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Der Winter war erlahmt in sein langes, matschiges Ende übergegangen. Schneereste dämmerten schwärzlich am Straßenrand. Aufgedunsene Flocken fielen jetzt wie weiche Steine und starben am Boden. Salzwasser schwamm grießig in den blicklosen Pfützen. Entfernter im Acker staken die Wolken fest. Der Himmel war heruntergefallen und kam seit Tagen nicht wieder hoch.
Diese Depression zerbröselte mir die Knochen. Ich nahm die Lesebrille ärgerlich ab und stieß mich, in Mantel und Schal vermummt, angeekelt vor die Tür. Ich brauchte dringend Licht. Die Dorfstraße war trüb und leer, bläulicher Fernsehschimmer flackerte in den Fenstern. Ich streifte lange in den verwahrlosten Feldern herum, um irgendwo die erdrosselte Sonne liegen zu sehen. Die Wege waren allesamt tot gefault und schmierig, meine Hose und Schuhe starrten vor Dreck, das Weitergehen erschien mir nur sinnlos. Der Horizont blieb stoisch blind. Der Rückweg war lähmend und bleiern.

Mein Ofen war bis auf einen letzten Glutrest schwarz. Ich warf zerknüllte Zeitungen hinein, doch quoll nur ein erstickender Rauch auf. Kopfschüttelnd riss ich, mechanisch in meiner Resignation, noch einige Seiten aus einem alten Reiseprospekt, als plötzlich die Flamme doch in die Höhe schnellte und augenblicklich den Qualm in den Kamin hinaufschob. Ich nährte das Feuer ermutigt mit kräftigeren Scheiten und genoss, wie ein warmes, reges Licht sich im Zimmer ausbreitete. Ich setzte mich endlich an den Tisch und sog die frische Wärme ein. Da bemerkte ich, dass ich die schräg abgerissenen bunten Prospektseiten noch immer in der Hand hielt. Sie wegzuwerfen hätte bedeutet jetzt gegen die Schwerkraft der Seele noch einmal aufzustehen. Und war das nötig? Ich las: „Genieße das Leben. Karibik.“.

Ein Foto zeigte das blaue Meer. Ich sah den Strand, sah das Sonnenlicht fluten, entdeckte die Palmen und die Hotels. Ich fühlte mich plötzlich schwerelos. Eine Brise kam spielerisch vom Ozean her und trug seine erhabene Weite in mein Zimmer. Der Schrei der Seevögel war ganz nah und ich merkte wie sich mein Teppich ganz leicht unter meinen Füßen kräuselte. Liegestühle standen vor mir, rosa und violett im weißen Sand, die Sonnenschirme aus Schilf verbreiteten wohltuend Schatten. Und im Meer kreuzten Segelboote in weißer Gischt. Ich hatte die Beine hochgelegt, bewegte die Zehen, zog nacheinander erst den Pullover, dann Hemd und Unterhemd aus. Ich hob die befreiten Arme und winkte dem Kellner, der biegsam näher kam und meine Wünsche mit einem leichten Kopfschwung quittierte.

Hinter meiner Zimmerpalme, die unbemerkt zu wachsen schien, war plötzlich ein junges Paar aufgetaucht, das in Badekleidung den Strand entlang im knöcheltiefen hellen Wasser schlenderte. Sie waren beide schlank und braun und hatten sich bei den Händen gefasst. Sie schienen durch einen einzigen Pulsschlag verbunden. Die weibliche kleine Gestalt hob eben ihren Blick in die Bucht hinaus und schien etwas Freundliches anzulocken. Ihr Partner sah sie teilnehmend an und begleitete jede ihrer Mienen. Ja, dieser Mann, muskulös und strahlend, ein offener Typ und doch zärtlich verträumt, den kannte ich irgendwo her. Und wie die beiden an mir vorübergingen, stand ich doch auf, ließ meinen Eisbecher stehen und ging ihnen nach, an den Klippen entlang und vorbei noch an den Yachten und trat, als er vom Wasser abbog heimlich in seine Spuren. Wie tat der warme Sand meinen nackten Füßen gut und wahrhaftig, sie füllten die Abdrücke haargenau aus. Noch einige Schritte, da hatte ich ihn endlich eingeholt und seltsam, unsere Schatten im Sand verschmolzen. Ich fühlte jetzt nur noch die Wärme der kleinen Hand in der meinen. Und da wusste ich auch den Namen wieder. Und ich fühlte ihren und meinen Puls. Und so zogen wir lautlos immer weiter.


