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Ich muss vorwegschicken, dass ich schüchtern bin. Das hätte ich auch gerne der jungen Frau mitgeteilt, die mich seit geraumer Zeit von der Parkbank gegenüber anstarrte, während ich nach einem gelungenen Anfang für meine neue Geschichte suchte. Aber dafür bin ich zu schüchtern. Unbeirrt blickte ich auch dann in meinen Schreibblock, als sie aufstand und zu mir herüber kam. Sie setzte sich sehr viel dichter neben mich, als es notwendig gewesen wäre, aber ihre ganze Bewegung war ja ohnehin alles andere als notwendig. Weiterhin penetrierte sie mich mit ihrem Blick. Ich schaute ihr kurz, scharf an der braunen Haarsträhne vorbei, in ihre suchenden, grünen Augen und gab den Blick sogleich wieder auf, der an ihrer weißen Bluse und dem lavendelfarbenen Rock hinab erneut in meine Textfetzen glitt. Nun sprach sie mich an: "Jetzt weiß ich es. Ich habe die ganze Zeit überlegt, woher ich dich kenne. Du bist Schmuddi, nicht wahr? Ich habe all deine Texte gelesen." "Habe ich etwa einen Fan?", dachte ich und musste den Gedanken innerlich belächeln, obgleich: "Menschen, die Fans haben sind entweder wichtig oder interessant. Wichtig bin ich gewiss nicht, also muss ich wohl verdammt cool sein. Zerstöre diesen Eindruck nicht! Sag was Cooles!"

Also erwiderte ich mit vorgeblicher Routine: "Das hast du erkannt, obwohl ich gerade nicht am Pinkeln bin?" Sie lachte ausgelassen: "Von deinem Selbstportrait her habe ich dich erkannt." "Oh, ich hoffe, ich sehe in Wirklichkeit realistischer aus als auf meiner Zeichnung." "Ich fasse es nicht - du hast die Briefe an Babsi geschrieben!" "Ja, das tut mir leid." Im Ansatz ihres Lachens fängt sie sich sogleich und stellt richtig: "Nein, es ist nur eine unglaubliche Erfahrung für mich. Dein Buch ist das Beste, das ich je gelesen habe und, ohne schleimen zu wollen, ich kann mir nicht vorstellen, dass etwas Schöneres geschrieben werden kann. Überhaupt bewundere ich deine Geschichten und Gedichte. Ich habe sie alle gelesen." "Das ist sehr rührend, danke", bemerkte ich und das ist es ja auch tatsächlich - es ist ja kein unbedeutender Hergang, dass man mit seinen Worten einen solchen Abdruck in der Erinnerung eines anderen Menschen hinterlässt. Dennoch war mir die Situation einigermaßen unbehaglich, Komplimente einzustecken, ohne auch nur ein einziges austeilen zu können, ohne auch nur das Geringste über seinen Gegenüber zu wissen.

Interessant, welchen Unterschied Details in der Formulierung machen können: Hätte sie gefragt, ob ich schon etwas vorhabe, hätte ich dies sicherlich mit überflüssiger Entschuldigung bejaht. Da sie aber fragte, ob wir einen kleinen Spaziergang unternehmen wollen, konnte ich diese Ausrede nicht aussprechen, obwohl sie mir als erstes einfiel. Gerade aber als ich ihrem Vorschlag zustimmte, dachte ich: "Warum nicht? Warum nicht zur Abwechslung mal bewundert werden? Zur Abwechslung mal nicht derjenige sein, der wieder einmal vergessen hat, den Müll runterzubringen. Wenn ihr doch daran gelegen ist, haben wir schließlich beide etwas davon. Und was könnte schlimmstenfalls schon passieren?" Als wir uns von der Bank erhoben, legte sie ihren Arm um meinen und ich wusste nicht, wie ich mich dagegen wehren sollte. Ich wünschte, ich hätte gelernt, eine solche Situation mit einer Abwehrbewegung zu lösen, die elegant genug ist, dass wir beide unser Gesicht wahren können. Nur konnte ich beim besten Willen nicht wissen, dass dies jemals notwendig werden würde.

