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Landauf landab redeten die Leute über die Grosse Stadt. Viele arbeiteten ihr ganzes Leben lang und sparten alles Geld, das sie verdienten, um sie nur einmal aus der Nähe sehen zu können. Jeder wusste, dass die Grosse Stadt niemals schlief. Selbst nach der Abenddämmerung war sie so hell erleuchtet, als würde die Sonne über den hohen Häusern und Türmen ewig scheinen. 

 

Nahezu jeden Tag trafen Neuigkeiten aus der Grossen Stadt ein. Die Menschen sprachen darüber, welche Mode die Städter gerade trugen, welchen Wein sie tranken und wie sie ihre Häuser ausstaffierten. Worüber die Menschen hingegen nicht sprachen – und wenn doch, dann nur hinter vorgehaltener Hand – war die Königin der Nacht. 

 

Die Königin der Nacht herrschte im Geheimen über die Grosse Stadt. In den Gasthäusern und Kneipen wurde gemunkelt, dass sie eine Armee aus Schatten befehligte. Tagsüber sahen sie wie Menschen aus. Ihre Haut war von einer vornehmen Leichenblässe, wie sie nur die gutbetuchten Städter auszeichnete. Schwarze Stoffe verhüllten ihre Körper. Unheimlich schienen sie, bewegten sie sich doch so leise und bedacht, dass sie manchmal mit den übrigen Schatten der Stadt zu verschmelzen schienen. Niemand wusste so recht, ob sie vielleicht gefährlich waren. Viele dachten, sie spionierten womöglich für die Königin der Nacht und trugen ihr alles zu, was während ihrer Abwesenheit vor sich ging. 

 

Denn die Königin der Nacht, so hiess es, zeige sich nur drei Mal im Jahr: Einmal im späten Frühling, wenn die Schachblumen blüten; im Sommer, im Zeichen des honigfarbenen Mondes und zur Herbstmitte, kurz bevor die Grenze zwischen dem Reich der Lebenden und der Toten offen stand.

 

Zu den genannten Zeiten fand in der Grossen Stadt ein geheimer Maskenball statt. Nur diejenigen, die eine Einladung von der Königin persönlich ausgestellt bekamen, durften daran teilnehmen. Manche munkelten, dass auch sie in diesen Nächten zu Schatten wurden. Sie tanzten die ganze Nacht hindurch, tranken blutroten Wein und liessen sich vom gereichten Zuckergebäck verführen. So wurden sie schliesslich eins mit der Finsternis und wandelten bereits am nächsten Morgen als neue Schatten umher. Freilich konnte dies niemand belegen. Denn niemand, der auf die Feierlichkeiten zu Ehren der Königin eingeladen war, erzählte je davon. Es gab natürlich einige, die sich jedes Mal brüsteten, wieder eine Einladung erhalten zu haben. Doch wenn dies stimmte, so nahmen sie am Ende doch nicht am Maskenball teil - aus Angst, selbst zu Schatten zu werden - oder sie hatten ganz einfach gelogen. 

 

Weit entfernt von der Grossen Stadt lebte einst ein Kaufmannssohn. Er wohnte gemeinsam mit seiner Mutter in einer Siedlung, in der jedem Haus eine Tür von ganz bestimmter Farbe zugewiesen war. Dies half den Bewohnern, die Häuser, die sonst alle gleich aussahen, besser auseinanderzuhalten. Denn die Familie hinter der orangefarbenen Tür wollte sich nicht das Haus des Mannes mit der himmelblauen Tür verirren und schon gar nicht in das der alten Vettel hinter der scharlachroten Tür. Wo doch jeder mit seinem eigenen Leben schon genug zu schaffen hatte. 