Wir waren an einem alten halb verfallenen Ruderkahn angekommen, der auf einem einsamen Strandstreifen lag. Unsere Schritte waren langsamer geworden und wie wir um das Boot herumgingen und das morsche Holz und die zerfaserten Ruder betrachteten, schlüpfte plötzlich ein kleiner einheimischer Junge unter dem Kahn hervor. Er mochte fünf oder sechs Jahre alt sein, blieb aber ganz natürlich stehen, hielt seinen hellen, breitkrempigen Strohhut mit der rechten Hand schräg auf seinem Kopf fest und lachte uns mit weißen Zähnen und glänzenden Augen an. „Señore, Señora“, sagte er und deutete in den Kahn und lachte wieder. Ich wollte ein bisschen mitspielen und setzte einen Fuß über die flache Bordwand und du stiegst einfach mit hinein. So setzten wir uns für ihn auf der alten Ruderbank in Pose und lachten freundlich zurück. In seiner Miene war jetzt fast ein bisschen Unglauben, aber wie wir ihm zuliebe doch noch weiter sitzen blieben, trat er hinter das Boot, stemmte seine kleinen Arme dagegen und unglaublich, das Boot bewegte sich jetzt und glitt ins Wasser. Ich wollte aufspringen, blieb aber doch sitzen, sah dich an, sah, wie du zum Ufer zurück winktest, sah, wie der Junge kleiner wurde und fühlte, wie uns die erste Welle hob und unendlich sanft mit hinauszog.
Die Palmen blieben zurück, hochstämmig, als grüner Saum hinter dem Strand, und sie warfen uns, vom Wind gezaust und dem Meer entgegen gebeugt, tausendfingrig aus schwankenden Wedeln ihr Licht nach. Das Rauschen der Brandung verlor sich, die Dünung glitt ruhig unter uns hin. Ein stetiger Wind nahm uns mit sich und spielte vergnügt mit unseren Haaren. Türkisblau lag das Meer da, dem Ozean sich öffnend, der glänzend mit hellen Zungen die Luft erregte und unser Boot zu liebkosen schien. Wir lehnten uns sonnenwarm aneinander und ließen uns ohne Zeitgefühl treiben. Möwengruppen, weiße gefiederte Inseln, zogen vorüber und wurden wie wir im langsamen Rhythmus gewiegt. Und aus dunkler Tiefe kam silbern aufwallend ein riesiger Schwarm winziger Fische. Du legtest den Kopf auf meine Schulter, deine schwarzen Locken flossen warm über meine Haut, ich streichelte dich mit verheißungsvollen Worten und legte Hügel und Tal für uns frei. Deine Finger umspielten jetzt leichthin meine Lippen, dein Atem sank tief in den meinen hinein und wie du mich ansahst mit feuervollen Blicken, wuchs ich dir überquellend entgegen. Ich merkte, wie die Sonne über ihre Ufer trat und alle Konturen wegschwemmte, wie die Kontinente sich schneller bewegten und ihre tektonischen Platten sich hart und durchdringend rieben. Irgendwo auf der Welt brach ein gewaltiges Seebeben los.

Als ich den Kopf hob, war das Land fast verschwunden und unter mir, aus den Ritzen der Bodenbretter, quoll Wasser. Die Bretter wurden schon gehoben und schwammen lose im Boot, das völlig leck war und eben zur Seite sackte von unserm Gewicht. Entgeistert sprang ich hoch, griff hastig die Ruder, ehe sie jetzt über Bord gingen und drückte ihre Stangen in die rostigen Dollen. Ich warf mich panisch ins Zeug, gewalttätig bei dem Versuch, das Boot zu wenden. Eine der Dollen riss sofort ab, das Ruder fuhr unbeherrscht durch die Luft und traf mit der harten Stange deinen Hinterkopf. Ich sah deinen Mund offen, hörte aber keinen Schrei, und als ich von furchtbarer Ahnung berührt mich zu dir niederbeugte, fielst du lautlos vornüber ins Wasser. Ein weißer Strudel blieb sekundenlang wie eine Hoffnungsspur an deiner Eintauchstelle, aber als die letzten Luftblasen aufgestiegen waren, wurde die Oberfläche ruhig und unter dem Türkis ganz schwarz. Ich stand wie gelähmt, die Glieder zermahlen, ein Torso mit bloßsezierten Sinnen. Der Schmerz versengte und würgte mich so, dass nur eine einzige Tat nach mir rief. Ich stürzte ins Wasser, dir nach, um nur zu sterben.