So schlenderten wir also Arm in Arm durch den Park und sie wollte wissen, ob mein Buch auf einer wahren Begebenheit beruhe. "Ähm... also, ich will nicht ausschließen, dass ich in meinem Leben schon mal verliebt war", druckste ich herum "und das ein oder andere Erlebnis ist wohl auch in die Geschichte eingeflossen - ja." "Sie muss eine ganz besondere Person sein, dass sie dich zu solch gefühlvollen Worten inspirierte." Ich ließ es so stehen, um das Thema zu wechseln: "Nun weißt du ja Einiges über mich, aber im Grunde weiß ich überhaupt nichts über dich." "Ach, da gibt es nicht viel Interessantes. Ich bin gebürtige Schwäbin und mit 16 Jahren nach Berlin getrampt und dann einfach hier geblieben." "Oh, das ist ganz schön mutig." "Ach, ich hatte eben immer diesen Drang, den du in deinem unvollendeten Sonett beschrieben hast: "Es zwang mich die Unrast hinaus in die weiten, die wallenden Felder, die stumm mich gemacht.""

Sollte ich geschmeichelt oder verängstigt sein, dass sie meine Gedichte besser kennt als ich? Meine Seele erstarrte zu einem Einkaufswagen, in den sie ihre Erfahrungen, Empfindungen und Probleme hineinlegte und den sie vor sich her schob. "Überhaupt kann ich mich ganz in deinen Worten wiedererkennen", fuhr sie fort: "Deine Sprache ist das Tor zu meiner Seele. Eigentlich sollte ich mich schämen, so direkt zu dir zu sein." Ein Hauch von Normalität schwebte zwischen ihren Worten und wurde doch sogleich verweht: "Aber mir ist es, als ob wir uns schon lange kennen und wie hast du einmal geschrieben: "Wenn sich ihre natürliche Zuneigung zu mir im natürlichen Ausdruck meines Seins spiegelt, dann, nur dann kann ich erlöst werden."

Ich hatte nicht bemerkt, wie sich der Himmel zuzog und wurde entsprechend von dem plötzlichen Platzregen überrascht. Sie eilte durch die Straßen und zog mich hinter ihr her, bis wir vor einer Tür unter einem Vordach zu stehen kamen. "Hier wohne ich", erklärte sie: "Komm doch mit rein! Du kannst so nicht weiter herumlaufen; sonst erkältest du dich noch." Auf dem Namensschild neben dem Hauseingang war "Natascha Riedel" zu lesen. "Gut, sie mag ein bisschen seltsam sein", dachte ich "aber jemand, der sich die Zeit nimmt, seinen Namen mit Blumen zu verzieren, kann so verkehrt nicht sein." Durch einen kleinen pragmatisch ausgestatteten Flur gelangten wir in ihr Wohnzimmer. Die drei quadratischen Kissen auf dem weißen Sofa hatten denselben Abstand zueinander und waren vermutlich in stundenlanger Arbeit aufgeschüttelt und geglättet worden. Alles in diesem Zimmer war in solcher Ordnung, dass alle Spuren des Lebens beseitigt wurden, fast als hätte hier noch nie jemand gelebt.

"Zieh dein Hemd aus!", befahl sie unvermittelt und ich zeigte mich verwundert: "Bitte?" "Dein Hemd! Es ist doch ganz nass. Ich werde bestimmt irgendwo noch ein Hemd meines Mannes finden, das dir passen wird. Keine Sorge, er ist tot." "Oh, das tut mir leid." "Nein, nein - er war ein Arschloch. Die Hose auch! ... Die Hose auch! Ich lasse dir ein Bad ein." "Ich weiß ja sehr zu schätzen, was du für mich tust, Natascha, aber..." "Ich bin nicht Natascha!", fuhr sie mich an und senkte sogleich ihre Stimme in eine sanfte Vertraulichkeit: "Ich bin's - deine Sanny! Ich weiß, du hast allen Grund, mich vergessen zu wollen. Aber erinnere dich an unsere wundervolle Zeit, als wir wie Kinder durch die Brombeerbüsche rannten und die Nacht auf dem Bergener Hang verbrachten! Ja, ich habe Fehler gemacht. Mein schlimmster Fehler war, dich gehen zu lassen. Doch ich werde dich nie wieder gehen lassen. Für immer werde ich bei dir bleiben."

