Gedanken eines Revolvermannes:
Vorweg: Es ist ein sehr persönliches Werk mit vielen Erlebnissen des lyrischen Ichs selber und dementsprechend beschrieben und zu interpretieren. Das Werk sollte unterm Strich so viel Aussagekraft und Inhalt enthalten, wie nur einem Stück Text möglich ist.
Bin ich, auch der nüchtern' Wahrheit stets bewusst,
in einem tränentrocknen Lande nicht der Realist,
Schon gleich zu Beginn eine sehr komplizierte Verschachtelung, die nur das Komata nach dem "ich" zu entschlüsseln vermag. Ansonsten könnte man den ersten Vers als eine Sinneinheit lesen, doch ist der in Komata gesetzte Abschnitt im ersten Vers nur weiter ausführend und regt schon sehr zum Umdenken an, sobald man an Vers Nummer Zwei gerät.
Also etwas greifbarer Formuliert: "Bin ich in einem tränentrocknen Lande nicht der Realist, auch wenn ich der objektiven Wahrheit stets bewusst bin."
Immer noch ein harter Brocken. Das lyrische Ich ist sich der Wahrheit bewusst. Diese Eigenschaft zeichnet einen Realisten aus. Jemand, der die Wahrheit und den IST-Zustand wiederspiegelt. Doch eben dieser Realist soll das lyrische Ich nicht sein.
Der Schlüssel liegt im "tränentrocknen". Ein Land ist der Tränen trocken. Es hat keine (mehr). Es hat sich ausgeweint. Ist leer. Ein Land wird von seiner Bevölkerung geprägt. Das heißt also, der Bevölkerung ist es unmöglich zu weinen. Es hat schon zu viele harte Zeiten hinter sich und ist resigniert.
Zumindest ist das für mich ein logischer Zusammenhang. Denn wenn ich aufhöre zu weinen über eine unglückliche Situation, dann habe ich resigniert und akzeptiert.
Also unterm Strich: Was muss vorliegen, damit das lyrische Ich die Wahrheit kennt und dennoch nicht die Wahrheit wiederspiegelt? Es weint oder kann noch immer weinen. Hat die aktuelle Lage nichts akzeptiert. Will die Lage im Land nicht akzeptieren. Es sei dahin gestellt, ob mit Land das eigene Leben gemeint ist, oder ob es mit dem Zustand nicht zufrieden ist, der wirklich im eigens bewohnten Land herrscht.
Merke: Das lyrische Ich weint und der Text ist sehr doppeldeutig.
wird schnell der Erzählung Ambivalenz zum Verlust,
wenn ich mit schwachem Geiste sage, wie es ist.
Hier wird mit der Ambivalenz (zu deutsch: die Doppelwertigkeit) auch nochmal die komplizierte Verschachtelung untermauert und klar ausgesagt, dass man nicht all zu logisch vorgehen darf, um die Aussage zu verstehen.
Doch es wird gleichzeitig gesagt, dass die Ambivalent doch gar nicht vorhanden ist (was in sich selbst eine Ambivalenz ohne logischen Sachverhalt darstellt... ein Paradox).
Und es wird im zweiten dieser Verse gesagt, dass diese Doppelwertigkeit dadurch verschwindet, dass das lyrische Ich sagt, wie die Realität aussieht. Damit ist es am Ende doch ein Realist, verbindet diese Verse mit den ersten beiden der Strophe und umschließt das ganze in ein Paradoxon, welches ein Paradoxon enthält.
Aber halt, es wird auch nochmal von einem schwachem Geist geredet. Das sollte man sich ebenfalls merken!
Was jetzt noch belanglos erscheinen mag und in keinem Zusammenhang steht, ist später vielleicht der Schlüssel zur Wahrheit.
Denn unter der Zusammenkunft von Galle, Blut und Schleim
beherrschen mich die stärksten dieser Kräfte.
Der erste Vers ist eine eindeutige Anspielung auf die Humoralpathologie und die Säfte Lehre. Zudem folgt im zweiten Vers ein Antitheton, ein gedanklicher Gegensatz. Erst ist der Geist schwach, doch die Kraft ist stark.
Wenn man sich mit der Säftelehre auskennt macht auf einmal alles Sinn. Jedem Menschentypen sind in der Säftelehre gewisse Eigenschaften vorgeschrieben. Ein schwacher/resignierter Geist/Wille (der es leid ist), der Hang zum Weinen, die starke Kraft/Emotion. Der Melancholiker.
Zudem schlägt das lyrische Ich hiermit eine Brücke dazu, dass Gefühle eine Kraft inne haben.
Und wenn man Strophe eins im Rückblick hat, bedeutet es, dass das Land keine Melancholiker besitzt.
Mit dieser Aussage geht eine sehr scharfe Kritik einher.
