Carolus
Autor
Hommage für einen alten Apfelbaum
An steilem Hange harrte er schon lange aus,
geneigt, dem Wiesengrund entgegen.
Hinreichend Leben trug er in sich.
Früh begannen mehr und mehr
Äste und Zweige sich zu regen,
strebten zur Höhe, dem Licht entgegen,
hielten dem Stamm das Gleichgewicht.
Jeden Frühling wuchs er
in einem Kleide zartweißer Blütenblätter
zu einem Wundertraum von Apfelbaum,
entzückte im Herbst mit Rotbackigen
voller Süße. Doch man beachtete ihn kaum.
Jetzt, im Herbst, nach Jahrzehnten ragen
seine verdorrten, vermoosten, von Flechten
überzognen Glieder wie klagend in den Himmel.
Gebrochen, abgerissen mancher Ast,
das Holz mit offenen Wunden.
Ringsum ein blätterfarbiger Ehrenteppich
für ein Leben des Wachsens und Gedeihens,
des Widerstandes wie des Überwindens
von Hindernissen, auch des Verzeihens.
Nun wartet er auf seine letzte Stunde,
wenn ein machtvolle Sturm
ihn samt Wurzeln aus seinem Erdreich reißt.
Braucht es mehr, um Leben zu verstehen?
(„Carolus“ in „poeten.de“)