 

Die Tür zum Haus des Jünglings und seiner Mutter war rosafarben. Allerdings benutzte der junge Mann sie nicht sehr häufig, denn er verliess das Haus, wann immer er konnte. Seine Mutter litt, seit der Vater fortgegangen war, unter einer schlimmen Schwermut. Wohl deshalb war sie dem billigen Wein aus der Gegend so zugetan und auch deshalb hatte sie sich mit ihrem Sohn so schlimm zerstritten, dass es für beide besser war, wenn sie sich aus dem Weg gingen. 

 

Der Junge träumte wie die meisten anderen in seinem Alter - er hatte zu diesem Zeitpunkt 17 Winter gesehen - von der Grossen Stadt. Doch er wusste, mit seinem mageren Lehrlingslohn, den er in der Schreibstube im Ort verdiente, würde er niemals auch nur in ihre Nähe gelangen können. So begnügte er sich damit, Tag für Tag die Schriftstücke fremder Leute zu kopieren und zu lesen, während in seinem Leben sonst nichts von grösserem Belang geschah. 

 

Der Herbst kam und mit ihm ein Tag, an dem der junge Mann wie so oft versonnen aus dem Fenster des Skriptoriums blickte, in dem er arbeitete. Er sah zu, wie der Wind das Laub von den Blättern wehte: Zitronengelb, orange-rot, kupferfarben… Der Anblick stimmte ihn über die Massen melancholisch. Seine Gedanken glitten zu dem Messer hinüber, mit dem er in der Küche seines Meisters Kuchen auf Teller verteilt hatte. Er dachte darüber nach, ob dieses Küchenmesser wohl scharf genug war, um… 

 

Doch in diesem Moment segelte etwas, das kein Laubblatt war, durch das offene Fenster in die Schreibstube. Wie für ihn adressiert, landete das Etwas auf dem Pult des Jungen. Verblüfft stellte er fest, dass es sich tatsächlich um einen Brief handelte, der mit einem tintenschwarzen Siegel versehen war. Noch überraschter war er allerdings, als er seinen Namen auf dem Umschlag wiederfand. Vorsichtig, so wie es seine Art war, öffnete der Jüngling das Schreiben. Er entfaltete das Papier - es war eine hochwertige Art von Pergament, wie er sogleich erkannte - und begann zu lesen. Dabei wanderten seine Augen langsam von links nach rechts.

Als er geendet hatte, liess der Junge das Schreiben sinken. Niemand anderes als die Königin der Nacht hatte ihm eine Einladung zukommen lassen. Eine Einladung zum geheimen Maskenball. 

 

Mit klopfendem Herzen spähte er aus dem Fenster. Hatte womöglich ein Schatten, ein Diener der Königin, den Brief überbracht? Lauerten sie in diesem Augenblick dort draussen? Versteckten sie sich in den Nischen der Häuser und zu den Füssen der Bäume? Doch andererseits, was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Er war auserwählt worden! 

 

Nicht nur das: Der Brief verriet ihm auch den Treffpunkt - den Ort, an dem die anderen Teilnehmer sich versammeln würden, um gemeinsam die Feierlichkeiten aufzusuchen. Obendrein enthielt das Schreiben einen Namen, den sogenannten “anderen Namen”. Ein Alias, das er verwenden müsse, um zum Ball zugelassen zu werden, wie im Brief beschrieben wurde. Des Weiteren wurde er angewiesen, ausschliesslich schwarz zu tragen. Das war nicht weiter verwunderlich. Die Schatten waren, das wusste jeder, stets in schwarze Gewänder gehüllt. Aber war an den Gerüchten, die überall herumerzählt wurden, etwas dran? Würde er nun auch zu einem Schatten werden, wenn er den Ball besuchte? Gleichzeitig dachte er nicht einen Moment lang darüber nach, die Einladung der Königin auszuschlagen. Dies war die Gelegenheit, nach der er gesucht hatte. Die Chance, seinem tristen Leben und der Enge hinter der rosafarbenen Tür endlich zu entfliehen. 

