Moin Holger,
ich finde da sprachlich und handwerklich durchaus einiges, das mir gut gefällt.
Die Überschrift hat mich angelockt, die macht atmosphärisch direkt was.
Der Einstieg mit dem direkt sehr bruchstückhaften Satz ist dann aber etwas holprig,
das ist auch ganz besonders betont (im wahrsten Sinne des Wortes) durch Vers 2, dazu aber gleich noch mehr.
Sprachlich kratzt du immer wieder mal am Pathetischen und gefühlt ist das oft gar nicht so nötig,
lassen sich solche metrischen Füllsel wie "ach", "steiget", "O", "leuchtend" doch auch ganz gut vermeiden.
Wenn der Pathos nun genau dein Ziel war, dann ist das so, das ist dir gelungen, aber ich finde er überschmiert die sprachlichen und emotionalen Möglichkeiten deines Textes.
Nun aber erstmal zum Handwerklichen:
Geflohn, zu fad erbrachtem Glück,
fern - ferner schon als Horizonte,
unrettbar, flehend, ach zurück, zurück,
wo alles offen war und werden konnte !
Metrum und Reim:
xXxXxXxA
XXxXxXxBb
xXxXxXxAxA
xXxXxXxXxBb
Metrisch auffällig ist der schon angesprochene Vers 2, denn "fern" kann alleine schon wegen der direkten Wiederholung vom betonten "ferner" nicht schwach daneben stehen.
Lösen ließe sich das, wenn du statt "fern" z.B. "viel" nutzt.
"Viel ferner" hat auch einen steigernden Effekt - den du durch "fern - ferner" mit der klimaktischen Nutzung von Positiv und Komparativ hier erreichen wolltest, nehme ich an.
Ich verstehe aber auch, wenn dir die Nutzung von Positiv und Komparativ besser gefällt - mag das an sich auch gern.
Aber passt dann eben metrisch nicht so sauber^^
Ansonsten hast du dich hier entschieden, den jeweils folgenden Reimvers um einen Versfuß zu verlängern, das finde ich erstmal passend und konsequent, quasi als klimaktische Vorbereitung für Strophe 3, die ja auch mehr Versfüße hat, allerdings mit Blick auf Strophe 2 auch wieder inkonsequent.
Sprache und Stil:
Ich hatte den bruchstückhaften Satz schon angesprochen.
Nicht nur, weil es viele Einschübe und damit Kommata als Zwangspausen gibt.
Übrigens, das Komma hinter "geflohn" passt da für mich inhaltlich nicht:
"(er/sie/es/ich ist/bin) geflohen zu fad erbrachtem Glück" - also "er flieht zum Glück"
hat eine ganz andere Bedeutung als "er flieht, zum Glück".
In diese Richtung wolltest du sicher nicht^^
Hinter "ach" wiederum, müsste ein Komma, das ist eine Interjektion, die du da eingeschoben hast.
Bruchstückhaft ist der Satz für mich außerdem, weil wie ein Bruchstück der Handelnde hier herausgefallen ist.
Du vermeidest in der gesamten Strophe zu benennen, wer oder was geflohen ist und das kommt irgendwie komisch rüber.
Stilistisch bin ich hier ansonsten glücklich, der oben angesprochene Pathos war hier noch nicht so präsent.
Schon steiget Frost in die Gebeine,
klirrt Schneeluft in geballtem Hohn -
treibt durch das groß gewollt Alleine
und Todeskrähen kreisen schon !
Metrum und Reim:
xXxXxXxCc
xXxXxXxD
xXxXxXxCc
xXxXxXxD
Metrisch hier wieder fließender.
Man kann hier wieder anführen dass Wörter wie "schon" (gerade auch weil später noch Reimwort), "klirrt" und "treibt" durchaus eine starke Eigenbetonung haben, aber anders als bei "fern ferner" wo eben dasselbe Wort mal unbetont und mal betont sein sollte, können hier die entsprechenden Nachbarn klanglich noch dominieren!
Allerdings schade, dass du hier nun darauf verzichtet hast V3 und V4 jeweils um einen Versfuß zu verlängern, wie schon in S1 durchgeführt.
Die Reime sind sauber, aber "Hohn" also auch "Alleine" kommen wieder recht gesucht rüber, dazu gleich aber noch was.
Sprache und Stil:
"steiget" ist extrem pathetisch und soll dabei gefühlt nur als metrisches Füllsel dienen.
Vorschlag, wenn der Pathos nicht das Ziel ist, was spricht gegen:
"Schon steigt der Frost in die Gebeine"
"Hohn" mag ich nicht. Das ist so abstrakt, inhaltlich überhaupt nicht greifbar.
Ich fände es in einem lyrischen Text spannender dieses abstrakte Konzept eben durch Umschreibungen, sprachliche Bilder etc. deutlich zu machen und es nicht einfach so roh hier aufzutischen.
Stilistisch schwierig und auch wieder dem Metrum und Reim geschuldet finde ich "das groß gewollt Alleine".
Es ist das "gewollte...", nicht das "gewollt'", das macht für mich den Begriff nicht schöner, wenn hier eine rein metrisch motivierte Elision das Wort massakriert.
Unglücklich, dass daran dann mit dem Alleine die nächste Auffälligkeit in den Fokus rückt.
Ich finde die Substantivierung hier mindestens ungewöhnlich.
Wenn substantivisch, dann ist es doch eher das Alleinesein - passt aber natürlich nicht in den Reim.
Ich würde den gesamten Vers umstellen, um mich beider Probleme zu entledigen, dass aber kein Handelnder benannt ist, macht es hier auch sehr schwierig "alleine" zu nutzen, da das ja üblicherweise an jemanden gebunden ist, der das erlebt.
