Wenn ich Jenno Casali richtig verstanden habe (und wozu ich Beifall geklatscht habe), waren die Worte
Poesie ist zwar dichtes Brombeergestrüpp,
aber Apollo auch nur Gott der Lyrik
und keine Decodierungssoftware
Für mich hieß das: Rätselhaftigkeit und Unverständlichkeit sind noch kein Qualitätsmerkmal. Den Leser zu fordern ist kein Selbstzweck und kein Sport, ihn zu Überfordern keine Erziehung zur Bildung. Und Verschwurbelung, das Zusammensetzen scheinbar gewichtiger tiefer Worte wie Freiheit, Tod, Liebe, womöglich in seltsamen Zusammenhängen, das Einstreuen von Fremdworten, die nicht jeder kennt, , das allein ist noch keine Kunst. Auch das Befolgen der Gesetze der Metrik, Rhythmik und der äußeren Form allein machen noch keine gute oder schöne Lyrik.
Und nicht alles, was sprachlich "schön" klingt ist ja zwingend verschnörkelt oder romantisch. Ich würde z.B. an den folgenden beiden Texten kein einziges Wort vermissen wollen. Und ich halte sie auch nicht für künstlich geheimnisvoll.
Der Panther
Im Jardin des Plantes, Paris
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein.
Rainer Maria Rilke, 6.11.1902, Paris
Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn
Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn?
Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen!
Dort stehn die Prokuristen stolz und kühn
in den Büros, als wären es Kasernen.
Dort wachsen unterm Schlips Gefreitenknöpfe.
Und unsichtbare Helme trägt man dort.
Gesichter hat man dort, doch keine Köpfe.
Und wer zu Bett geht, pflanzt sich auch schon fort!
Wenn dort ein Vorgesetzter etwas will
- und es ist sein Beruf etwas zu wollen -
steht der Verstand erst stramm und zweitens still.
Die Augen rechts! Und mit dem Rückgrat rollen!
Die Kinder kommen dort mit kleinen Sporen
und mit gezognem Scheitel auf die Welt.
Dort wird man nicht als Zivilist geboren.
Dort wird befördert, wer die Schnauze hält.
Kennst Du das Land? Es könnte glücklich sein.
Es könnte glücklich sein und glücklich machen?
Dort gibt es Äcker, Kohle, Stahl und Stein
und Fleiß und Kraft und andre schöne Sachen.
Selbst Geist und Güte gibt's dort dann und wann!
Und wahres Heldentum. Doch nicht bei vielen.
Dort steckt ein Kind in jedem zweiten Mann.
Das will mit Bleisoldaten spielen.
Dort reift die Freiheit nicht. Dort bleibt sie grün.
Was man auch baut - es werden stets Kasernen.
Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn?
Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen!
Erich Kästner; Umdichtung von Goethes Mignon ("Kennst Du das Land, wo die Zitronen blüh'n")
Mein Beitrag
Ruedi