 

***

 

Am in dem Brief beschriebenen Tag holte der Junge seinen besten schwarzen Gehrock hervor. Er zog die abgetragenen Stiefel an - zu seinem Bedauern besass er zu diesem Zeitpunkt nichts Besseres - und band sich das Haar zurück, das für gewöhnlich bis über seine Schultern wallte. Er las noch einmal den Brief. In diesem wurde ihm versichert, dass eine Kutsche ihn wohlbehalten bis in die Grosse Stadt bringen werde. 

 

Als die Abenddämmerung sich näherte, verliess der Junge das Haus und schlug die rosafarbene Tür hinter sich zu. Seine Mutter war nicht zuhause. Zum Glück, denn so musste er ihr keine Rechenschaft darüber ablegen, wo er um diese Zeit und in seinem Aufzug noch hinzugehen gedachte. 

 

Der junge Mann versicherte sich, dass er abgeschlossen hatte. Als er sich umwandte, staunte er nicht schlecht. Vor ihm stand eine Kutsche aus schwarz lackiertem Holz, vor die zwei prächtige Rappen gespannt waren. Jedes der Pferde erschien gewaltig, muskulös und wie dafür gemacht, um viele Stunden ohne Unterlass zu traben. Ihr Fell war geradezu unnatürlich schwarz, dunkler als die dunkelste, sternenlose Nacht. 

Die Pferde der Königin, dachte der Jüngling ehrfürchtig. 

 

Der Mann, der auf dem Kutschbock sass - eine vermummte Gestalt, die wie ein Haufen dunkler Lumpen anmutete, gekrönt von einem Zylinder - sagte nichts. Er deutete nur mit ausgestrecktem Daumen auf die Kutsche hinter sich, was wohl so viel heissen sollte wie: Steig ein! 

 

Der Junge tat, wie ihm geheissen und öffnete die mit Ornamenten verzierte Tür. Kaum hatte er sich auf der Polsterbank im Inneren des Kutschenwagens niedergelassen, schon setzte sich die Kutsche in Bewegung. Die Fenster waren mit Tüchern verhangen, sodass der junge Mann nicht nach draussen blicken konnte. Sie liessen gerade so das Licht eines schwindenden Tages herein und wie die Stunden vergingen, so wurde der Junge schläfrig. 

 

Er musste wohl eingedöst sein, denn eine unbestimmte Weile später hielt die Kutsche mit einem sanften Ruck. Der Junge blinzelte. Ihm war die Reise zur Grossen Stadt nur wie ein paar Minuten vorgekommen. Doch genauso gut hätten Tage oder Jahre vergangen sein können. 

 

Ein wenig ängstlich und mit weichen Knien stieg er aus. Noch ehe er etwas sagen oder um sich umdrehen konnte, fiel die Tür hinter ihm zurück ins Schloss. Die Pferde verfielen wieder in ihren gleichmässigen Trab und der Kutscher verschwand mitsamt seines Höllengefährts inmitten der Stadt. 

 

Der Grossen Stadt, wurde dem Jungen in diesem Moment schlagartig klar, während er noch in die Richtung starrte, in die die Kutsche verschwunden war. Seine Augen weiteten sich. Staunend, mit offenem Mund blickte er sich um. 

 

Die Stadt war tatsächlich so, wie man sich bei ihm zuhause immer erzählt hatte. Wenn auch nicht ganz so bunt. Eine Vielzahl an Häusern ragte wie mahnende Finger in den Himmel und versperrte ihm die Sicht. In manche von ihnen waren sonderbare Uhren eingelassen, die nicht die Zeit, aber irgendetwas anderes anzuzeigen schienen, an dem sich die Menschen hier offenbar orientierten. In allen Formen und Grössen eilten sie an ihm vorbei, rempelten sich gegenseitig an, lachten, fluchten, klagten und plapperten durcheinander. 