Je rätselhafter sie mir wurde, umso klarer wusste ich, dass ich ihr lieber nicht widersprechen sollte. Also zog ich meine Hose aus und ließ mich von ihr zum Bad führen. Da saß ich also in der Wanne einer Frau, die sich für die literarische Figur hielt, die ich erschaffen hatte und wusste nicht, wie ich aus diesem Alptraum wieder hinaus finden sollte. Also beschloss ich, das Beste aus der Situation zu machen und mein heißes Bad zu genießen. Ich tauchte ein in eine Zeit, als der Drang zur Weite mein einziger Daseinszweck war. Ich war meine Uhr, mein Kompass und mein Anker. Als ich wieder auftauchte, stand sie vor mir - nackt und mit ehrlichem, entschlossenem Blick. Sie stieg zu mir in die Wanne, aus der ich wie aus Grabestiefe in ihre Augen blickte, die sich mir im Takt der Wellen näherten und entfernten, während sie mein Gedicht in einer Symbiose aus Schwärmerei und Drohung sang:

"Du Brunnen meiner tausend Sinne,
du Anregung in allen Dingen!
Ganz tief will ich in dir versinken
und in dem Rhythmus leichter Minne
schwere Atemnot bezwingen
und endlich ganz in dir ertrinken."

Es muss wohl einige Zeit vergangen sein, als ich mich auf ihrem Bett wiederfand. Ihr Kopf lag auf meiner Brust und ihre Augen blickten schlagartig zu mir: "Es ist wieder so schön wie früher, nicht wahr? Fast als wäre gar keine Zeit vergangen. Schreib mir doch bitte wieder so schöne Gedichte wie früher!" "Ich fürchte, das kann ich nicht." "Wieso nicht?" "Weil... weil ich nicht auf Verlangen Gedichte schreiben kann für eine Frau, die ich gar nicht kenne." "Du kennst mich doch. Ich bin doch deine Sanny." "Also habe ich dich erfunden. Du bist ein Hirngespinst, eine Männerfantasie!" Da rollte sie sich zu einem Häufchen Elend zusammen und schluchzte: "Warum sagst du so schreckliche Dinge?" Ich richtete mich reflexhaft auf und streichelte ihre Schulter: "Hey, war nicht so gemeint." Und während ich meine Vergewaltigerin tröstete, fragte diese: "Liebst du mich denn überhaupt noch?" "Lieben?! Ich kenne dich doch gar nicht. Und deshalb muss ich jetzt auch gehen."

Ich zog, auf der Bettkannte sitzend, meine Sachen wieder an, während sie in ein anderes Zimmer ging und etwas herumkramte und als ich im Begriff war, aufzustehen, stellte sie sich mir mit einem Fleischermesser in den Weg: "Ich habe doch gesagt, ich lasse dich nicht wieder gehen." Ich konnte unmöglich den Mut haben, dies zu sagen und doch hörte ich die folgenden Worte aus meinem Mund: "Sei doch vernünftig! Welchen Zweck soll das denn haben? Beruhige dich erst einmal!" "Mäßigung - ist das nicht eine Lüge vor dem eigenen Herzen? Ein Betrug, den der Verstand wider die eigene Seele führt? Du wirst jetzt einen Text über mich schreiben und danach das Fläschchen austrinken." Sie wies auf ein kleines braunes Glasfläschchen auf dem Hängebrett über ihrem Bett. "Was ist das?", fragte ich besorgt. "Das wird dich von deinen Zweifeln befreien." Und wie ich am Ende meines Textes ankomme, nehme ich die Flasche in die Hand und hebe an zu trinken.

