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Hinterher werden sich alle fragen, wie es dazu kommen konnte. Deshalb möchte ich die Geschichte lückenlos von Anfang an erzählen, damit jeder für sich selbst entscheiden kann, welches das entscheidende Glied in dieser Kette der Absurditäten war. Der Anfang also...

Es begann wohl damit, dass der Leiter des Seniorenheims beschloss, mit kompletter Belegschaft und allen Insassen einen Spaziergang zu wagen. Als sie gerade dabei waren, eine Brücke zu überqueren, blickte der Leiter gut hundert Meter hinunter zum Fluss. Aus einer spontanen Laune heraus - und sich der vermeintlichen Verneinung gewiss - ließ er die Senioren darüber abstimmen, ob sie einen Bungeesprung von dieser Brücke abhalten sollten. Eine denkbar knappe Mehrheit war dafür. Allerdings wollte der Leiter hierfür die Verantwortung nicht tragen und ernannte die Krankenschwester Theresa zu seiner Nachfolgerin.

Diese wählte sogleich mit stolzem Lächeln die Nummer der ortsansässigen Bungeeseil-Manufaktur mit dem freundlichen Namen "Your Rope". Während die ersten Freizeichen ertönten, bemerkte die neue Leiterin, dass Günthers Arm nach der Abstimmung sich nicht wieder gesenkt hat: "Was ist, Günther?" "Was bedeutet Bungeejumping?" Wie vom Wort "Bungeejumping" aus einer Winterstarre gerissen, äußerte Gisela plötzlich: "Ich hab solche Angst." "Schnauze!", herrschte sie Karl-Heinz an: "Wir ziehen das jetzt durch." In der kurzen Pause, die zwischen dem Geräusch des abgenommenen Hörers und der Begrüßung eines Telefonisten von Your Rope entstand, brachte Theresa ein rasches "Ruhe jetzt!" unter.

Sie erklärte ihr Anliegen und die außergewöhnlichen Umstände und bat darum, aus Rücksicht auf die alten Menschen, ein besonders kurzes Seil zu liefern, in etwa in der Größenordnung eines Meters. Zwar sollten die Senioren den Nervenkitzel eines Bungeesprungs erleben, aber eben nicht zu Tode geängstigt werden. "Tut uns leid", entgegnete der Telefonist "aber wir verfolgen die Maxime: "Wenn schon Bungeejumping, dann richtig!" Solch kurze Seile werden wir nicht liefern." Zwar hatte er Mitleid mit den alten Menschen, doch ging dies nicht so weit, dass er bereit gewesen wäre, hier einen Präzedenzfall zu schaffen.

Theresa schluckte ihre Wut herunter, um ihre nach eigenem Ermessen gute Verhandlungsposition nicht zu gefährden. Denn ein Ass hatte sie noch im Ärmel: "Wenn Sie uns keine kurzen Seile schicken, dann springen wir ohne Seil." Der Telefonist antwortete trocken: "Dann springt ihr halt ohne Seil" und legte auf. Empörung über die Gängelung von Your Rope machte sich in Teilen der Seniorenschaft breit. Am aktivsten entrüstete sich Karl Heinz: "Wir lassen uns von denen doch nicht vorschreiben, wie ein Bungeesprung geht und wie nicht. Und die sollen sich mal nicht darüber täuschen, ob wir ohne Seil springen. Damals im Krieg musste ich auch von einer Brücke springen, als der Feind kam und ich habe es überlebt. Wir werden springen. Ob mit kurzem Seil oder ohne!" "Ich hab solche Angst", fiepte Gisela irgendwo im allgemeinen Tumult.

Mit tiefer Besorgnis beobachtete Theresa, wie sich ihr Bluff verselbstständigte und zur einzigen Handlungsoption zu werden drohte. Dennoch wollte sie Zuversicht demonstrieren und unter keinen Umständen zulassen, dass der Eindruck entsteht, sie habe die Lage nicht im Griff: "Wir haben uns für einen Sprung entschieden und wir werden springen. Solange ich die Verantwortung trage, wird dem Willen unserer Bewohner entsprochen. Mit kurzem Seil ist unser Ziel. Doch wenn wir ohne Seil springen müssen, geht davon die Welt auch nicht unter."

Die Belegschaft indes war äußerst unzufrieden damit, wie Theresa die Aufgabe angegangen ist. Es entwickelte sich bald eine offene Diskussion darüber, ob sie denn als Leiterin noch tragbar sei. Die inzwischen etwas verunsicherte Theresa konnte diese Diskussion jedoch beenden, indem sie zugestand, als Leiterin zurückzutreten - allerdings erst nach absolviertem Bungeesprung. Noch einen verzweifelten Anruf mit Your Rope tätigte sie, doch dieser war ohne Erfolg. Also ergab sie sich und die Senioren ihrem Schicksal. Einer nach dem anderen sprang in den Tod und als die Mission erfüllt war, trat sie, wie abgemacht, als Leiterin eines gegenstandslos gewordenen Seniorenheims zurück.

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Böser Inhalt, guter Text, liebes Schmuddelkind. Zeigt er doch pointiert, wie der Schneeball zur Lawine oder die riskante Idee zum Massensterben nach Art der Lemminge wird.

 

Mit Genuss gelesen.

 

Grüße von gummibaum

 

 

Bungee Jumping

 

Das starke Seil war hoch elastisch

und hielt an mir auch ganz fantastisch.

Doch blieb ich unten fein geschrotet,

denn oben war nicht festgeknotet…

 

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Danke gummibaum,

 

dass du ebenso gut geschriebene böse Inhalte retournierst! Klasse!:rofl2:

 

vor 32 Minuten schrieb gummibaum:

Zeigt er doch pointiert, wie der Schneeball zur Lawine oder die riskante Idee zum Massensterben nach Art der Lemminge wird.

Ja, diese Idee liegt dem Text sowohl abstrakt, als auch ganz konkret zu Grunde: Ursprünglich war es eine Anspielung auf den Brexit (und wurde noch vor der Stabübergabe an Boris Johnson geschrieben). Da war es ja auch irgendeine Schnapsidee, die sich verselbstständigt und schließlich aus Trotz oder Stolz nicht mehr zurückgenommen werden konnte. Theresa ist Theresa May und die Seilfirma "Your Rope" steht für Europa (Europe).

 

LG

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vor 16 Minuten schrieb gummibaum:

Ich wollte schon schreiben "Wie beim Breixit!", habe aber "Theresa" und "Your Rope" nicht als Indizien erkannt und mich zurückgenommen.

Ist ja krass!:scared:

Dass du die Verbindung gespürt hast, obwohl du diese versteckten Hinweise nicht gesehen hast! Wow! Da scheint der Text ja irgendwie seine Arbeit getan zu haben und du hast wirklich eine gute Intuition bewiesen.:thumbup:

 

vor 19 Minuten schrieb gummibaum:

Aber diese  Geschichte bleibt, da sie etwas Grundsätzliches tragischer Zuspitzungen enthält, auch in der Zukunft aktuell. 

Ja, das ist auch der Grund, warum ich es, selbst Monate nach dem Brexit, noch einmal gepostet habe. Denn solche Selbstläufer, von einem absurden Gedanken ausgehend, entstehen immer wieder.

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