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Brief an dich


Meerwelt

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Wenn ich an dich denke, kommt mir zuerst ein Spruch in den Sinn, welcher ich vor Jahren gelesen habe. «Mam, unsere Beziehung bedeutet meinem Therapeuten die Welt.» Ich hab dir diesen glaube ich damals auf Englisch vorgelesen und du hast ihn nicht verstanden. Macht auch nichts. Du musst meinen Humor, in dem tatsächlich eigentlich auch ganz viel Schmerz steckt, nicht verstehen. 
Es gibt so viel, was du in mir ausgelöst hast und immer noch tust. Ich glaube die Wurzel meiner seelischen Verletzungen sind unter anderem aufgrund unserer Beziehung in mir entstanden und diese vermutlich wiederum wegen deiner Beziehung zu deinen Eltern. Daher wäre es doch sicher angebracht, dort mal aufzuräumen. All das was ich schreibe, sollen keine Vorwürfe an dich sein. Ich weiss das du es nicht anders konntest und ich weiss auch, dass du vermutlich sogar noch nicht einmal verstanden hast, was das mit dir und jetzt auch mit mir gemacht hat oder immer noch macht. Um dies vorweg zu nehmen. Ich vergebe dir. Ich bitte dich, dass du auch dir selbst vergibst.

Du hast von deinen Eltern viel Ablehnung erfahren. Deine Mutter war meistens mit sich selber beschäftigt und dein Vater sehr oft zornig und hat euch tagelang ignoriert und mit Schweigen gestraft. Deine Mutter war unglücklich und hat deshalb oft zu tief ins Glas geschaut. Früh schon hast du gelernt, dass du nur wertvoll oder gar liebenswert bist wenn du leistest. Dir wurde beigebracht, dass die Liebe für dich nicht bedingungslos ist und so bist du dann gross geworden und hast dein Leben lang nach der Liebe gesucht, die du dir selber nicht geben konntest. Wie hat sich das auf dich und auf dein Leben ausgewirkt? Nun, deine Liebesbeziehungen waren stets von einer Abhängigkeit geprägt die manchmal emotionaler und manchmal finanzieller Natur war. Oft hattest du grosse Verlustängste und du hast dich in Beziehungen immer sehr fest selber aufgegeben. Alles was du bist und was du willst hast du einfach mal in die Ecke gestellt. Und du wolltest gefallen. Du brauchtest viel Bestätigung und Liebe. Und sobald diese dann einmal nicht so kam wie du wolltest hat dich das richtig kaputt gemacht. Du hast gelitten. Und wie du gelitten hast. Um mit deinem Schmerz umzugehen, oder dir wenigstens ein paar Stunden leidensfreie Zeit zu geben hast du dich betäubt. Nur um dich am nächsten Tag noch schrecklicher und noch weniger liebenswert zu fühlen. 
Dann, was hat das alles mit dir gemacht und wie hast du das dann an mir oder an uns ausgelebt.
Auch du hast uns mit der Idee grossgezogen, dass die Liebe für uns keinesfalls bedingungslos ist. Auch bei uns war sie stets an irgendwas geknüpft. Gute Leistung, gute Laune. Alles schlechte, was halt auch passiert, wurde bestraft. Mit Liebesentzug und mit grosser Enttäuschung. Deine Erziehung war sehr ambivalent. An einem Tag war etwas super und am nächsten Tag war dasselbe schlecht. Ich erinnere mich an das Gefühl, jeden Tag ein bisschen in Angst vor dir zu leben. In der Angst ich könnte heute wieder etwas falsch machen. Heute weiss ich, dass es nicht um mich ging. Es ging um dich und deinen Schmerz den du irgendwo loswerden musstest. Du hast halt oft nur den Kanal der Wut zu benutzen gewusst, weil du die andern nie kennen gelernt hast und möglicherweise hattest du auch nie die Kraft diese zu lernen. Aber wer weiss? Wenn ich mich jetzt aufraffen kann diese Gefühle endlich aufzuarbeiten, vielleicht kannst du es ja auch.
Ich wiederhole mich, aber alles was ich jetzt aufschreibe, sind keine Angriffe auf dich. Dies dient meiner Aufarbeitung und hoffentlich im Endeffekt, der Findung meiner Selbstliebe.