 

 

(Aus dem Fundus)

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Hey Schmuddi!! 
mit Spannung gelesen, immer in der Erwartung dessen, was als Nächstes passieren könnte. Am Anfang als das LD sich nur zu dem LI setzt, denke ich noch „oh nein wie nervig, wieder so ein aufdringlicher Mensch“ dann dachte ich kurz es könne eine positive entwicklung geben, die dem LI sogar gefallen könnte und vielleicht ein wenig das Ego streicheln könnte. Ab dem Moment in dem das LD dann den Arm einhakt hat es in mir irgendwie nein geschrien. Schwer zu sagen wie du das über deinen Schreibstil geschafft hast aber ab da schwingt für mich eine leise Bedrohung mit. Vermutlich, weil das LI es nicht wagt nein zu sagen aus reiner Höflichkeit. 

vor einer Stunde schrieb Schmuddelkind:

Sollte ich geschmeichelt oder verängstigt sein, dass sie meine Gedichte besser kennt als ich? Meine Seele erstarrte zu einem Einkaufswagen, in den sie ihre Erfahrungen, Empfindungen und Probleme hineinlegte und den sie vor sich her schob

Dieses Bild finde ich wirklich toll, es ist eine Art emotionaler Übergriff vom LD, den das LD vielleicht noch gar nicht bemerkt hat. 
 

 

vor einer Stunde schrieb Schmuddelkind:

"Ich bin nicht Natascha!", fuhr sie mich an und senkte sogleich ihre Stimme in eine sanfte Vertraulichkeit: "Ich bin's - deine Sanny!

Spätestens hier ist die Gefahr nun deutlich. Selbst wenn man deine Briefe nicht gelesen hat weiß man doch, dass Natascha scheinbar nicht ganz bei verstand ist, was sie noch viel bedrohlicher macht. Man will das LI anschreien doch bitte jetzt endlich wegzurennen, aber wie betäubt zieht er sich aus und gehorcht vor Angst. 
 

 

vor einer Stunde schrieb Schmuddelkind:

Sie stieg zu mir in die Wanne, aus der ich wie aus Grabestiefe in ihre Augen blickte, die sich mir im Takt der Wellen näherten und entfernten, während sie mein Gedicht in einer Symbiose aus Schwärmerei und Drohung sang:

"Du Brunnen meiner tausend Sinne,
du Anregung in allen Dingen!
Ganz tief will ich in dir versinken
und in dem Rhythmus leichter Minne
schwere Atemnot bezwingen
und endlich ganz in dir ertrinken."

Auch hier beschreibst du die innere Welt des LI wieder wirklich bildhaft. Die Bilder die du wählst sind düster, und das Gedicht ändert mit dem versinken und ertrinken in der Badewanne. Vielleicht spiegelt sich hier ein sehr kindliches Gefühl wieder das Gefühl der Geborgenheit im flüssigem Medium ähnlich der Atmosphäre der fruchtblase. Die Flucht aus der Situation, und wenn’s den tot kostet, wenn auch nur den inneren des LI.

Ich denke damit beschreibst du gut  diese leere diesen Nebel die schockstarre, die viele Menschen in traumatischen Situationen empfinden. 
bis hier hin frage ich mich aber: hat das LI sich abwehrend gezeigt? Wenn ja, hat es vielleicht nicht gereicht ihren Wahnsinn zu durchdringen? Da soll kein Vorwurf mitschwingen. Ich denke nur darüber nach, ob es für das LD konkludent war, dass das LI nicht will. Und dann wären wir wieder bei „Ja heißt ja wäre gut“.