Der Raum, in den ich geraten war, blieb völlig still. Die Tür hinter mir war zugeschlagen, sie hatte keinen Griff zum Öffnen. Nur ein dämmriges Licht verweilte hier und schluckte alle Bedeutung. Mir schien, mein Gesicht würde eingedrückt. Es war mir nicht möglich zu rufen. Schneereste trieben kaum unterscheidbar im Nebel durch mich hindurch. Ich sah meine Fußabdrücke voll Wasser zerfallend im Matsch. Sah die Bahngeleise zu meiner täglichen Arbeit. Sah meine Schule die Nebelwand öffnen und mich langsam verschlucken. Sah das Gähnen in bleichen Schülergesichtern vor mir, sah meinen ewigen Schreibtisch und das Papier. Jetzt wurde die Luft hier drinnen langsam abgesaugt, ich fühlte eine zersetzende Schwäche in meinen Beinen aufsteigen. Die Lungenflügel schaufelten vergeblich nach Sauerstoff und falteten sich ohnmächtig zusammen. Da fasste ich verzweifelt mit den Fingerkuppen die kaum überstehenden Türkanten und zog daran, so stark ich konnte. Meine Fingernägel rissen ab und doch hatte ich einen kleinen Spalt geschaffen, als eine übermächtige Sogwirkung die Tür wieder in ihren Rahmen zurücksetzte. Ich glitt verschwelend ins Nichts hinab, fand noch einmal Halt und warf mich gegen die Tür, trat und peitschte mich mit zerstäubendem Gehirn durch das Holz und Wasser, durch Nebel und fiel ... zurück ins Leben.

Die Atmung war also wiedergekommen, das Herz stolperte noch unstimmig in meiner Brust. Ich hatte Angst, dass sein Schlagen wieder wegbleibt, stand auf, lief im Zimmer herum, machte Licht. Es war nicht das Arbeitszimmer. Es war das Hotel. Ich besann mich. Ich war im Urlaub. Dort stand das Bett, ein Doppelbett, das ich alleine belegt hatte, aus welchem Grund auch immer. Und noch ein kleineres Bett. Die Gardinen waren nicht zugezogen, draußen war Tag, ich sah fern die Palmen.
In diesem Moment wurde leise die Tür geöffnet, ich konnte es im Spiegel verfolgen, und ein weiß gekleideter Mann, ein Stethoskop vor der Brust, trat herein. Ich hörte ihn meinen Namen sagen und antwortete mit „Ja“.
Er kam auf mich zu und forderte mich auf, ich solle mich bitte hinlegen. Er fühlte meinen Puls und horchte mir den Brustkorb ab. „Arrhythmie noch. Aber kein Wasser mehr in der Lunge. Sie haben wirklich großes Glück gehabt.“ Ich begriff nichts. Ein kleiner Junge hätte mich nach der Flutwelle des Seebebens am Strand gefunden, er hätte weinend meine Brust massiert, es habe lange gedauert, bis man ihn endlich von meinem leblosen Körper hätte wegziehen können, denn er habe um sich geschlagen. Die Sanitäter hätten mich zu den anderen Leichen gelegt, nur hätte der Junge so laut rumgeschrien, dass jemand, um ihn zu überzeugen, den Puls gefühlt hätte und merkte, dass ich noch lebte. Das sei nun zwei Wochen her.
Ich atmete ruhiger jetzt, fühlte die Schwere meines Körpers unter der Bettdecke und kam bei geschlossenen Augen zunehmend in meine Gegenwart zurück. Dennoch, es waren beunruhigende Lücken in meiner Erinnerung, die nur noch den Flug, die Fahrt zum Hotel, den Empfangscocktail und endlich den Eintritt in dieses Zimmer zusammenbrachte. Was kam danach? Ich öffnete meine Augen und sagte: „Wissen Sie, wo der Junge ist? Ich muss ihn unbedingt etwas fragen.“ Aber der Arzt zuckte mit den Schultern. „Vielleicht aus den Bergen“, sagte er, „kennen Sie ihn?“ Ich schwieg einen Moment, las in den Strukturen der Zimmerdecke, suchte wieder und wieder aus einem Grundgefühl nach deinem liebenden Blick, fand aber nur schwindelnd undeutlich riesige Fischschwärme, silbern auftauchend und antwortete: „Ich bin nicht sicher.“ Er nickte, reichte mir die Hand. „Bleiben Sie heute noch auf Ihrem Zimmer. Ihr Abendessen wird hochgebracht.“