Du hast mir schon als kleines Kind sehr oft das Gefühl gegeben nicht zu reichen. Ich war dir nicht gut genug. Ich war zu wenig schlau, zu wenig schön, zu wenig dünn, zu wenig ordentlich und alles andere was sonst halt so an einem nicht gut sein kann. Sehr oft hast du mir gesagt, dass aus mir nichts werde und ich sowieso nicht liebenswert bin. Und ich habe es dir sehr lange geglaubt. Im Kopf weiss ich es jetzt aber besser, doch ich arbeite immer noch daran, all dies auch meinem Herzen beizubringen. Ach Mam, je länger desto mehr erkenne ich mich in dir. Ich weiss woher deine Verletzungen kommen und ich weiss auch woher ich meine habe. So will ich aber nicht sein.
Ich werde mir von dir nie wieder sagen lassen, dass ich nicht genug bin. Ich bin sehr viel mehr als genug. Ich bin grossartig. Ich bin ein guter Mensch. Ich habe so viele Eigenschaften an mir, die liebenswert sind und ja, ich mache Fehler. Doch auch diese machen mich kein bisschen weniger liebenswert. Ich verspreche mir heute, dass ich mir von dir nie mehr meinen Wert absprechen lasse. Ich bin mir noch nicht sicher, welche Schritte dies erfordert, doch für den Moment denke ich, dass ich dich für eine Weile nicht mehr Teil meines Lebens sein lassen kann. Ich brauche Space von dir und ich wünsche mir, dass auch du endlich diesen Themen in deinem Leben nachgehen kannst. Ich denke nur so, werden wir eines Tages wieder zueinander finden und uns endlich diese Beziehung oder auch diese Liebe geben können, die wir beide verdienen.
Mam, ich liebe dich. Und es tut weh dich zu lieben. Ich will, dass die Liebe zu dir endlich eine andere Form annimmt und dafür musst du eine Weile aus meinem Leben verschwinden. Möglicherweise auch für immer. Weil wenn es dir nicht gelingt, endlich deine Themen in Angriff zu nehmen, wird jede Interaktion mit dir wieder wie ein Rückschlag für mich sein. Und das will ich nicht mehr. Ich bin endlich an einem Punkt, an dem ich bereit bin dich gehen zu lassen, und endlich zu dem Menschen werden, den ich sein will.

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Liebe @Meerwelt! Es ist gut,  dass du angekommen bist in dir. Trotz dieser Hürden, die das Leben dir zwischen die  Beine geworfen hat.  Es ist gut,  was und wie du deinen Weg erkennst,  der dich zu selber führt.  Es ist traurig,  dass es keinen anderen Weg gibt. Selbstliebe ist nicht leicht anzunehmen nach solchen Erfahrungen,  solcher Unterordnung im täglichen Ablauf. Und ich weiß, wovon ich spreche. Auszubrechen aus den Rhyten, vertrauten Mustern, bekannten Symptomen erfordert Kraft,  die ich dir aus ganzem Herzen ❤ wünsche.  Denn es geht jetzt um dich.  Ich schicke dir Stärke, Kraft,  Energie und viel  Liebe für dich selbst.  

Sonja 

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Hallo Meerwelt

 

Ich finde deinen Text sehr bewegend und traurig.

Du hast dich in die Mutter hineinversetzt, Mitgefühl und Verständnis für ihr Benehmen gezeigt. Am Ende aber, hast du dein Leben und um glücklich zu sein mußt du dich entfernen.....Ich verstehe das ganz.

 

Sehr deutlich, schön und klar hast du es auch verfasst, das klappt auch nicht in jeder aufgeschriebenen Geschichte.

Ich habe das Gefühl das es deine Geschichte ist und danke dass du sie mit uns geteilt hast...

Viele Menschen können ganz oder teilweise ihre Eltern darin erkennen.

 

Ich finde es wirklich wichtig dass man wahre Geschichten liest oder hört.

 

Liebe Grüße und ich freue mich deine weiteren Werke zu lesen.

 

Lena, Sonnenuntergang

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