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Unsere Dunkelheit


Noel Aysis

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Ich wusste nicht mehr, dass wir die Realität längst verlassen hatten. Deshalb setzte ich so unglaublich langsam einen Fuß vor den anderen. Ich weiß, dass ich eigentlich hätte deine unechten Tränen trocknen sollen. Aber für’ s erste musste ich einmal selbst versuchen mich in dem endlosen Dunkeln zurecht zu finden. Wir hätten wohl nicht gesehen, wenn da ein sehr tiefes Loch vor uns gewesen wäre. Da war ja kein Licht. Aber wir sind wohl meistens irgendwie drumherum gelaufen, ohne zu fallen. Es war selten, dass wir im Dunkeln doch einmal stolperten. Aber ich bin froh, dass nicht jeder für sich alleine hinfiel. Wenn man sich aneinander festhalten kann, dann trifft man weniger hart am Boden auf. Unendlich vorsichtig tastete ich mich vorwärts. Es war doch so leicht, den Halt zu verlieren, in einer so irren, kranken Gegend, in der wie umherirrten, weil wir glaubten dort unser Glück zu finden. Ich weiß, ich hätte weitergehen müssen, als du voranliefst und ich spürte, dass du schon sehr weit entfernt warst. Obwohl ich doch in der Dunkelheit nicht genau hätte sagen können, wo du gerade warst. Damals hatten wir uns oft verloren. Aber auf unerklärliche Weise sind wir doch jedes Mal wieder aufeinandergetroffen. Ich hätte darauf warten können. Aber dieses Mal blieb ich einfach stehen, aus Angst, aus Müdigkeit, ich weiß es nicht mehr. Aber die Vorstellung auch nur noch einen Schritt weiterzugehen erschien mir so unbeschreiblich dumm und so traurig. Und ich hatte Schmerzen, vom vielen Laufen. Und mein Kopf tat weh, weil die Dunkelheit wie Nadeln war. Und so blieb ich stehen, weil ich schwach war. Ich weiß, ich hätte mit dir gehen sollen. Ich habe aber die Verantwortung vergessen, die ich hier für dich hatte und lies dich allein weitergehen. So blieb ich also stehen und merkte das erste Mal, seit einer Ewigkeit, dass wir die Realität verlassen hatten, schon vor so langer Zeit. Solange wir liefen hatte ich es nicht gespürt. Wärst du damals mit mir stehen geblieben und hätte ich deine Hand nicht losgelassen, als du weitergehen wolltest, dann wärst du auch aufgewacht und genau wie ich vom Sonnenlicht so schmerzhaft geblendet worden, bis du dich daran gewöhnt hättest und dich wieder darüber hättest freuen können. Manchmal, wenn ich jetzt träume, frage ich mich, ob du dich alleine zurecht finden kannst, in dieser unglaublich schönen und traurigen Dunkelheit, in der man Licht und Schmerz vergessen kann. Manchmal glaube ich, dich rufen zu hören und dann tut es mir im Herzen weh, ich werde traurig und sehne mich in die Dunkelheit zurück, in der wir umherirrten und die nur uns gehörte. „Verzeih mir!“, will ich schreien. Dabei weiß ich doch so genau, dass du mich nicht mehr hören kannst. Und deshalbwünsche ich mir so oft, dass du stehen leibst und aufwachst.

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