen. SIE und er tauschten einen kurzen Blick, er nickte. Es war Dominicus, IHRE Stimme. Denn selbst die Erzengel waren nicht fähig, IHRE eigentliche Stimme zu ertragen, zu groß, zu gewaltig war diese, es würde sie auf der Stelle zerreißen. So übermittelte SIE Dominicus IHRE Gedanken und er sprach für SIE.

"ER wird es können, weil SIE es will!", sagte er nun zu den Vieren. Sie senkten demütig ihre Köpfe vor IHR.

SIE lächelte noch immer, dann trat SIE an IHN heran und hauchte IHM IHREN göttlichen Atem ein.

ER öffnete die Augen.

"Willkommen im Himmel, Lichtbringer", sagte Dominicus.

 

Und Luzifer lächelte.

 

 

 

Neugierig erkundete Luzifer in den nächsten Tagen den Himmel. Hatte er kurz nach seiner Erweckung noch geglaubt, der Himmel sei eine endlose weiße Wolkenlandschaft, so wurde er schon bald eines Besseren belehrt. Riesige Megastädte wie Eleuria und Harpreetia wechselten sich ab mit kleinen idyllischen Dörfern, umgeben von goldwogenen Getreidefeldern, lindgrünen, saftigen Wiesen und urtümlichen Wäldern. Klare Flüsse und tiefblaue Seen, Berge und Meere, heiße Wüsten und eisige Schneelandschaften, alles fand hier im Himmel Platz.

Und ebenso vielfältig wie die Landschaften waren auch die Uranianer, wie die Gesamtheit der Himmelsbevölkerung sich nannte. Diese Gesamtheit teilte sich in unzählig viele kleinere Gemeinschaften auf. Da waren die Seraphime, die mächtigsten Engel, gefolgt von den Erzengeln, den Chören, den Schutzengeln und, und, und. Welcher Engel zu welcher Gemeinschaft gehörte, konnte man an den Farben der Flügel erkennen. Die der Seraphime waren golden, die der Erzengel von einem strahlendem Weiß. Sämtliche Farbschattierungen, von zartrosa bis hin zu einem dunklen Braun, waren vertreten. Luzifer merkte schnell, dass er etwas Besonderes war: als einziger Engel hatte er Flügel, die in zartem Perlmutter irisierten.

 

Und dann die Seelen der auf Erden verstorbenen Menschen. Greise, kleine Kinder, Menschenseelen aller Altersstufen tummelten sich inmitten der Engel in den Städten und Dörfern. Mit verklärten Blicken, gekleidet in weiße Gewänder und umgeben von einen leichten Lichtschein, körperlich und doch irgendwie ätherisch wirkend, schienen sie sich in einer anderen Sphäre zu befinden als selbst die Engel.

 

In der Mitte des Himmels (falls man bei einer unendlichen Weite von so etwas wie Mitte sprechen konnte) lag ein Bereich, der, zweifach geschützt durch heiliges Feuer und einer magischen Wand aus bunt schillerndem Licht, nicht einmal von den Seraphimen betreten werden konnte. Wehte ein Luftzug die Flammen für kurze Zeit beiseite, so sah man, verzerrt durch das magische Licht, einen Garten, so schön und friedlich, wie es nie einen anderen gegeben hatte. Blumen blühten in allen bekannten Farben, Obstbäume und Sträucher trugen reichlich Früchte, und grüneres Gras gab es nirgendwo sonst. Inmitten dieser Pracht standen zwei Bäume, von denen der eine silberne, der andere goldene Äpfel trug: der Baum der Wahrheit und der Baum der Erkenntnis. Der Name dieses Ortes wurde nur geflüstert:

 

Eden.

 

Hier hatte einst alles begonnen.

Hier in Eden hatte SIE einst Adam und Eve geschaffen, Urahnen des Menschengeschlechts. Unschuldig hatten die beiden ersten Menschen hier gelebt, bis sie, verführt von einer Schlange, ein Verbot GOTTES übertreten hatten und aus Eden verbannt worden waren, in die Menschenwelt. Die Schlange aber, so flüsterten die Engel, sei im Garten zurück geblieben und lebe dort bis zum heutigen Tag. Und SIE, erbost und enttäuscht von IHRER Schöpfung, hatte um Eden magische Mauern gelegt, auf dass niemals mehr ein Geschöpf, sei es Seele, Mensch oder Engel, den Garten betreten und sich seiner paradiesischen Früchte bedienen konnte.

