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Textarbeit erwünscht Kopfhörer

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Kopfhörer ist auch auf YouTube als Hörbuch verfügbar Du kannst es dir hier anhören: https://youtu.be/xwAK4R4FO0I
Ich hatte nie gewusst, wie viele Leute morgens aus den Betten stiegen und zur Arbeit fuhren. Lauter Hurensöhne und Fotzen in ihren erbärmlichen Dreckskarren mit ihrem erbärmlichen Job und ihrem scheiß Leben.
Ich rauchte einen ganzen Knasthofgang, starrte durch das schmutzige Glas nach draußen. „Du solltest hier nicht rauchen, Diego“, hörte ich Sebastian hinter mir sagen. Er kam näher zu mir. „Was ist los? Du stinkst. Alkohol. Zigaretten.“ Ich sagte erst einmal nichts, drehte mich nicht um. „Du solltest duschen. Ein wenig schlafen. Du musst später arbeiten.“ „Ich hab meinen Job verloren.“ „Was?“ „Ja“, sagte ich tonlos und starrte weiter nach draußen. „Wie sollen wir die Miete bezahlen?“ „Ich hab noch ein paar Monatsmieten in der Hinterhand.“ „Wie viele?“ „Drei. Bis dahin find ich schon was.“ Ich hatte keine Ahnung, ob ich was finden würde, aber ich wollte, dass er nicht schlecht über mich dachte und vor allem, dass er endlich Ruhe gab. Ich zog an der Zigarette. Mein Freund schob mir einen Aschenbecher hin. „Was ist dein Plan?“ „Kein Plan.“ „Du solltest doch bald irgendetwas finden.“ „Natürlich.“ Nichts natürlich. Es war keine gute Zeit – jeder verlor in dieser Branche gerade seinen Job. Die Arbeit als Journalist im Gamingbereich war kein wirklich einträgliches Geschäft mehr; vor allem nicht im Printbereich. „Ich brauch einfach Zeit, um mich neu aufzustellen“, fügte ich hinzu. „Bis dahin?“
„Ein paar Gelegenheitsjobs, sowas. Vielleicht arbeitest du auch eine Zeit lang.“ „Ich arbeite.“ Diese Diskussion wieder. Ich hatte wirklich keine Lust darauf. „Es bringt kein Geld ein.“ „Das Projekt erfordert meine ganze Konzentration.“ Er machte eine kurze Pause und sagte dann: „Du verstehst das nicht.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich bitte dich einfach darum, dass du ein paar Tage richtig arbeitest. Ein, zwei Monate, sonst nichts.“ „Ich arbeite“, wiederholte Sebastian mit Nachdruck. „Du schmierst Farbe auf irgendwelche Leinwände und planst wie du sie in einem Raum aufhängst und ...“ Ich hielt inne. Mehr war es doch gar nicht. „Das ist keine Arbeit.“ „Du hast das nie verstanden. Nie. Du hättest mir gleich sagen sollen, dass du mich und das was ich tue nicht wertschätzt. Kommst nach Hause, hast deine Arbeit verloren und greifst mich an.“ Er war wirklich wütend; seine Stimme zitterte, aber laut wurde er nicht. „Geh. Bitte geh einfach.“
Ich drehte mich um, sah in sein Gesicht, sagte nichts, griff meine Laptoptasche und ging. Die Zigarette warf ich einfach auf den Boden und schlug die Tür hinter mir zu.
Ich lief zur nächsten Bushaltestelle und fuhr mit dem nächsten Bus einfach los. Den Kopf freibekommen. Einige Zeit saß ich nur da, sah nach draußen. Straße um Straße. In der Innenstadt stieg ich aus und setzte mich in den Außenbereich des nächsten Cafés. Kurz darauf kam eine Kellnerin zu mir: „Was kann ich Ihnen bringen?“ „Einen Cappuccino bitte“, sagte ich. Kurz darauf brachte sie mir die Tasse. Ich rauchte.
Genug Trübsal geblasen. Es musste ein Plan her. Phönix aus der Asche Style. Das war kein Verlust, das war die Chance etwas neues zu beginnen. Ein Job, der gerade mal meine Miete gezahlt hatte. Eine Beziehung, die seit Jahren herumkrebste. Das letzte Mal, dass wir richtig gefickt hatten, war auch Monate her. Irgendwie war alles zerflossen in einem Alltag, der keinen Sinn für mich machte.