 

Während der Bursche sich immer noch staunend um sich selbst drehte, nahm er die zahlreichen Gerüche der  Grossen Stadt war. Es roch nach Essen, scharfen Gewürzen und Kräutern, Pferdedung und Schweiss. Das war zunächst nichts Ungewöhnliches, doch in der hier schienen sich all diese Eindrücke zu verstärken, so sehr, bis sie kaum mehr auszuhalten waren. 

 

Der Jüngling selbst befand sich, wie er jetzt bemerkte, auf einem weitläufigen Platz am Rande eines Parks. In der Nähe sprudelte ein Brunnen in der Form eines vierblättrigen Kleeblatts. Die bronzenen Figuren an den Rändern zeigten Frauen, offensichtlich Fischweiber, mit Krügen und Trauben und Netzen in den Händen. In ihrer Mitte thronte ein Mann mit langem Haar und einem Dreizack in den Händen. Ein König der Meere. 

 

Als der Junge sich umsah, erkannte er, dass er nicht alleine hergekommen war. Viele junge Männer und auch Frauen in schwarzen Gewändern drückten sich in Reichweite des Brunnens herum. Manche umklammerten wie er noch die Einladung der Königin, andere lachten und redeten aufgeweckt miteinander. Seinem eigenen Brief entnahm er, dass er sich mit einer bestimmten Gruppe zu treffen hatte. Allerdings war ihm nicht ganz klar, um welche Gruppe es sich dabei handelte. 

“Haltet nach einem Mann im selben Alter Ausschau, schwarzes Haar, schwarzer Mantel, schwarzes Armband.”

 

Nach einer Weile glaubte der Junge, es müsse sich bei der Beschreibung wohl um einen Scherz handeln. Sie traf nahezu auf jeden zweiten Mann auf diesem Platz zu. Er ging ein paar Mal über den Platz und um den Brunnen herum, um dann von vorne zu beginnen. Mit der Zeit sank ihm der Mut und er wollte bereits aufgeben. 

Da fiel ihm eine Gruppe auf, die etwas abseits des Brunnens nahe einer kleinen Kirche stand. Sie redeten vergnügt miteinander und unter ihnen erspähte er auch einen Burschen, auf den die Beschreibung im Brief zutraf. 

 

Als er sich ihnen näherte, schaute der Fremde zu ihm auf. Er wirkte noch wie ein Mensch, so viel stand fest. Seine Haut war vielleicht ein bisschen zu blass, er selbst hoch an Wuchs und schmal. Doch als sich ihre Blicke trafen, schienen sie etwas in einander zu erkennen. Es war, als schaue man einem lange verlorenen Bruder in die Augen - einem Freund, der nach jahrelanger Abstinenz endlich nach Hause zurückkehrte. Der Jüngling trat auf ihn zu und nannte ihm seinen Anderen Namen. Der Mann ihm gegenüber lächelte geheimnisvoll. 

 

Danach dauerte es nur eine kurze Weile und schon unterhielt sich der Jüngling ausgelassen mit den anderen. Sie erzählten sich Geschichten aus ihrer Heimat. Er erzählte ihnen von der rosafarbenen Tür und seiner Mutter, doch schon bald sprachen sie auch über den bevorstehenden Maskenball. Dem Jungen kam es so vor, als wäre er schon immer Teil von ihnen gewesen, die offensichtlich weder Menschen noch Schatten waren. 

 

Unter ihnen befand sich eine Frau, die zunächst gar nicht als solche zu erkennen war. Sie trug einen schwarzen Mantel, der ihr ein wenig die Konturen eines Mannes verlieh. Doch das Strahlen ihrer nussbraunen Augen und ihr Lachen erregten die Aufmerksamkeit des Jungen. Sie erklärte ihm, dass dies nicht die Nacht des Maskenballs sein würde. Stattdessen würden sie gemeinsam die Gasthäuser der Grossen Stadt besuchen, die Ateliers und Theater, Parks und Museen, bis die tatsächliche Einladung der Königin sie erreichte. 