„Nein heißt nein reicht nicht“.

vor einer Stunde schrieb Schmuddelkind:

Da rollte sie sich zu einem Häufchen Elend zusammen und schluchzte: "Warum sagst du so schreckliche Dinge?" Ich richtete mich reflexhaft auf und streichelte ihre Schulter: "Hey, war nicht so gemeint." Und während ich meine Vergewaltigerin tröstete,

Diese Szene ist an absurdität kaum zu übertreffen. Noch kurz vorher hat das LD dem LI wirklich weh getan auf einer ebenen die schwer zu erfassen ist, und dennoch ist das LI hier bereit das LD zu trösten, weil das LI nicht über seine erlernten Verhaltensmuster wegkomme. „Man tut einem anderen Menschen nicht weh“, „man lehnt andere Menschen nicht ab“ „man sagt nicht „ich liebe dich nicht““ zu einer Frau die so wahnsinnig verliebt zu sein scheint. Man muss zärtlich zu anderen sein, auch wenn sie jede Grenze überschreiten, ich darf das nicht tun. 
 

 

vor einer Stunde schrieb Schmuddelkind:

Und wie ich am Ende meines Textes ankomme, nehme ich die Flasche in die Hand und hebe an zu trinken.

Und obwohl das LI nicht zu wollen scheint trinkt er wie ihm geheißen. Kaum verständlich für den Leser, denn die Szene erinnert an Romeo und Julia und die Flasche scheint ein Gift zu beinhalten, das am Ende mindestens das LI vielleicht auch das LD tötet. 
interessant an dieser Stelle ist aber, dass das LI sich verschiebt es gibt jetzt das LI in der Geschichte, und das LI das die Geschichte schreibt. Es scheint nun mehr wie ein Rückblick, und das LI hebt vielleicht gerade eine ganz andere Flasche zum Mund, zum Beispiel etwas alkoholisches und die eben beschriebene Geschichte zu verdauen. Das Ende lässt vermuten, dass das LI überlebt haben Mag, aber vielleicht setzt das LI sich nun im Nachhinein doch noch ein Ende. 
ich hätte gerne gewusst wie das LI die Situation verlassen konnte, aber das in sofern offene Ende gibt Anlass zum philosophieren. 
 

Besonders wichtig finde ich noch eine Message die du in deiner Geschichte rüber bringst. Das LI ist nicht der Autor! Es ist wichtig zwischen beiden zu differenzieren. Das LD scheint hier extrem viel von sich selber auf einen ihr gänzlich fremden zu projizieren. Als suche sie nach etwas, dass sie bei Dem LI aber vermutlich vergeblich Sucht. 
 

Entschuldige dass es so lang geworden ist. Und liebe Grüße 

DD

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Vielen Dank für deinen ausführlichen und tiefsinnigen Kommentar, liebe DD!:smile:

 

Ich habe mich sehr darüber gefreut, wie detailliert du den Text auseinander genommen hast.

 

vor 22 Stunden schrieb Devils.darling.:

Am Anfang als das LD sich nur zu dem LI setzt, denke ich noch „oh nein wie nervig, wieder so ein aufdringlicher Mensch“ dann dachte ich kurz es könne eine positive entwicklung geben, die dem LI sogar gefallen könnte und vielleicht ein wenig das Ego streicheln könnte. Ab dem Moment in dem das LD dann den Arm einhakt hat es in mir irgendwie nein geschrien. Schwer zu sagen wie du das über deinen Schreibstil geschafft hast aber ab da schwingt für mich eine leise Bedrohung mit. Vermutlich, weil das LI es nicht wagt nein zu sagen aus reiner Höflichkeit. 

Ich weiß auch nicht, wie ich das durch meinen Schreibstil hingekriegt habe, aber ich bin natürlich froh, dass diese latente Bedrohlichkeit rübergekommen ist. Dankbar bin ich auch, dass dir das sich rasch wandelnde Bild der Frau aufgefallen ist, die zu Beginn aufdringlich erscheint, dann in ein positiveres Licht gesetzt wird und schließlich eine Spirale zunehmender Bedrohlichkeit begeht. Die Bilder, die wir von anderen haben, gerade, wenn man sie nich nicht kennt, sind fluid, ständig im Wandel begriffen und einen Abgrund erkennt man meist erst, wenn es zu spät ist.

 

Danke auch für den Hinweis auf die Höflichkeitsnorm, die einem das "Nein" erschwert. Das Thema hatten wir ja schon mal bei einem deiner Texte und man sieht an der Tatsache, dass es hier wieder auftaucht, dass dies oft eine Rolle spielt bei sexueller Gewalt. Insofern ist sexuelle Gewalt nicht nur ein individualpsychologisches Problem, sondern wird sozial begünstigt.

