Moin gummibaum,
ich erlaube mir, einmal meine Gedanken zu deinem Text anzuführen, bevor du deine Erklärung gibst!
Die angesprochene Dichte/Rätselhaftigkeit finde ich ganz toll, kann ja wirklich Spaß machen, sich durch eng zusammengewobene Sprachbilder zu wühlen^^
Vorweg sei gesagt, dass ich den Humor oder die Satire hier auch nicht herauslesen und -interpretieren kann.
In der Hinsicht bin ich auf deine Erläuterungen also auch sehr gespannt.
Insgesamt vermittelt dein Text mir eine sehr getragene, melancholische Stimmung.
Ich will das hier einmal inhaltlich Stück für Stück aufschlüsseln:
Das Regengrau frisst durch die Fenster
an mir seit vielen Tagen jetzt.
Hab ich direkt auf mich bezogen, vielen anderen, die das triste Wetter satt haben, wird es genauso gehen.
Nochmal dramatischer natürlich hier für das Lyrische Ich.
Es wird hier als ein stiller, offenbar sehr passiver Beobachter dargestellt - seit Tagen nimmt es diese grauen Eindrücke wahr, wird von ihnen förmlich aufgezehrt und kann sich dagegen wohl auch nicht wehren.
Vom hohlen Wesen der Gespenster
fühl ich mich immer mehr durchsetzt.
Das "hohle Wesen der Gespenster" deute ich schlicht als inhaltliche oder innere Leere, in Verbindung mit den Gespenstern vielleicht auch eine drohende Lebensmüdigkeit.
Die Nacht wird mir zum Seelengarten.
Hier nun ein kleiner Wendepunkt.
Der Seelengarten ist für mich schon ein Lichtblick, wobei auch der Bezug zur Seele hier schon wieder in Richtung Lebensende gehen kann.
Ich betrachte es hier aber als Ausflucht aus den aufzehrenden Eindrücken der Außenwelt, das Lyrische Ich findet in der Nacht, im Schlaf, die Zeit und Ruhe, in sich hineinzuhören, sich meditationsartig auf sich zu besinnen.
Im kühlen Bett spür ich das Grab
und mich vor Zwölf den Schlag erwarten,
der heilsam weckt, was ich ihm gab.
Ich verstehe die bereits angesprochene syntaktische Verwirrung hier gut.
Der Satz ist in der Tat verzwickt aufgebaut.
Wenn mich nicht alles täuscht, sollen wir das hier als Syllepse mit "spür ich" lesen:
Einerseits eben für den Satz "Im kühlen Bett spür ich das Grab",
andererseits für den Satz "im kühlen Bett spür ich mich vor Zwölf den Schlag erwarten" - also im Sinne von "ich erwarte hier im kühlen Bett den Schlag vor Zwölf."
Ich wäre hier aber glaube ich auch für eine syntaktisch etwas eingängigere Lösung,
etwa:
Das kühle Bett ist mir ein Grab,
lässt mich vor Zwölf den Schlag erwarten,
falls ich das hier inhaltlich korrekt durchdrungen habe.
Das kühle Bett als Grab lässt sich hier auch schon wieder in einer Todessymbolik lesen, ich betrachte es aber eher als heilsamen Ort der Ruhe, in dem eher die schädlichen Eindrücke von Außen begraben werden.
Vielleicht soll es auch Einsamkeit ausdrücken - ein geteiltes Bett wäre weniger kühl.
"Zwölf" wiederum als Wendepunkt, die Mitternacht als Zeit des Übergangs, das Lyrische Ich steht vielleicht vor einer großen Veränderung, die vom "Schlag" (ich gehe hier vom Glocken-, Uhren-, Stundenschlag aus) angekündigt wird.
Wieder passend zur bereits zu Beginn angesprochenen Passivität, die Dinge geschehen so mit dem Lyrischen Ich, ohne viel Dazutun.
Das Dazutun wird dann aber doch im vierten Vers aufgegriffen, denn der Schlag weckt im Lyrischen Ich ebendies, was das Lyrische Ich zuvor "dem Schlag" gegeben hat.
Was ich denke, was das Lyrische ich dem Schlag gegeben hat:
Es nimmt ihn wahr und der Schlag ist damit frei, zu existieren, das Lyrische Ich lässt den Schlag durch seine Wahrnehmung erst geschehen.
Und genau dies wird eben im Lyrischen Ich nun auch aufgeweckt, es befreit sich von den äußeren Eindrücken, es ist frei zu existieren.
Schon weiß ich luftig mich auf Dächern
Ebendiese Freiheit spürt das Lyrische Ich sofort, hier in einem traumhaften Überdendingenschweben.
und bin dem Regen nachts wie Wind,
der mit ihm spielt und ihm als Becher,
der keinen Boden hat, entrinnt …
Der Regen, anfänglich der Feind, die Ursache für die innere Zerfressenheit des Lyrischen Ich ist hier nun ein Spielball des Lyrischen Ichs.
In seiner neu gewonnenen Art, die Dinge zu betrachten, kann "der Regen" dem Lyrischen Ich nun nichts mehr anhaben, es entwischt ihm immer wieder.
Ich finde in diesem Sinne den "Becher ohne Boden", der diese Spielball-Bildlichkeit gut rüberbringt, und auch das Entrinnen verdeutlicht, schon schön.
Allerdings ist es sprachlich dabei etwas unglücklich, dass das "entrinnen" sich ja nicht auf den "Regen" bezieht, sondern auf das Lyrische Ich.
Nicht der Regen entrinnt, durch einen bodenlosen Becher - was ja sprachlich, bezogen auf eine rinnende Flüssigkeit ein lupenreines Bild wäre.
Nein, das lyrische Ich entrinnt, als Becher ohne Boden.
Einziger bildsprachlicher Kritikpunkt für mich hier.
Weitergedeutet zeigt aber auch dieses Spielen mit dem Regen, dass das Lyrische Ich es noch nicht ganz geschafft hat, sich von seinem Feindbild zu lösen.
Auch das "entrinnen" vermittelt ja eher ein "gerade so davonkommen" und auch als Becher ohne Boden gibt es immer noch sehr viel Seitenfläche, die vom Regen angegriffen werden kann.
So bleibt also für mich die Gewissheit, dass die Freiheit des Lyrischen Ichs äußerst begrenzt ist, dass es bald schon aus seinem Traum erwachen wird und die regengraue Wirklichkeit wieder durch sein Fenster zu beobachten haben wird.
Ich bin gespannt, inwieweit meine Deutung sich mit deiner Idee deckt.
Auf jeden Fall gern gelesen und drüber nachgedacht! 🙂
LG Chris