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Der Tod der alten Fliege.

(überarbeitet 16.11.2023)

(Ähnlichkeiten mit Werken von Agatha Christie oder anderen Autoren sind rein zufällig und ungewollt, dagegen solche mit summenden Plagegeistern im Schlafzimmer schon.)

Wir schreiben Anfang November einer jener Monate, die wettertechnisch keinen erwähnenswerten Ruf haben, eben ein typischer Novembertag, nichts Besonderes ist zu berichten. Der Himmel ist grau und über den Wiesen schwebt kalter Dunst.
Ich sitze am Schreibtisch, es ist gemütlich warm, wir haben der Zimmertemperatur auf die Sprünge geholfen. Eine neue Geschichte zu schreiben ist der Plan, allein die Muse dürstet es nicht, mich heute zu küssen. Dafür ist der Drang zu etwas mehr Amüsement bei meiner Mitbewohnerin umso stärker, Musca Domestica ihr Name, vom Volksmund gemeine Stubenfliege genannt. Und das ist sie, gemein. Dieser sechs bis sieben Millimeter große, nach seinem Schlupf an die 70 Tage lebende, komplett behaarte und überall auf der Welt anzutreffende Untermieter mit seinen leckend-saugenden Mundwerkzeugen versteht es, mich an den Rand des Wahnsinns zu bringen. Jetzt im November rechnet niemand mehr mit Musca Domestica, und dennoch, einzelne Exemplare beweisen es uns immer wieder, sie haben es verstanden, ihren Lebenskelch bis zur Neige auszukosten. So wie die meine, der Anschein entsteht, es handele sich hierbei um ein Musterexemplar der Hartnäckigkeit. Ich bin ja ein friedfertiger, naturliebender, keiner Kreatur den Tod wünschender Zeitgenosse, außer ...
Die meisten Stunden des Tages, so scheint es mir, ruht sie und beobachtet ihr Opfer aus einem sicheren Versteck heraus. Sie schaut mir beim Arbeiten zu und denkt sich, kommt Zeit - kommt Müdigkeit, der Moment, an dem ich zuschlage.
An dieser Stelle möchte ich kundtun, dass etliche groß angelegte Suchaktionen mit dem Ziel der Festsetzung des Feindes vorangingen, allein gefunden wurde er nicht. Kennen wir alle, Tatort Schlafzimmer, Täter Mücke oder Fliege. Ich schüttle die Gardinen, wedele mit diversen Tüchern in der Gegend herum, beklopfe den Schrank von vorne und von hinten, dies sämtlichst mit geschultertem, entsichertem und saugbereitem Staubsauger.
Entnervt spähe ich umher, kein Insekt in Sichtweite. Ist sie beim Betreten des Raumes zum Flur hinaus, oder das letzte Lüften des Zimmers wies ihr den Weg in die kühle Realität? Leise Hoffnung keimt auf.
Doch kaum deutet sich bei mir ein gewisser Drang zur Ruhe an, der Kopf findet ein wenig Entspannung auf den Armen, von Schlaf ist gar keine Rede, schon wird sie emsig. Ich sehe vor meinem geistigen Auge einen Film ablaufen, wie sie sich das Lätzchen umbindet, über den behaarten Körper streicht, der Saugrüssel wird kurz provokant ausgefahren, freilich in volle Länge, um sodann zum Angriff anzusetzen. Schon belagert sie mich. Kein Körperteil ist ihr heilig, egal ob auf dem Kopf die Haare, Mund, Nase, Ohren, Beine oder Arme, sie nimmt alles. Sie putzt sich auf meinem Gesicht die Füße ab, besucht die Ohrmuscheln und so manche selbst auferlegte Backpfeife zum Zwecke der entnervten Abwehr des Insekts führt bei mir einzig und allein zu ausgeprägt geröteten Ohren. Jede an Selbstkasteiung erinnernde Art der Verteidigung läuft ins Leere. Schon meine ich so manches Mal ein leises, helles Lachen zu vernehmen.
Alle Versuche, des Feindes habhaft zu werden, scheitern. Die Nutzung eines Werkzeuges wird in Erwägung gezogen. Nach der Frage „Schatz, wo ist unsere Fliegenklatsche?“, gelange ich umgehend zu der Erkenntnis, dass ihr Gebrauch beim letzten Einsatz zu einem irreparablen Desaster führte und eine Neuanschaffung erst für die kommende Saison geplant ist. OK, eine Zeitung wird diesen Part übernehmen. Schnell ist eine gefunden, gefaltet und ...
Die Fliege ist weg, sie hat sich womöglich in Luft aufgelöst, ebenso wie dieser Tag. Das Schlafzimmer ist frei von Plagegeistern und so komme ich für heute doch zu der lang ersehnten Ruhe.