Die Leute wollten mich nicht. Und das würden sie bereuen.
Ich packte meinen Laptop aus und suchte nach möglichen Jobs. Nach zwanzig Minuten hatte ich noch nichts gefunden, was mich wirklich packte. Aber ich wusste, dass das auch nicht von heute auf morgen ging. Vor der Arbeit brauchte ich erst einmal eine neue Unterkunft. Irgendwas übergangsweise. Zu meiner Mutter konnte ich nicht zurückkriechen; seit ich mich geoutet hatte, war das Verhältnis gelinde gesagt angespannt.
Ich scrollte durch meine Kontakte und fing an Leute anzurufen. Arbeitskollegen. Mit Pascal war ich immer gut gewesen. Wir hatten häufig mal zusammen einen getrunken. „Hey Pascal.“ „Hallo Diego, du ich hab das mitbekommen mit der Kündigung. Ist alles ok?“ „Ja, ich stell mich schon wieder auf. Stehaufmännchen, nie unterzukriegen.“ „Nie unterzukriegen“, wiederholte Pascal. „Also, was ist los?“ Ich erklärte ihm, dass ich nur ein paar Nächte bei ihm unterkommen wollte. „Momentan geht das gar nicht, tut mir leid.“ „Warum, was ist los?“ „Meine Frau ist schwanger und dreht am Rad. Das geht nicht. Sie würde komplett austicken“ Er hatte eine Frau? Die schwanger war? Warum wusste ich das nicht? „Ok“, sagte ich. „Trotzdem danke.“ „Sorry man; du kommst schon irgendwo unter.“
Ich verabschiedete mich und rief den nächsten an. Alex. „Tut mir leid, mein Vermieter ist ein richtiges Arschloch, ich darf hier niemanden unterbringen. Tut mir echt leid.“ Der nächste. Irgendeine Ausrede. Noch einer. Noch einer. Noch einer.
Tolle Freunde hatte ich. Die Arbeitskollegen waren wohl auch nur das gewesen: Irgendwelche Kollegen, die sich einen Scheiß für mich interessierten. Ich rief alte Studienfreunde an, aber auch hier hatte ich keine Chance. Einer erinnerte sich nicht einmal an mich. 26 Leute hatte ich angerufen und bei allen ging es nicht. Überall gab es irgendein Problem, was auf jeden Fall verhinderte, dass ich dort blieb. Ich hatte einmal verloren und jetzt schien jedes Arschloch noch einmal nachtreten zu wollen.
Ein paar Nächte könnte ich sicher in einem Hotel übernachten, aber eben nur ein paar Nächte. In nicht einmal einer Woche würde ich zu Sebastian zurückkriechen müssen, wenn ich nichts finden würde. Selbst wenn ich bis dahin eine Arbeit hätte, würde das nicht funktionieren. Das erste Gehalt würde ich ja erst am Monatsanfang bekommen.
Ich scrollte abermals durch meine Kontakte, rief sogar bei Leuten an, von denen ich wusste, dass es nicht klappen würde. Und dann blieb ich hängen bei Dieter. Dieter war einer dieser Menschen, mit denen man sicher mal arbeiten kann, aber privat nichts zu tun haben will. Ein langweiliger Spießer, dessen Sozialkompetenz von einer Kartoffel geschlagen wurde. Die ranzige Mischung aus Vorstadtleben und Introvertiertheit vermutete ich. Er arbeitete in der Buchhaltung.