 

vor 22 Stunden schrieb Devils.darling.:

Dieses Bild finde ich wirklich toll, es ist eine Art emotionaler Übergriff vom LD, den das LD vielleicht noch gar nicht bemerkt hat. 

Genau aus dem Grund fand ich das Bild auch interessant, als es mir in den Sinn kam. War mir allerdings unsicher, ob es nicht auch ein bisschen albern wirkt.

 

vor 22 Stunden schrieb Devils.darling.:

Selbst wenn man deine Briefe nicht gelesen hat

...Was man definitiv tun sollte.:wink:

 

vor 22 Stunden schrieb Devils.darling.:

weiß man doch, dass Natascha scheinbar nicht ganz bei verstand ist, was sie noch viel bedrohlicher macht. Man will das LI anschreien doch bitte jetzt endlich wegzurennen, aber wie betäubt zieht er sich aus und gehorcht vor Angst.

Was Natascha angeht: Ich denke, ihr Leben ist irgendwie nicht ganz vollständig. Ihr fehlt etwas in ihrer Persönlichkeit, das sie in literarischen Werken findet und dann auf die Autoren dieser Werke projiziert, sodass sie glaubt, sie brauche diesen Menschen, müsse sich ihn aneignen, um vollständig zu sein. Ironischerweise ist das ja genau das Thema der besagten Briefe.

 

Was den Ich-Erzähler angeht: Es ist zunächst schwer nachzuvollziehen, dass er angesichts der eskalierenden Lage nicht die Reißleine zieht. Angst kann dies vielleicht z.T. erklären, wie du schriebst. Vielleicht auch eine gewisse Überforderung mit der Ausnahmesituation. Es gibt keine klaren Handlungsanweisungen für so eine Situation, weil man diese nicht täglich erlebt und darüber auch nicht gesprochen wird. Da spielt dann auch das Unwohlsein eine Rolle, einem anderen Menschen vor den Kopf zu stoßen. Und bei der eingangs erwähnten Schüchternheit des Mannes führt das vielleicht einfach zu einer enorm passiven Rolle.

 

Jedenfalls erzeugt die ganze Situation natürlich eine große Spannung im Leser, der doch die Lösung so klar vor Augen sieht, die der Ich-Erzähler aber nicht ergreift. Freut mich sehr, dass diese Spannung dich erreicht hast und dass du sie angesprochen hast.:smile:

 

vor 22 Stunden schrieb Devils.darling.:

Auch hier beschreibst du die innere Welt des LI wieder wirklich bildhaft. Die Bilder die du wählst sind düster, und das Gedicht ändert mit dem versinken und ertrinken in der Badewanne. Vielleicht spiegelt sich hier ein sehr kindliches Gefühl wieder das Gefühl der Geborgenheit im flüssigem Medium ähnlich der Atmosphäre der fruchtblase.

Coole Deutung! Die Sache mit der Fruchtblase gefällt mir. Manchmal benutze ich auch den Wunsch, ein Fötus sein zu wollen als eine Metapher für die Angst und Überforderung angesichts einer kühlen, komplexen Welt. Das Gedicht ist übrigens ebenfalls aus "Querfeldein". Der Protagonist hat es geschrieben, um den Geschlechtsakt mit Sanny poetisch zu umschreiben.

 

vor 22 Stunden schrieb Devils.darling.:

bis hier hin frage ich mich aber: hat das LI sich abwehrend gezeigt? Wenn ja, hat es vielleicht nicht gereicht ihren Wahnsinn zu durchdringen? Da soll kein Vorwurf mitschwingen. Ich denke nur darüber nach, ob es für das LD konkludent war, dass das LI nicht will. Und dann wären wir wieder bei „Ja heißt ja wäre gut“.

„Nein heißt nein reicht nicht“.