Vorschlag - auch mit den angesprochenen Silben mehr:
"kaum Wille mehr, die Kälte treibt alleine"
Mit den "Todeskrähen" wird mir das zu schauermärchenhaft.
Wir wissen ja, was kreisende Krähen bildlich bedeuten, ich finde nicht, dass das mit "Todes-" noch weiter verstärkt werden muss.
Wenn du also das aussparst und dann in diesem Vers wieder zwei Silben mehr verwendetest, gibt es gleich so viel mehr inhaltlichen Spielraum.
Idee:
"und wie Gedanken kreisen Krähen schon."
O, glücklich sei, wer trotzgestärkt geblieben -
in sich versunken, an dem leuchtend Weiher.
Dort draußen Eiskristalle schneidend stieben;
enthoben, frei, entschwebet hoch ein Reiher.
Metrum und Reim:
xXxXxXxXxEe
xXxXxXxXxFf
xXxXxXxXxEe
xXxXxXxXxFf
Metrisch schön klar alles, allerdings "entschwebet" wieder als Füllsel verlängert und "leuchtend" dafür verkürzt.
Weiher-Reiher ist ein Klassiker, aber das muss nicht verkehrt sein, wenn es inhaltlich und bildlich passt.
Für den Reim ist die Satzstellung etwas gedehnt worden bei "stieben", geht aber durch eine kleine Umstellung auch anders, dazu gleich.
Sprache und Stil:
das "O" hab ich früher auch benutzt, bei richtig schon hochtrabenden Texten.
Wenn das dein Ding ist, dann lassen wir das mal so, aber ich finde das macht Texte künstlich alt, nicht künstlerisch alt^^
Ansprechender fände ich zum Beispiel einen Einstieg mit "Und" - um die Dopplung mit dem Vers davor zu vermeiden könnte dort dann einfach "die Todeskrähen" einleiten, bzw. nach meinem Vorschlag: "die Krähen kreisen wie Gedanken schon".
Ansonsten stört in diesem Vers auch die Ellipse, das ausgelassene "ist" am Ende.
Wenn die Ellipse immer nur eingesetzt wird, um Reime zu ermöglichen reicht mir das stilistisch nicht, ich find das einfach auch nicht schön.
Vorschlag:
"Und trotzgestärkt sind Wenige geblieben"
Die Verkürzung bei "leuchtend" würde mit irgendeinem anderen passenden Attribut umgehen.
Ideen:
"in sich versunken, dort, am Lichterweiher"
"in sich versunken, dort, am Schillerweiher"
"in sich versunken, dort, am kleinen Weiher"
"in sich versunken, dort, am klaren Weiher"
"in sich versunken, dort, am hellen Weiher"
Mit dem nun hier schon eingebrachten "dort" lösen wir auch gleich ein Problem im nächsten Vers, wo wir wieder eine Inversion haben, und die Satzteile für den Reim unschön verschoben wurden. (Abgesehen davon ist "draußen" auch sehr obsolet, wo sonst^^)
Vorschlag:
"wo Eiskristalle unerbittlich stieben" (oder statt unerbittlich "peitschend schneidend"?)
Anknüpfend an den letzten Vers, in dem "entschwebet" wieder nur für das Metrum künstlich verlängert wurde.
Bezugnehmend auf meine Vorschläge fügt sich nun folgendes hier ganz gut an:
"entschwebt nach oben, frei, ein Silberreiher."
Warum finde ich das passend, dem Reiher hier noch ein Attribut zu geben?
Weil das die Verbindung zum leuchtenden, schillernden Weiher noch verstärkt.
Der Weiher als Belohung für Geduld und Durchhalten - auch dafür steht der Reiher symbolisch ja:
Dann können beide auch durch ähnliche Attribute verbunden sein.
Insgesamt mit allen meinen Ideen und Vorschlägen konnte der Text also so aussehen:
Gefloh'n zu fad erbrachtem Glück,
viel ferner schon als Horizonte,
unrettbar, flehend, ach, zurück, zurück,
wo alles offen war und werden konnte!
Schon steigt der Frost in die Gebeine,
klirrt Schneeluft in geballtem Hohn:
Kaum Wille mehr, die Kälte treibt alleine,
die Krähen kreisen wie Gedanken schon!
Und trotzgestärkt sind Wenige geblieben -
in sich versunken, dort, am Schillerweiher,
wo Eiskristalle unerbittlich stieben,
entschwebt nach oben, frei, ein Silberreiher.
Damit ist natürlich immer noch nicht alles "perfekt" (Beispiel "Hohn"),
aber in sich vielleicht konsistenter und bildlich etwas aufgeräumter.
Ich find's so eigentlich ganz cool (höhö, Wortwitz).
Inhaltlich gefällt mir der Text auf jeden Fall, sonst hätte ich mir die Mühe nun auch gar nicht so gemacht!
Das Bild des Reihers ist hier sehr passend für diejenigen, die allen Widrigkeiten zum Trotz das Neue gesucht haben und vor den Schwierigkeiten nicht zurück zum Bekannten geflohen sind.
Ich seh den Reiher vielleicht aber auch in etwas betrüblicherer Interpretation als Seele derer, die da im Eissturm umgekommen sind und nun endlich frei in den Himmel ziehen können.
Diese doppelte Deutungsmöglichkeit gefällt mir (und dazu passt auch der Silberreiher vielleicht nochmal mehr, weil der rein namentlich nochmal einen mystischeren Touch hat).
Gern gelesen und damit beschäftigt!
LG Christian