 

So geschah es. In der kommenden Zeit lernte der Junge seine neuen Freunde besser kennen. Er lernte, wie ein Schatten zu leben, sich lautlos fortzubewegen, die Nacht zu umarmen und nach den Hinweisen auf die Königin Ausschau zu halten. Denn nur ein Brief mit einem tintenschwarzen Siegel, das begriff der Jüngling schnell, befähigte noch nicht dazu, am geheimen Maskenball teilzunehmen. 

 

Es galt, ein Freund der Schatten zu werden, die Wege zu beschreiten, auf denen sie wandelten und die Welt mit ihren Augen zu sehen. Wie sich herausstellte, ging es dabei vor allem um Musik. Es war nicht die Musik, die gewöhnliche Menschen machten oder hörten. Es war die Musik, die man nur in ganz bestimmten Momenten wahrnehmen konnte, wenn man ganz genau hin hörte. Der Klang des fallenden Regens auf Stein, das Schnurren einer Katze, das Zwitschern der Vögel. Hier ein Summen, dort eine Melodie, ganz fein, Zwischentöne nur, und doch ganz und  gar wahrhaftig. All diese Dinge lernte der junge Mann zu hören und verlor dabei eines nie ganz aus dem Sinn: Das Mädchen mit den nussbraunen Augen.

 

Bald wussten alle Halbschatten, mit denen er durch die Grosse Stadt zog, dass er an sie dachte. Dass sie Teil seiner Träume und seines Sehnens war. Nur er selbst war sich dessen nicht so sicher. Konnte er sich denn mit einem Halbschatten einlassen? War das für einen Menschen wie ihn möglicherweise gefährlich? 

 

Dann kam der Tag, an dem sein Bruder an ihn herantrat und verkündete, dass es nun an der Zeit sei. Der Maskenball würde stattfinden und er, der Jüngling, würde sich mit ihnen dorthin begeben, um der Königin der Nacht seine Aufwartung zu machen. 

 

***

 

Als die Dämmerung über der Grossen Stadt hereinbrach, verwandelte sich der Junge in einen Halbschatten. Sein Mantel wehte sacht in der Abendbrise und die neuen Stiefel an seinen Füssen fühlten sich angenehm schwer an, so als hielten sie ihn in der Wirklichkeit fest. Gegen die aufziehende Kälte trug er einen Schal, der ebenso schwarz war wie alles andere an ihm. 

 

Sein Bruder und die anderen hatten ihm gesagt, wohin er gehen müsse, um zum geheimen Maskenball zu gelangen. Eine Kutsche brachte ihn in einen Stadtteil etwas südöstlich des Zentrums. Dort sah er bereits, wie sich einige andere so wie er auf den Weg zu den Feierlichkeiten machten. Die Menschen, die auf den Strassen unterwegs waren, warfen ihm angsterfüllte Blicke zu und ein kleines Mädchen deutete sogar mit dem Finger auf ihn, bis ihre Mutter sie hastig weiter zerrte. Es war ein grossartiges Gefühl. Je mehr er der Welt der Menschen entglitt, desto mehr hatte der Junge seltsamerweise das Gefühl, einer von ihnen zu werden. So als wurde er erst jetzt zu dem Menschen, der er immer hatte sein wollte. Leibhaftig. Lebendig. Ein Schatten. 

 

Er folgte den anderen Halbschatten über einige verschlungene Strassen und Wege bis hin zu einem Park. Dort war es bereits so finster, dass man zwischen den Bäumen den Weg fast nicht mehr erkennen konnte. Der Jüngling hielt sich mit den anderen am Ufer des Flusses, der linker Hand in etwa 70 Schritt Breite an ihnen vorbeifloss. 