 

Und genau an dieser Stelle setzten Luzifers Gedankengänge ein. Warum war, anstelle von Adam und Eve, nicht die Schlange aus Eden verbannt worden? Warum durfte sie bis zum heutigen Tage noch immer im Paradies leben? Warum wurde sie nicht bestraft? Jenes "auf deinem Bauch sollst du kriechen" war wohl kaum eine Strafe, schließlich hatte die Schlange das schon immer getan. Sie hatte Eve verführt, das Gebot GOTTES zu übertreten, und Eve hatte, aus Neugier, auf ihren Rat hin vom Baum der Erkenntnis gegessen. War es denn in den Augen GOTTES schlimmer verführt zu werden, als zu verführen? War Neugierde schlimmer als Bösartigkeit? Oder steckte vielleicht gar etwas ganz anderes hinter dieser Geschichte? Wenn ja, was? Was versuchte SIE möglicherweise zu verheimlichen?

Fragen über Fragen, auf die Luzifer keine Antworten hatte.

 

Das Leben in den Megastädten des Himmels gab Luzifer weitere Rätsel auf. Seit Tagen streifte er durch Eleuria und seine Verwirrung wuchs von Stunde zu Stunde. Dies hier sollte der Himmel sein? Was er sah, ließ ihn daran zweifeln. Sämtliche Laster waren hier zuhause. Luzifer verstand einfach nicht, wie es zusammenpasste, dass die Bewohner der Menschenwelt in die Hölle kamen, wenn sie der Superbia, dem Hochmut, der Avaritia, dem Geiz, der Luxuria, der Wollust, der Ira, dem Jähzorn, der Gula, der Völlerei, der Invida, dem Neid, oder der Acedia, der Faulheit, anheim fielen. Hier im Himmel gab es keinen einzigen Engel, der nicht regelmäßig eine oder gleich mehrere dieser Sünden beging. Fragte Luzifer, wie diese Diskrepanz sein konnte, bekam er stets die gleiche Antwort:

"Ist doch der Himmel, oder?!", grinste jeder, den er befragte, gefolgt von einem schelmischen Blinzeln.

Nein, so hatte Luzifer sich den Himmel nicht vorgestellt. Und je länger er über all diese Dinge nachdachte, umso mehr hatte er das Gefühl, dass nicht die Menschen gerettet und von ihren Sünden erlöst werden mussten, sondern der Himmel selbst...

 

"Du musst das so sehen", erklärte ihm Dominicus, als Luzifer ihn auf die Zustände im Himmel ansprach, "solange er lebt, führt der Mensch ein hartes und entbehrungsreiches Leben. Im Idealfall hält er sich an sämtliche Gebote GOTTES und hält sich von den Lastern und Sünden fern. Das ist nicht leicht, sondern ein täglicher, stündlicher Kampf gegen sich selbst. Dann stirbt dieser Mensch, kommt hierher und voila, hier darf er jetzt alles nachholen, was er auf Erden versäumt hat."

"Die Belohnung für ein sündenfreies Leben ist also, hier sämtliche Sünden begehen zu dürfen?", fragte Luzifer fassungslos.

"Jetzt hast du`s begriffen!" strahlte Dominicus.

Luzifer wandte sich kopfschüttelnd ab. Das war ihm zu billig. Außerdem hatte er das Gefühl, dass an dieser Logik irgendetwas nicht stimmte. Aber er kam nicht darauf, was das war.

 

Spätabends kehrte Luzifer in sein Haus zurück, das SIE ihm zur Verfügung gestellt hatte. Es stand in einer ländlichen Gegend, nur ein paar Meter von der Haustür entfernt lag ein kleiner See und hinter dem Haus begann der Wald. Luzifer mochte die lauten, überfüllten Städte nicht, er bevorzugte die Stille. Außerdem gefiel es ihm, wenn die Tiere des Waldes ohne Scheu zu ihm kamen und sich von ihm streicheln ließen. Er mochte Tiere.

Nach einer kleinen Mahlzeit ging Luzifer runter zum See. Er setzte sich ans Ufer, beobachtete die leichten Wellen und lauschte ihrem leisen Plätschern.