Der neue Tag, erste Vorstellungen bezüglich der zu entwickelnden Geschichte formierten sich über Nacht in meinem Gedächtnis und sind bereit, festgehalten zu werden. Hoffnungsvoll betrete ich das Arbeitszimmer, nehme Platz am Schreibtisch und das Tagwerk nimmt seinen Lauf. Die Worte finden den Weg aus den Gedanken in die Finger und sind bereit, aufgeschrieben zu werden, ein Zustand voller Hoffnung. Kein Anzeichen von Wortmangel oder Müdigkeit, wie man so passend sagt, es läuft. Der Blick fällt wie zufällig auf die gefaltete Zeitung vom Vortag, ein kurzer, gut gesetzter Geistesblitz durchströmt mein Gehirn und droht den roten Faden zu zerreißen. Nein heute nicht, heute lenkt mich nichts und niemand ab, ich bleibe hart.
Ähnliche Gedanken hat Musca Domestica derweil sie mein Treiben aus ihrem sicheren Versteck heraus, nach einer geruhsamen Nacht ausgeschlafen beobachtet und neue Pläne für den anstehenden Tag schmiedet.
Ihr erster Angriff folgt meinem zweiten Absatz, ich schwimme zufrieden im Schreibfluss, voll auf die Protagonisten konzentriert. Sie macht eine Zwischenlandung auf dem Schreibtisch, nahe einiger Kekskrümel, Überbleibsel eines längst vergangenen, nächtlichen Anfalles von Naschsucht. Ich schließe die Augen nur so weit, dass ich sie weiterhin aus dem Augenwinkel heraus erspähen kann. Eben diese Naschereien werden zu meinen Verbündeten im Kampf gegen das lästige Insekt und erledigen ihre Arbeit zuverlässig. Wo liegt doch gleich die Fliegenzeitung? Am anderen Ende des Zimmers. Unter Vortäuschung großer Müdigkeit verstehe ich es, den Schreibtisch unauffällig zu verlassen, der gefalteten Zeitung habhaft zu werden und mich wieder voll von Vorsicht dem Möbelstück zu nähern.
Die Fliege lässt sich nicht beim Frühstück stören, was ich dankend zur Kenntnis nehme. Einen zielsicheren Platz erreicht, hole ich aus. Die Wucht des wutentbrannten Schlages bringt das Saftglas auf dem Tisch ins Wanken, der Inhalt ergießt sich über selbigen, was zu einem langsamen Dahingleiten der Federtasche in Richtung Tischkante mit erfolgreicher Landung in einer Saftpfütze auf dem Fußboden führt. Aber dafür ...
Ich hebe vorsichtig die Zeitung an, um im Falle des Falles erneut zuzuschlagen. Wo ist die Fliegenleiche?
Nach erfolgter Renovierung des Arbeitszimmers begegnen wir uns einige weitere Male. Ich entschließe mich, alle Fangvorbereitungen bei Seite zu lassen, sie von nun an zu ignorieren, und es ist gut so.
Dann, eines Tages, ich hatte wieder einmal eine Schreibblockade, bemerke ich, dass irgendetwas fehlt. Ein aufmerksames Betrachten meiner selbst, Socken, Hose, Hemd, alles in Ordnung. Und da schießt es mir ein, Musca Domestica. Was ist los, wo bist du, gib ein Zeichen. Du schillerndes, nerviges Etwas, hast du etwa aufgegeben?
Tage später, wir sind beim vorweihnachtlichen Großreinemachen, sollten wir uns ein allerletztes Mal begegnen. Auf dem Fensterbrett, hinter einer Blumenvase fand sie ihre letzte Ruhestätte. Nachdem wir so einige Abenteuer zusammen erlebten, und ich sie jetzt hier in diesem erbärmlichen Zustand auffinde, kein Schimmer entspringt mehr ihrem kleinen Körper, ja, etwas Traurigkeit um die Erkenntnis der Endlichkeit des Lebens umhüllt mich. Ich öffne das Fenster und übergebe sie der freien Natur.

PS: Eine neue Fliegenklatsche kaufen wir gleich in der nächsten Woche.

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Moin lieber Axel-Gerd,

 

das möchte ich mal einen gelungenen Einstand nennen. Liest sich gut weg (wobei der Text mittels Absätzen etwas lesefreundlicher formatiert sein könnte), die Bilder rauschen vor dem inneren Auge vorüber wie ein Sketch, und am Ende gelingt es dir sogar, Mitgefühl für die anfangs so lästige Protagonistin zu wecken.

 

Freue mich auf mehr!

 

Gruß

Cornelius

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