 

Während sie gingen, schnappte er einige ihrer Gespräche auf. Es ging natürlich um den Maskenball der Königin. Manche waren nervös. Andere frohlockten und konnten es kaum erwarten. Wieder andere erzählten sich Legenden über den Fluss und den Park, an dem sie vorüberliefen. Manchmal solle es dort wie magisch nach Rosen duften, behauptete jemand. Eine Vielzahl Soldaten aus dem letzten Krieg lägen hier begraben, doch kaum jemand wisse noch Genaueres darüber. 

Der junge Mann warf einen Blick über den Fluss und bemerkte einige Laternen, die ihr orangerotes Licht über die Wasseroberfläche warfen, wie Irrlichter. Die Szenerie hatte etwas Zauberhaftes an sich und je weiter sie durch den finsteren Park gingen, desto stärker hatte er das Gefühl, die Welt, so wie er sie immer gekannt hatte, hinter sich zu lassen. 

 

Als sie eine Weile gegangen waren, kam die kleine Gruppe schliesslich bei einer steinernen Brücke an. Sie bog sich über den Fluss und führte offenbar zu einer Art Insel, auf welcher der Junge jetzt die Silhouette eines hoch aufragenden, turmartigen Gebäudes ausmachen konnte. 

 

Auch hier erhellten Laternen die Düsternis. Zwar machte dieser Ort auf den ersten Blick einen ganz gewöhnlichen Eindruck. Doch ob ein gewöhnlicher Mensch ihn gefunden hätte, ohne zu wissen, wo er suchen musste, das bezweifelte der Junge. Sie waren eine ganze Weile durch die Dunkelheit gegangen. Der Weg war ihm ein wenig wie die Reise in die Grosse Stadt erschienen, damals, vor einer gefühlten Ewigkeit. Wer konnte sagen, ob sie Minuten, Stunden oder gar Jahre und Jahrzehnte unterwegs gewesen waren?

 

Schnell hatte er seine Freunde entdeckt. Sie standen bereits auf halbem Weg über die Brücke und winkten ihm freudig zu, als sie ihn erkannten. 

Unter ihnen war auch seine Herzdame mit den nussbraunen Augen. Als er sie sah, war der junge Mann einen Augenblick lang sprachlos. Wie er sie so musterte, errötete sie, doch war das im Dämmerlicht der Laternen nur schwer zu erkennen. Für den Maskenball trug sie ein Kleid, das aus Nacht und Spinnenseide gewebt zu sein schien. Hier und da glitzerten Silberfäden auf dem dunklen Stoff und brachten das Mädchen über ihre Erscheinung hinaus zum Strahlen wie den Sternenhimmel. 

 

Gemeinsam schritten sie über die Brücke, wobei der Jüngling noch einmal einen letzten Blick auf die Wasseroberfläche warf. Rabenschwarz floss der Fluss dahin, träge, sodass er kaum ein Geräusch verursachte. 

 

Als sie das turmartige Gebäude erreichten, welches der Bursche aus der Ferne bereits gesehen hatte, geriet er abermals ins Staunen. Es glich einer Art Tempel oder Kirche und war durchzogen von Schatten. Richtigen Schatten, keinen Halbschatten. Sie waren buchstäblich überall, tummelten sich zwischen den Säulen, kauerten grüppchenweise entlang des Flussufers und schwebten unter den Baumkronen. 

 

“Willkommen bei der Königin der Nacht!” Etwas an der Art, wie sein Bruder das sagte, liess den Jungen stutzen. Er blickte auf den unheimlichen Sakralbau, auf die Schatten, die in der Dunkelheit tanzten. Dann dämmerte es ihm. 

 

Es gab gar keine Königin. Das, was die Schatten als “Die Königin der Nacht” betitelten, war all das hier - der Maskenball selbst. Es handelte sich nicht um eine Person, sondern um eine Zusammenkunft, ein Treffen aller Schatten aus der Grossen Stadt. Genauso musste es sein. 