Ein Fuchs kam aus dem Wald und legte sich neben ihn. Gedankenverloren streichelte Luzifer sein weiches Fell. Er ließ alles, was er in den vergangenen Tagen gesehen und gehört hatte, noch einmal Revue passieren. Irgendetwas war doch faul hier, das spürte er.

 

Ein leichter Lichtschein ließ ihn aufblicken. Nur wenige Meter von ihm entfernt, schwebte eine Seele vorbei. Luzifer grüßte sie, doch die Seele nahm ihn überhaupt nicht wahr. Mit entrücktem Lächeln schwebte sie an ihm vorbei und verschwand im Wald. Luzifer sah ihr hinterher - und plötzlich wusste er, was hier nicht stimmte. Dominicus hatte ihm gesagt, dass die Seelen hier zur Belohnung für ihr anständiges Leben soviel sündigen durften, wie sie wollten.

ABER DIE SEELEN SÜNDIGTEN NICHT!

Die schwebten einfach nur mit diesem entrückten Lächeln durch die Gegend und nahmen nichts von dem wahr, das um sie herum geschah. Es waren einzig und allein die Engel, die sündigten!

 

Aber konnte das richtig sein? Standen Engel nicht prinzipiell über den Sterblichen? Sollten sie daher nicht als leuchtende Vorbilder gelten, fern jeder Sünde sein?

Je länger Luzifer darüber nachdachte, umso mehr zweifelte er daran, dass hier im Himmel alles so lief, wie es eigentlich sollte...

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Hallo Sternenstaubsucher,

Ich habe mal ein wenig hineingelesen in deine Kurzgeschichte und bin über zwei Dinge gestolpert.

Einmal nervt die Großschreibung von "Sie, Ihre, Er, weil ich als Leser durchaus auch so erkennen kann, dass (anscheinend wichtige) Personen gemeint sind. Personalpronomen schreibt man nur bei direkter persönlicher Anrede (in Briefe etc.) groß, soweit ich das in Erinnrerung habe.

Spannend ist auf jedenfall das "Sie" in Bezug auf die Gottheit?

LG

Perry

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Da ich die Geschichte Luzifer von Sternenstaubsucher kenne, weiß ich noch was für tolle Kapitel kommen. Ob man nun auf die Großschreibung verzichten kann, liegt im Auge des Autors wie ich finde. Ich finde es eigentlich gut das sie es gemacht hat, das gibt der Geschichte mehr Ausdruck bei den Persönlichkeiten.

 

Grüße

Kydrian

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Hallo Perry!

 

Danke fürs lesen und den Kommi. Das mit der Großschreibung von SIE, IHR und "ER mache ich so extrem nur im Prolog. Quasi, um die Größe Gottes hervorzuheben und auch, um zu verdeutlichen, dass Luzifer fast ebenso groß (im übertragenen Sinne ) ist. Er ist quasi der Vorläufer von Jesus. (Luzifer kommt von dem lateinischen lux = Licht. Jesus ist ergo das zweite Licht (er sagt ja auch selbst von sich Ich bin das Licht), Luzifer der erste Versuch, die Menschheit zu retten. Daher ist mir das mit der Großschreibung wichtig. In den späteren Kapiteln mache ich das nur noch bei Gott. Bzw., Göttin.

 

 

Hi DieDine!

 

Ich fand ( und finde ) den Gedanken interessant, dass der Christengott ebensogut eine Frau sein könnte. Wir wissen es nicht. Vielleicht ist Gott/Göttin auch geschlechtslos, wer weiß.

Gut und Böse im herkömmlichen Sinn mal zu vertauschen ( der Teufel der Gute, Gott der Böse ) ist ein kleines Experiment, das ich hier mal gewagt habe. Luzifer war ja ursprünglich ein Engel, der von Gott aus dem Himmel verbannt wurde, weil er zu hochmütig geworden war.

 

Danke fürs Lesen und den Kommentar.

 

 

Hey Patrick!

 

Siehe meine Antwort an Perry ...

 

Und auch dir ein Danke fürs Lesen und den Kommi.

 

Ich hoffe, dass der ein oder andere bei dieser Story am Ball bleibt. Zu verbessern, auch von der Logik her, ist bestimmt noch einiges. Da freu ich mich auf Hinweise / Verbesserungsvorschläge.

 

LG

 

Sternenstaubsucher

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