Oh, das sind schwierige Fragen. Ich denke schon, dass der IE sich vorsichtig abwehrend gebärdet hat - z.B. durch seine Nachfragen: "Bitte?" Oder auch angedeutet durch die drei Punkte zwischen dem ersten und zweiten "Die Hose auch!". Die drei Punkte verdeutlichen, dass er zögert und man mag sich vorstellen, dass er sie dabei entgeistert anschaut. Ach das "aber" im Satz "Ich weiß ja sehr zu schätzen, was du für mich tust, Natascha, aber..." Letztendlich ist sie in diesen drei Situationen aber viel zu entschlossen, als dass er sich den Raum erstreiten könnte, den er braucht, um überhaupt Luft zu finden, evtl. ein klares "Nein" zu äußern.

 

Das macht die Debatte natürlich schwierig. Klar ist natürlich: Nein heißt nein. Aber was ist, wenn das Opfer nicht "nein" sagt, sondern "aber" oder "bitte"? Wenn ihm das "Nein" aufgrund der diskutierten Höflichkeitsfalle nicht über die Lippen kommen will und es nach verbalen und mimischen Alternativen sucht? Ich denke, solange es auch nur den geringsten Zweifel an der Einvernehmlichkeit gibt, ist es nicht einvernehmlich. So sollte man es wohl betrachten und man sollte solche subtileren Signale unterhalb der Schwelle von "Nein" auch stärker achten.

 

Andererseits kann dies natürlich auch Türen öffnen für Missverständnisse, wo es eigentlich keine Missverständnisse geben sollte. Ist ein schwieriges Thema und genau über diesen Graubereich könnte man wohl sehr lange diskutieren. Zumindest diese Diskussion anzustoßen - dafür können solche Texte vielleicht hilfreich sein, selbst wenn sie keine eindeutigen Antworten liefern.

 

vor 22 Stunden schrieb Devils.darling.:

Diese Szene ist an absurdität kaum zu übertreffen. Noch kurz vorher hat das LD dem LI wirklich weh getan auf einer ebenen die schwer zu erfassen ist, und dennoch ist das LI hier bereit das LD zu trösten, weil das LI nicht über seine erlernten Verhaltensmuster wegkomme. „Man tut einem anderen Menschen nicht weh“, „man lehnt andere Menschen nicht ab“ „man sagt nicht „ich liebe dich nicht““ zu einer Frau die so wahnsinnig verliebt zu sein scheint. Man muss zärtlich zu anderen sein, auch wenn sie jede Grenze überschreiten, ich darf das nicht tun. 

Wow! Das hast du wirklich klasse unter die Lupe genommen.:smile:

Daran sieht man die Absurdität, die natürlich schon in den sozialen Normen enthalten ist. Dass man Kinder dazu erzieht, "brav" zu sein, anderen nicht zu widersprechen, hat natürlich solche Szenen nicht zum Zweck, sehr wohl aber als Konsequenz. Und das ist natürlich zum Haare raufen, zu sehen, wie das Opfer den Täter tröstet. Die Motive für diesen Trost hast du toll analysiert. Ja, "ich liebe dich nicht" zu sagen, fällt vielen Menschen echt schwer. Es ist ein Satz, der sehr verletzend sein kann. Aber es gibt Situationen, in denen er ausgesprochen werden muss.

 

vor 22 Stunden schrieb Devils.darling.:

Und obwohl das LI nicht zu wollen scheint trinkt er wie ihm geheißen. Kaum verständlich für den Leser, denn die Szene erinnert an Romeo und Julia und die Flasche scheint ein Gift zu beinhalten, das am Ende mindestens das LI vielleicht auch das LD tötet.