Als die Tür wieder zu war, stand ich auf. Ich kleidete mich rasch an, plötzlich kaltschweißig und unsicher auf den Beinen, nahm meinen Schlüssel und glitt wie ein Schatten zum Lift. Im Parterre ergriff mich ein solcher Schwindel, dass ich über den Marmor schlitterte, der Drehtür entgegen fiel und mich anhängend von ihr mitschleifen ließ. Eine riesige Zentrifuge drehte mich unerbittlich um meine schwankende Achse aus Trotz, um meine Irrsinnshoffnung dich plötzlich nach all dem doch wiederzufinden. Aber mit jeder Umdrehung wurden sonderbar die furchtbaren Zweifel immer mehr abgeschleudert und als sich mein Herz entspannt hatte, ließ ich die Tür einfach los und fiel hinaus.

Draußen, im großen blauen Pool, eine Wasserspaß-Animation für Kinder, pralle geblümte Gummitiere, die sie besteigen mussten und die sich, sobald es zwei geschafft hatten, zum tollen Vergnügen mit ihnen überschlugen. In der Pool-Bar hielten sich jüngere Paare auf. Sie lehnten an hohen Tischchen und sahen dem Schauspiel belustigt zu. Es war ein heiteres Tête-à-tête, man zog an bunten Hälmchen. Bermudashorts und palmengemusterte Hemden, Strandtaschen, hoch in die Haare geschobene Brillen und ein Flair von Sport und Sex. Einer erzählte vom Kitesurfen und dass er die Riesenwelle ausgenutzt habe, um bis in die Ladenzone zu kommen. Die Vorstellung davon machte allen Spaß, man wiegte sich zur Combo, stieß auf das Fünf-Sterne-Hotel und den reichlichen Luxus an, der hier zum Glück weiter herrschte.

Ich überquerte eine Poolbrücke, unter der ein paar Körper breitbeinig auf Luftinseln trieben und ging vom Infopoint aus dem Richtungsschild "Strand" nach.

Ich dachte nur an dich, an unser altes Boot und deine Blicke, trieb tauchend in deine Augen hinein, durch den Ozean bis zur anderen Seite der Erde, schwebte auf deinen Lippen wie auf Schwingen durch die Hölle der Stadt. Ich lief einsam zwischen weißen Fassaden die Chaussee hinunter, Hotelkästen glotzten mir mit ihren Balkonen fassettenäugig hinterher. Ich fühlte mich ach so nutzlos und wie verraten. Und der Strand war bedrängt und laut bequirlt von Badegästen, die jetzt nur noch auf diesem Stückchen zum Wasser durften. Die vom Ort entfernteren Abschnitte waren alle gesperrt. Bergungen und Instandsetzungen gingen dort, wie es hieß, noch weiter.

Ich konnte also nicht zu dem Strandstück gelangen, wo wir ins Boot gestiegen waren. So bog ich am Stacheldraht ab, ging unschlüssig lange neben dem Drahtverhau her, der immer höher ins Gebirge führte. Erst am Fuß eines Wasserfalls im Dschungel endete diese Absperrung. Hier lag der Drahtrest noch unausgerollt vor der Felswand. Aber ein Weiterkommen schien dennoch sehr schwierig. Die feuchtwarme Luft widersetzte sich dem Atmen, der Schweiß rann in Bächen aus den Haaren und biss die Augen wund, der Fels blockierte den Weg. Nur das kühlende Nieseln aus den Schwaden, die vom Wassersturz wegwehten, tat mir gut und brachte mich allmählich wieder zu mir. Ich atmete freier. Als ich die Wassersträhnen aufwärts verfolgte bis dort, wo sie zu einer einzigen weißen Schnur zusammenwuchsen, entdeckte ich wie bloßgelegtes Wurzelwerk im Fels die nackten, braunen Beine eines Jungen. Er saß zwischen den äußersten Steinblöcken der überhängenden hohen Wand und schaute herunter. Auf die Entfernung war er sehr klein, aber ich sah doch klar, dass er unter seinem Strohhut lachte. Ich hob meine Hand, um ihm zu winken, da machte er dasselbe und so sagten wir uns wortlos: „Buenas tardes“.