 

Noch eher der Junge weiter darüber nachdenken konnte, schoben ihn die Freunde auch schon voran, direkt auf die Eingangspforte des Turms zu. Er fingerte nach seiner Einladung und nannte dem Schatten an der Tür seinen anderen Namen. Dann wurde er eingelassen.

 

Im Inneren waberte künstlich erzeugter Nebel über den Boden, sodass man seine Füsse nicht mehr sehen konnte. Geradezu führte eine Treppe hinauf in die Turmzimmer oder aber hinab ins Kellergewölbe, aus dem in diesem Augenblick eine schaurige Musik nach oben drang. Rechts bewegten sich zahlreiche Schatten im angrenzenden Tanzsaal zu wieder einer anderen Musik, die aus dem Nichts, vielleicht irgendeiner jenseitigen Phäre zu stammen schien. Nicht wenige tranken den blutroten Wein, von dem in den Geschichten oft die Rede war. Ihre Körper waren tiefstes Schwarz, während ihre Gesichter von schneeweissen Masken aller Formen und Grössen verhüllt waren. Sie erinnerten den Jüngling an die Legende von der Schwimmenden Stadt, die sich irgendwo weit im Süden befinden solle. Dort, so hiess es, solle es ähnliche Feste geben, an denen die Besucher ausschliesslich maskiert oder gleich gänzlich verkleidet erscheinen würden. 

 

Sein Bruder drückte ihm etwas in die Hand. Eine Maske. Sie war wie ein Wolfskopf geformt, mit mandelförmigen Augen, spitzen Ohren und einer Schnauze. Als der Bursche sie aufsetzte - glatt und kühl schmiegte sich das unbekannte Material an sein Gesicht - fühlte es sich an, als habe er einen lange verloren geglaubten Teil seines Körpers wiedererlangt. Als habe er die Fähigkeit, zu gehen verloren und war nun eines Morgens aufgestanden, um festzustellen, dass das Gefühl in seinen Beinen zurückgekehrt war. Ein Rausch ergriff von ihm Besitz. 

 

Seine Freunde hatten bereits etwas Wein herbeigeschafft und nach den ersten ein, zwei Gläsern begannen auch sie, zu der fremdartigen Musik zu tanzen. Immer wieder warf der Junge dabei einen Blick auf seine Herzdame. Auch sie trug wie die anderen eine dieser unheimlichen Masken. Ihre hatte die Form einer Jungfer mit auffällig geformten Lippen. Abertausend Fragen geisterten dem Burschen durch den Kopf, während er zusah, wie sie sich zu den Friedhofsklängen bewegte. Dachte sie wohl auch an ihn? Konnte sie dasselbe Knistern spüren, das immer dann Funken zu schlagen drohte, wenn sie einander nahe waren? Fühlte sie dieselbe Wärme in ihrem Inneren, wann immer ihre Gedanken zu ihm abglitten? Oder taten sie das gar nie?

 

In diesem Moment erhob sich das Mädchen und lief zu der Wendeltreppe, die hinab ins Kellergewölbe führte. Der Nebel, der um ihre Knöchel herum waberte, schien von dort unten zu kommen. Sie warf ihm einen auffordernden Blick zu. Dann stieg sie die Stufen hinab und wurde im nächsten Augenblick von den dichten Schwaden verschluckt. Der Jüngling und sein Bruder, der wie er eine Wolfsmaske trug, wechselten einen kurzen Blick. Dann stand er auf und folgte seiner Herzdame zögerlich hinab in die Tiefe. 

 

***

 

Auch im Kellergewölbe waren tanzende Schatten zu finden. Ihre schemenhaften Gestalten tauchten mal hier und mal da aus dem Nebel auf. Der Junge sah, wie sich Arme zur Decke empor reckten, nur um kurz darauf wie die Tentakel eines Kraken wieder in dem wabernden Meer abzutauchen. Er sah, wie Hüften in rhythmischen Bewegungen hin und her kreisten, dass ihm dabei fast schwindelig wurde. Dann fiel sein Blick wieder auf das Mädchen in dem Spinnfädenkleid. Sie stand da und so, wie sie ihn anblickte, schien sie auf ihn zu warten. 