Denn dem Melancholiker sind noch mehr Dinge zugeschrieben, die da wären "Mannesalter", bzw. eben das erwachsene Leben (reife) und Trotz.
Wenn das Land keine Melancholiker besitzt, heißt das also, dass das Land nur aus einer Bevölkerung besteht, die unreif oder überreif ist. Niemand der reif handeln kann! Niemand im rechten Alter. Und niemand der trotzig ist. Wieder der Beleg dafür, dass das Land resigniert hat.
Das alles spricht dafür, dass das lyrische Ich absolut unzufrieden mit der Welt ist!
Findet die Unwissende der Seelen keinen Reim,
erkennt sie nicht den Glauben der Vier Säfte.
Wenn man sich auf etwas keinen Reim machen kann, dann versteht man etwas nicht. Das hier ist eher mit Humor zu verstehen. Das lyrische Ich macht sich über all jene lustig, die den Sinn bisher nicht verstanden haben. Jeder Leser, der nichts mit dem Text anfangen konnte ist eine Unwissende Seele.
Zudem sagt der zweite Vers weiter aus, dass man zum Wissen die Sache mit den Vier Säften verstehen muss.
Quasi ein deutlicher Hinweiß zur Humoralpathologie auch für jene, die alles vorherige noch nicht so umsetzen konnten. Es bildet eine Krücke für den Leser.
Ausserdem bildet es eine Brücke zwischen Wissenschaft und Glaube (Religion) ... mal wieder eine Ambivalenz.
Denn die Humoralpathologie ist eine Wissenschaft. Allerdings eine Überholte aus einem vergangenen Jahrtausend, die heute keinen Bestand mehr hat und absolut widerlegt ist!
Dessen ist sich das lyrische Ich bewusst und bezeichnet diese Lehre als einen "Glauben" ... damit ist der Text nicht mehr all zu ernst zu nehmen, sondern mehr nach dem Motto direkt an den Leser gerichtet: "Wenn du meiner Meinung bist, dann schön. Wenn nicht, dann biete ich dir keinen Angriffspunkt, um mir Widersprechen zu können, da ein GLAUBE außerhalb jeder Kritik steht."
Doch so ungern ich in den Schlund der Abstinenzen falle,
bricht das Schweigen im Finalen meiner Strophen.
Eine Abstinenz ist eine Abwesenheit. Der Schlund der Abstinenzen stellt eine Metapher da, einer Abwesenheit in Gedanken. Also ist mit Vers eins schlicht und ergreifend die "Vergessenheit" gemeint...
Das lyrische Ich möchte also nicht vergessen werden. Viel Raum zum Interpretieren. Ein Beispielhafter Ansatz ohne Belege (die der Text an dieser Stelle auch nirgends bieten kann/soll):
Das lyrische Ich hat vielleicht Angst vor dem Vergessen werden, weil es bisher so stark in Rästeln gesprochen hat und der Mensch dazu neigt zu verdrängen, was er nicht versteht. Vielleicht ist das lyrische Ich auch nur zu selbstverliebt.
Aufjedenfall spricht der zweite Vers dann davon, dass das lyrische Ich, um dies zu unterbinden, doch lieber mal die Wahrheit beim Namen nennen möchte.
Das untermauert auch wieder die Eigenschaft "Trotz" des Melancholiker. Unterm Strich hat der Text bisher sehr viel über das Lebensgefühl als "Melancholiker" erzählt und versucht zu verstehen zu geben, wie es sich so leben lässt und was damit einher geht.
Taufte man mich unter einem Banner dunkler Galle
auch als letzten aller schwarzen Philosophen.
Hier wird wirklich jeder Zweifel im ersten Vers aus dem Weg geräumt, dass sich das lyrische Ich als Melancholiker ansieht. Es wurde sinnbildlich mit einem Schild geboren, auf dem dunkle (schwarze) Galle steht.
Außerdem ist im zweiten Vers die Rede davon, dass das lyrische Ich als letzter Philosoph auf Erden getauft wurde. Es keinen mehr nach ihm geben wird. Dass die Seele des Philosophen dem Melancholiker vorbehalten ist und das ganze als Privileg anzusehen ist. Quasi als die oberste Stufe des "Menschseins".
Und in Strophe eins wurde ja bereits erwähnt, dass es im Land (oder in der Welt) sonst keine Melancholiker mehr gibt.
Also ist das lyrische Ich wirklich der letzte Philosoph der Welt. Das "schwarz" unterstreicht nur noch einmal den zwanghaften Zusammenhang zwischen "schwarzer Galle" und "Philosoph".
Nachtrag: Was die "scharfe" Kritik an der Bevölkerung angeht, so ist "scharf" ebenfalls eine Eigenschaft, die dem Melancholiker zugeordnet ist, wenn auch auf geschmacklicher Ebene.