Ich fühlte einen tödlichen Riss, denn ich sah, dass er sich vorbeugte und fallen musste, aber dann wurde er nicht größer. Er winkte nur ganz aufgeregt und da erkannte ich ihn, den Jungen vom Strand und eine tolle Freude befiel mich. Ich muss etwas gerufen haben in diesem Moment, denn er stand auf, von meiner Stimme bewegt und verschwand, um, wie ich glaubte, jemanden zu holen. Ich wartete, gewiss, dass er gleich wiederkäme, wartete, bis die Schatten lang wurden, ohne dass etwas passierte. Da packte mich ein Gefühl, verraten zu sein, eine irre Angst, dass mich das Glück verließ und ich fing an, wie im Fieber über die nackten Felsen hochzuklettern. Was mich trieb, war so absolut, dass ich nicht denken konnte. Ich wollte hier abstürzen oder mich spottend aller Gefahr des Glücks wieder würdig erweisen.

Aus den Spalten der Wand traten leuchtend Orchideen zutage, einzelne Felsen waren mit einem fingerdicken Wurzelwerk überspannt, aber wohin ich griff, war der Stein mulmig und bot kaum Halt. Augenblicke lang hing ich mit den Füßen in der Luft, die Wurzeln, die ich im letzten Moment packte, rissen und ich sackte, von Steinen getroffen, schürfende Meter hinunter. Aber das Licht, dass von oben noch zu mir drang, reichte aus mich endlich über den letzten Vorsprung zu heben, und im Wahn es zu halten, richtete ich mich auf.
Der kleine Fluss, der zu dem Wasserfall hinglitt, sprang hier über die obersten Stufen und dann in die Schlucht hinunter. Vom Sog schon ergriffen nahm er das purpurne Sonnenlicht mit. Der Blick hier oben aber war wunderbar frei, glitt über den Berg hinab, über den weiten Saum der Palmen aufs Meer, wo die Sonne halb eingetaucht war, in ihrer Schmelze verendend pulsierte und sich im Wasser löste. Versöhnt kam mein Blick von dort zurück und ich sah den Strand. Die Klippen waren schon dunkel, die Yachten unwirklich, aber weit entfernt im Sand, dort, wo wir eingestiegen waren, glänzte noch ein Gegenstand matt. Er war oval geformt, wirkte wie ein getrockneter Apfelschnitz und in seinen Seiten steckte je ein Spießchen. Es war ganz unbegreiflich schlicht unser Boot und schien vollkommen unversehrt.

Als ich mich umblickte, bemerkte ich eine Lichtung mit einem blau gestrichenen kleineren Holzhaus. Es hatte genau die Meerfarbe, wie ich sie an ähnlichen Häusern schon unweit des Strandes gesehen hatte. Sie gehörten dort den Einheimischen, die in verschiedenen Branchen, als Händler, Zuckerrohrpflanzer oder auf Tabakplantagen im Hinterland arbeiteten. Hier oben hätte ich so ein Haus nicht erwartet. Ich ging, nach dem Jungen zu fragen, auf das Haus zu, wurde aber von einem Zaun durch den Garten gelenkt. Als ich dort eintrat, war er dicht mit schönen tropischen Pflanzen bewachsen. Über den dunklen Blüten mussten schwere Duftwolken stehen, die die vielen Insekten noch in den Abend hinein im durstigen Schwebeflug hielten. Ihr Summen klang so fein abgestuft, dass ich stehen blieb und horchte. Da hörte ich ein Berimbau vom Haus her, das einsam und traurig in den Garten rief. Große Bananenbäume hoben unter den ersten Sternen riesige eingerissene Blattfahnen über mich und Luftwurzeln spannten sich abwärts aus Epiphyten zum Boden. Und im Licht des Hauses schimmerten vor mir kleine, stramme, kürbisartige Früchte aus den Blättern. Ich streckte unwillkürlich die Hand nach ihnen aus, denn sie erinnerten mich in meiner Sehnsucht an etwas, das sich anfühlen musste wie ein körperlicher Gruß von dir. Und als ich sie betastete, hatten sie wirklich eine angenehm warme Haut und rund um den Stiel noch eine kleine Mulde, die wie die deine frischen Saft enthielt. Ich schob instinktiv meine Fingerkuppen in den Mund und kostete von dem Fruchtsekret, das leicht nach Honig schmeckte und mein Verlangen, jetzt die Frucht zu öffnen, aufkeimen ließ.