 

Schon im nächsten Augenblick verschmolzen sie mit der Musik und mit den Nebelschwaden, während sie sich tanzend aufeinander zu und wieder von einander weg bewegten. Die Energie zwischen ihnen schien fast greifbar, dachte er, doch es wollte ihm nicht gelingen, daraus den nächsten Schritt zu machen. Erwartete sie, dass er sie berührte? Sie gar küsste? Wie konnte er ihr zeigen, dass er ihr zugeneigt war? Welche Sprache der Liebe verstanden die Schatten?

 

Verzagt ob seiner Unbeholfenheit wandte er sich um und stolperte die Treppe empor, zurück in den oberen Tanzsaal. Dort sassen sein Bruder und ein paar seiner Freunde, die Gesichter immer noch mit weissen Tiermasken verhüllt, und berauschten sich am blutroten Wein. Als sie sahen, welch unglückliches Gesicht der Junge machte, beschlossen sein Bruder, etwas zu unternehmen. 

 

Der junge Mann indessen griff nach einem Weinkelch und lehrte ihn in einem Zug. Jemand, er konnte allmählich nicht mehr klar denken, vielleicht sein Bruder, bat ihn, die Maske abzunehmen. Zunächst zögerte er. Was, wenn er dabei ein unausgesprochenes Tabu brach? War es einem angehenden Halbschatten wie ihm gestattet, an der Königin der Nacht sein Gesicht zu zeigen?

 

Doch sein Freund versicherte ihm, dass es in Ordnung sei. Er nahm die Wolfsmaske vom Gesicht. Im nächsten Augenblick presste das Mädchen ihre Lippen auf die seinen. Er spürte, wie sich ein heftiges Kribbeln von seinem Bauch heraus über seinen ganzen Körper hinweg ausbreitete. Elektrisiert und wie von einem jähen Fieber erfasst stand er da. 

 

Als er die Augen öffnete, erblickte er sie - ohne Maske, doch mit glühenden Wangen. Sie sah ihn an und lächelte. Daraufhin folgte ein zweiter Kuss. Vielleicht bildete er es sich nur ein, doch der Junge glaubte, seinen Bruder und die vielen anderen Schatten um sie herum jubeln zu hören. Das Kribbeln ging ihm noch immer von Kopf bis Fuss. Er wusste, dass dieses Gefühl nicht allein dem Kuss zuzuschreiben war. Es war das letzte Bisschen Menschsein, das von ihm abperlte. Der Junge wusste, nun war er für alle Zeit und unzweifelhaft einer von ihnen. Ein Schatten. Er spürte, wie die Magie der Nacht ihn durchdrang, wie der Moment an Zeit verlor und in die Ewigkeit überging. Er hatte sich verliebt. Verliebt in einen Schatten. Auch seine Wangen brannten jetzt und der Nebel und die Nacht und die Dunkelheit schienen ihn willkommen zu heissen wie einen verlorenen Sohn. 

 

Der Maskenball der Königin dauerte noch die ganze Nacht an, bis zum Morgengrauen. Es war die erste Dämmerung, die der Schatten, der nun kein Junge mehr war, zu Gesicht bekam. Seine Verwandlung war abgeschlossen. Hand in Hand mit seiner neuen Gefährtin, seinem Bruder und ihren zahlreichen Freunden verliessen sie die Insel, um in die Grosse Stadt zurückzukehren. Dort warteten viele blasse Tage auf sie, die sie hinter sich bringen würden, um wie in jener Nacht auf dem Maskenball der Königin zusammenzukommen. Denn sie waren die Schatten, vor denen die Menschen sich fürchteten und die heimlich über die Stadt Wache hielten. Damals, gestern, heute und solange dem Licht sein dunkler Bruder auf dem Fusse folgte.

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