Lieber Freund,
die erwähnte Kneipe hörte schon vor Jahren auf, zu existieren. Es war sehr klein, wie ein Wohnzimmer, jetzt ist es ein schickimicki Bistro.
Ich kenne so viele Menschen, die dort verkehrten und mittlerweile gestorben sind, dass man mit denen das Lokal füllen könnte.
Ich kann unmöglich alle Menschen zählen, die ich kannte, und nicht mehr bei uns weilen.
Schon seit Jahren führe ich das Leben eines Gelehrten. In früheren Zeiten wäre ich sogar gerne ein Mönch gewesen, Hauptsache soviel Zeit wie möglich mit Lesen, Lernen, Schreiben verbringen.
Mit wenigen Ausnahmen, meine einzige Verbindung mit der Welt ist dieses Gerät.
In dieser Hinsicht spukt seit einiger Zeit der Gedanke, inwiefern dieses moderne Medium unser Leben verändert. Früher gab es Menschen, die verreist waren, und von denen man ("man" steht nicht für Mann sondern für "Mensch") nur sporadisch, ab und an, durch Briefe, Telefonate, Telegramme, in Verbindung stand. Von manchen wusste man Jahre lang nichts, manche verschwanden für immer.
Ein Bruder von mir schickt mir aus Ecuador jeden Tag Videos, Fotos, Artikel über alles mögliche, Gesundheit, Politik, ALLES! Er ist besser über Deutschland informiert als ich.
Eine Tochter von ihm heiratet demnächst, ist dabei, für eine Rede bei der Hochzeit zu üben, schickt mir akustische Proben von seiner Rede... Er ist mehr in Kontakt mit mir als mit einem anderen Bruder, der in derselben Stadt wie er wohnt!
Unlängst machte er einen Familienausflug zu einer anderen Stadt: Während der Fahrt schickte er mit alle paar Minuten Bilder und Kommentare darüber. Ich dachte, ich fühlte, ich bin dabei, als unsichtbarer Mitreisender.
Und das gilt für alle Ecken der heutigen Welt.
Das Virtuelle ist im Begriff, das reale Leben zu verdrängen.
Was meinst du darüber?