In diesem Moment war jemand aus dem Haus getreten und kam langsam auf mich zu. Die Silhouette wuchs im Gegenlicht zu einer femininen Säule, zu Rumpf und Kopf, die wie ein dunkler Wasserstrahl aus einer Schale ruhig aufstiegen und wieder niederfielen in einer zerstäubenden Flut durchstrahlter Locken. Ich hörte Rascheln in den Büschen und hinter mir Schritte und dann hatte ich ihn schon auf dem Rücken und er hielt mir mit seinen kleinen Händen von hinten die Augen zu.
„Pablo“, hörte ich dich sagen, „was machst du?“ Und Pablo antwortete in hellem Spanisch, dass ich nach all den Jahren noch verstand: „Er darf dich erst im Haus angucken und soll da sehen, was wir alles für ihn gemacht haben. Er geht sonst wieder weg. Aber Papa muss diesmal bleiben und unsern Miguel auffangen, wenn er bei dir aus dem Bauch fällt.“

Ich hätte bis dahin abgestritten, dass man am ganzen Körper so weinen kann. Aber ich wurde von einem solchen Krampf geschüttelt, dass ich nicht begriff, wie ich nicht hinfiel. Aber ich spürte den Halt deiner Lippen an meinem Ohr und deine Haare begannen mir die Tränen wegzuwischen. „Pablo hat dich in seinem Traum besucht und dich zu uns gerufen“, hörte ich dich deutlich sagen, „er wünscht sich nämlich zu Weihnachten einen Bruder. Er ist viel allein hier oben.“ Ich sagte nichts. Ich ging nur langsam als das blinde Eselchen unter Pablos Führung ins Haus hinein und die Vorstellung jetzt für immer hier zu bleiben war schön, unendlich befreiend und doch, ich dachte in diesem Moment auch an Deutschland. Ich dachte daran, dass ich nicht einfach so wegbleiben konnte, dachte an meine Verwandten, an meine Freunde, meinen Beruf, sah, wie sie alle kopfschüttelnd ganz verständnislos dastanden, fragte mich daraufhin überflüssiger Weise, ob ich nicht wirklich zu alt für dich bin und ob, da unsere Liebe so tödlich und wunderbar ist, sie gar nicht mehr lange anhalten kann.
Und ich öffnete ganz kurz den Mund um dich etwas zu fragen, nur, um ganz sicher zu gehen, da sagte Pablo schon „Halt!“ und gab meine Augen frei.

Ich würde so viel darum geben, wenn ich ihn jetzt nur noch ein einziges Mal auf den Rücken bekäme. Ich würde den Weg wieder und wieder ins Haus hinein laufen und zeigen, dass ich mir ab sofort solches Denken für immer verbieten kann. Aber zu spät. Ich sitze nun wieder in meinem Zimmer nicht weit vom Ofen am Tisch und blicke mir blöde auf die Hände und auf die alten abgerissenen meerblauen Seiten und lese: Karibik.

Draußen hat es noch einmal geschneit. Ich kehre den Schnee mit großer Gründlichkeit fast genauso gut wie der Nachbar, damit mir niemand einen Vorwurf machen kann. Man liebt hier keine Träumer. Zuletzt aber greife ich in den sauber aufgeschichteten weißen Berg aus Schnee. Ich drückte mit warmen Händen all deine Liebe und die meiner Kinder in einen Schneeball. Den werfe ich dann mit ganzer Kraft in den Himmel, durch Nebel und Wolken, über alle Sphären hinaus, bis in die Sonne.
Und nicht lange nachdem ich geworfen habe, wird es heller und die Sonne bricht neu wie am ersten Tag den Himmel auf.

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Hallo Gummibaum! Das ist wirklich eine Geschichte - eine unglaublich gute noch dazu. Eigentlich hatte ich gerade gar nicht viel Zeit und wollte so drüberlesen. Ein paar Mal runtergescrollt und erschrocken, wie lang diese Geschichte ist. Doch dann habe ich begonnen, mich darauf einzulassen und jedes Wort aufzusaugen. Denn dein Schreibstil ist faszinierend und fesselnd. Welch Erlebnis, welche Liebe, welche Traurigkeit und welch ein Glück. Die Übernahme der Spuren, das Vergessen und Genießen im Boot, die Verzweiflung und Suche. Dies kann wirklich nur jemand schreiben, der das Wort "Genie" verdient. So viele Passagen daraus erzeugen ein Staunen und hinterlassen ein unfassbares Begreifen.

Danke für diese Geschichte, die ich sicherlich noch ein paar Mal lesen werde.

Sonja

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