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Blumen


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Im kalten Licht meines Bildschirms fülle ich mein Glas mit dem billigsten Whiskey, den ich auftreiben konnte. Er schmeckt beschissen, hat überhaupt kein Aroma oder auch nur eine Spur von Geschmacksnoten, aber er wirkt. Langsam spüre ich, wie meine Augenlider immer schwerer werden, wie meine Finger sich immer langsamer bewegen und wie selbst die Motten im Zimmer auf der Decke verharren, als ob sie nur darauf warten würden, dass ich in tiefen Schlaf falle. Doch ich falle nicht in den Schlaf. Ich falle in einen Abgrund, den ich unmissverständlicherweise als mein Zuhause betrachte. Warum? Weil es der Ort ist, an dem ich voll und ganz Ich sein kann. Ein Ort, an dem sich jeder meiner Millionen kleiner Charakterzüge entfalten, zur vollen Blüte kommen und wieder absterben kann. Und wenn man sich mein Inneres so ansieht, dann ist es wirklich ein Ort voller verwelkter Blumen. Ich will ehrlich sein: ich finde es traurig, denn es waren wirklich schöne Blumen dabei. Doch sie brauchten Pflege, sie wollten, dass man sie gießt, sie düngt, ihnen Sonne schenkt und sie warteten auf kleine Glücksbienchen, die von ihrem Blütennektar trinken und ihre Samen in die Welt hinaustragen. Welch ein Jammer, dass sie alle Welken mussten.

Nun fülle ich ein weiteres Glas. Jetzt sehe ich sie – die welken Blumen. Ihr Duft war einmal voller Farbe und Klang, erfüllte die Gäste des Gartens mit Freude und Glück und schenkte allen einen liebevollen Anblick. Was ist aus ihnen geworden? Nichts! Vergeblich trachteten sie nach höherem, vergeblich streckten sie ihre schlanken Taillen empor, suchten das Angesicht der Sonne, vergeblich schlugen sie Wurzeln in der Erde. Sie mussten sterben und auch der Boden verdorrte, wurde trocken und hart, uneinnehmbar von Wassertropfen und unerweichlich im Regen. Und ich weiß ganz genau, dass hier einmal mein Grab stehen wird. Spätestens, wenn die letzte dieser Blumen anfängt, ihren Kopf hängen zu lassen, werde ich es schaufeln. Und dann lege ich mich hinein und werde weinen. Ich werde so stark weinen, dass der Boden wieder erweichen wird. Ich werde so stark weinen, dass er das Wasser wieder in sich aufnimmt. Ich werde so stark weinen, dass es vom Himmel herab regnen wird und dann werde ich sterben und die Blumen werden wieder emporsteigen in die Höhe. Jede einzelne stolz blickend. Und Menschen, die vorbeigehen, werden sagen: Was für ein schöner Garten! Und sie werden nicht wissen, dass es ein Grab ist, denn die Schönheit wird ihre Augen verzaubern und mein Körper wird die Blumen nähren, sodass sie leben und gedeihen werden.

Ich habe keine Angst vor dem Sterben, wenn aus meinem Körper auch nur eine Blume hervorsprießt. Vielleicht wird sie ja einem Menschen Freude bringen, dem ich keine Freude bringen konnte. Denn Blumen lieben aufrichtiger, als Menschen. Blumen sind so selbstlos. Ich wäre gern eine Blume, frei von meinen triebhaften Wünschen und Neigungen. Warum konnte ich keine Blume sein? Warum musste ich dieser Abgrund von Mensch werden? Dieses alles zertrampelnde und verschlingende Tier, nicht fähig, edle Regungen und Wünsche zu erfüllen, stets nach sich selbst trachtend. Jetzt verstehe ich, warum ich mich und mein Leben nicht mag – es ist, weil ich ein Mensch bin. Ich kann nicht anders, als kaputtmachen. Wieviele Blumen habe ich bereits getötet, indem ich sie gepflückt und einem Mädchen geschenkt habe? Bin ich nicht ein Mörder von solch selbstlosen Geschöpfen, die nur um der Schönheit Willen existieren?

Traurig, traurig ist mein Leben. Alles ist traurig. Jeder Atemzug stößt eine Abhängigkeit aus, jeder Blick ein Verlangen, jedes Wort offenbart die beschränkte Fähigkeit sich auszudrücken, die beschränkte Fähigkeit zu leben! Denn leben ist sterben. Das lernen wir von den Blumen. Sie leben nicht für sich, insofern sterben sie, aber wir, wir haben Angst vor dem Sterben. Also haben wir auch Angst vor dem Leben! Wir klammern uns an alles, was uns Leben verspricht! Gott verspricht und ewiges Leben, wozu? Haben wir nicht schon genug gelebt? Haben wir nicht schon genug Tod verbreitet und Angst zu unserem Herrn gemacht? Traurig, traurig ist das Leben. Traurig, traurig bin ich. Wo finde ich halt? In Gott? In der Philosophie? In Poesie? Vielleicht in der Liebe? Alle habe ich verspottet und ausgelacht, alle haben sie mir den Rücken gekehrt. Ich habe keine Freunde. Ich habe keine Feinde. Ich habe nichtmal mich selbst. Substanzlos stehe ich da, wie ein Geist. Und ich sehe, wie die Welt ihre Runden dreht, ich sehe, wie alles immer und immer wieder geschieht. Menschen haben das Wort Bedeutung erfunden. Es ist auch nur Angst vor dem Tod. Aber ich will keine Angst vor dem Tod haben. Ich will auch keine Angst vor dem Leben haben. Ich will überhaupt keine Angst haben. Ich will Blume sein, mich hingeben und sterben. Und solange will ich Sonne suchen und stolz emprorblicken. Doch ich bin traurig, denn ich bin ein Mensch.

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Tja, da sieht man, was Alkohol zu später Stunde noch alles bewirken kann. Aber das sollte jetzt niemanden dazu inspirieren, übermäßig Alkohol zu trinken - also bitte nicht falsch verstehen. ;-)

 

Und danke für euren Lob, es freut mich immer wieder, Menschen zu inspirieren.

 

Gruß,

DerSeelendichter

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