Was in der Flasche ist, ist ein interessantes Geheimnis. Ich denke, angesichts der Bemerkung Nataschas, der Inhalt der Flasche würde ihn von seinen Zweifeln befreien, sind zwei Theorien plausibel:

1. Ein Gift, das ihn tötet, wie du schriebst. Ich bin nicht, also denke ich nicht, also zweifle ich nicht.

2. Ein Medikament, das ihn mehr oder weniger willenlos macht, das ihn seines kritischen Denkvermögens beraubt.

 

Die zweite Deutung gefällt mir persönlich besser, weil sie metaphorisch ganz gut verdeutlicht, in welchem Zustand er sich zuvor ohnehin befand. Dass er tut, was sie von ihm verlangt, ist zum Einen dadurch zu erklären, dass sie ihn mit einem Messer bedroht, zum anderen dadurch, dass die Wirkung des "Gifts" nicht ganz klar ist. So ist es eine Wahl zwischen dem sicheren Tod durch das Messer und dem nur eventuellen Tod durch das Gift. Falls das Gift ihn aber nicht tötet, so nimmt es ihm zumindest seine Zweifel. Insofern kann man daran erkennen, dass er ein Leben ohne Zweifel dem Tod vorzieht. Und das ist natürlich auch an den Leser eine interessante Frage: Ist ein Leben ohne kritischem Denkvermögen besser als der Tod? Sind wir nicht so etwas ähnliches wie "tot", wenn wir nicht unserem eigenen Willen folgen?

 

vor 22 Stunden schrieb Devils.darling.:

interessant an dieser Stelle ist aber, dass das LI sich verschiebt es gibt jetzt das LI in der Geschichte, und das LI das die Geschichte schreibt.

Ja, das fand ich ein interessantes Spiegelkabinett, das verrückt genug war, es schriftstellerisch konstruieren zu wollen. Zudem gibt es ja noch außerhalb der Geschichte den Autor, der lustigerweise denselben Namen hat wie der Erzähler in der Geschichte bzw. der Protagonist und zu dem es interessante biographische Ähnlichkeiten gibt, z.B. eben dass er der Autor von "Querfeldein", also der besagten Babsi-Briefe ist. Da mag es manchem Leser schwerfallen, die fiktiven und realen Personen auseinander zu halten.

 

Ich schätze, meine Aussage hinter dieser seltsamen Konstruktion war: Erkenne dich selbst! Sonst verlierst du dich in der Psyche anderer. Suche nicht nach dir in der Literatur (oder generell der Kunst) oder in den vermeintlich erstrebenswerten Eigenschaften anderer. Suche nach dir in dir! Außerdem steckt dahinter natürlich auch die Aussage, wie du schon erwähnt hast, dass eine Trennung zwischen Autor und Protagonist (bzw. LI) sehr wichtig ist und zwar auch (und insbesondere) dann, wenn der Text augenscheinlich die deutlichsten biographischen Referenzen aufweist.

 

vor 22 Stunden schrieb Devils.darling.:

Es scheint nun mehr wie ein Rückblick, und das LI hebt vielleicht gerade eine ganz andere Flasche zum Mund, zum Beispiel etwas alkoholisches und die eben beschriebene Geschichte zu verdauen. Das Ende lässt vermuten, dass das LI überlebt haben Mag, aber vielleicht setzt das LI sich nun im Nachhinein doch noch ein Ende. 

Kann man definitiv so deuten. Gefällt mir.:smile:

Meine persönliche Deutung: Er schreibt, wie von Natascha befohlen, eine Geschichte über sie - es ist die Geschichte, die wir gelesen haben; er schreibt also tatsächlich die erlebte Wahrheit auf. Am Ende, als die Handlung der Geschichte und seine tatsächliche Handlung zusammenfallen, trinkt er aus der Flasche, wie sie ihm gesagt hat. Und dass danach nichts mehr kommt, verdeutlicht den Zustand der Leere, wie der Protagonist sie wahlweise im Tod oder diesem seltsam willenlosen Leben erfährt.

 

vor 22 Stunden schrieb Devils.darling.:

Entschuldige dass es so lang geworden ist. Und liebe Grüße 

Entschuldigung angenommen.:wink:

:rofl2:Du bist ja lustig!:rofl2:

Natürlich habe ich mich gefreut, dass du dir so viel Zeit genommen hast, um meinen Text so genau zu besprechen und ihn dadurch derart zu würdigen.:blume:

 

LG

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