Aber er war vielleicht zu überreden. Ich zögerte noch einen Augenblick, doch dann rief ich ihn an. „Hallo?“ „Dieter, ich bin's Diego.“ „Oh, wie geht’s dir? Hab das mitbekommen mit … du weißt schon. Wie geht’s dir?“ Die Nachricht meiner Kündigung hatte sich anscheinend innerhalb von Sekunden herumgesprochen. „Du, ich hab ein wenig Probleme Zuhause. Mit Sebastian.“ „Sebastian?“ „Mein Verlobter.“ „Du bist schwul?“, fragte er und in seiner Stimme drang etwas Verwirrtheit durch. „Ja, du hast doch kein Problem damit, oder?“ „Nein, nein.“ „Also, ich müsste ein paar Tage bei dir unterkommen, bis ich mich wieder aufgestellt hab.“ „Diego. Meine Wohnung ist nicht sehr groß. Ich würde eigentlich ungern ...“ „Dieter. Du bist wirklich meine letzte Hoffnung. Ich bin nur ein paar Tage bei dir. Du weißt doch, dass ich dasselbe für dich tun würde.“ „Ja, schon, aber...“ „Dieter, danke. Wirklich.“ „Ok“, murmelte er. „Wie lange?“ „Nur ein paar Nächte. Wo wohnst du genau?“ Er diktierte mir die Adresse. Wir verabschiedeten uns. Es war noch früh und ich konnte die restliche Zeit nutzen, um an meiner Zukunft zu arbeiten. Ich blieb noch etwas im Café, suchte nach einer Stelle oder irgendeiner Möglichkeit um Geld zu machen. Nach einer weiteren Stunde stand ich auf und ging in das nächste Kleidergeschäft.
Neue Hose, neues Hemd und ein paar andere Kleidungsstücke. Im Schuhgeschäft eine Straße weiter noch neue Herrenschuhe. Neu aufstellen. Ich betrachtete mich in einem Ganzkörperspiegel, der in der Umkleidekabine hing. Der Blick in die Zukunft. So und nicht anders.
Ich suchte weiter mit dem Laptop in einem Park nach Verdienstmöglichkeiten; sah mir Blogs, Ebookmarketing und Freelancerjobs an. Ich meldete mich auf mehreren Seiten an und bewarb mich für einen kleinen Auftrag als Korrektor. Es war ein mieser Job und mehr als dreißig Euro waren nicht drin, aber ein Anfang war ein Anfang. Ein Schritt in die richtige Richtung. Ich hatte viel zu lange auf mein Angestelltenverhältnis vertraut. Ich bewarb mich noch auf weitere kleine Jobs und sah mich nach Arbeit im Redaktionsbereich um; da hatte ich zumindest schon Referenzen.
Vielleicht gab es irgendwo doch ein Magazin, dass noch Leute suchte. Ich war nie auf die Idee gekommen, dass ich irgendwann meinen Job verlieren könnte, obwohl die Stimmung seit Wochen angespannt war. Es war immer das gleiche. Das Quartal lief schlecht, ein großes Magazin kündigt erste Mitarbeiter, die kleineren ziehen nach. Aber das es mich treffen könnte, war mir nie in den Sinn gekommen.
Ich war nicht der Einzige. Laura und der Dicke, dessen Namen ich schlichtweg vergessen hatte, hatten auch gehen müssen, aber trotzdem fühlte es sich an, als wäre ich der Einzige gewesen. Es war unverdient. Ich hatte immer gute Arbeit geleistet. Sebastian war auch nicht besser! Dass er mich nach all den Jahren rauswarf, war unglaublich.
Aber das waren Energievampire. Ich hatte besseres verdient und würde jetzt an meinem Traum arbeiten, auch wenn mir noch nicht ganz klar, wovon ich träumte.
Ich schrieb Dieter noch eine SMS, wann ich ungefähr aufkreuzen sollte. Gegen 16 Uhr, schrieb er zurück. Ich machte mich um 15 Uhr auf den Weg; eine App zeigte mir welche Busse ich nehmen musste.
Es war ein Reihenhausidyll mit Hintergärten. Die Menschen, die mir entgegen kamen, sahen alle übermäßig anständig aus. Nummer 12 war es. Vier Klingelschilder gab es, vor dem Haus ein einzelner Stellplatz für ein Auto. Es war Viertel vor vier und ich war mir sicher, dass er überpünktlich sein würde. Ich fragte mich, ob er mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fuhr oder mit einem Auto.
Er kam mit einem Fahrrad. Das hätte ich nicht einmal von Dieter erwartet. Er hielt neben mir, stieg ab und nahm den Helm ab, sah mich an und begrüßte mich. „Hey“, sagte ich knapp. Mit einigen Handgriffen machte er das Fahrrad an einem Ständer fest, schloss es ab und fuhr sich durch die verschwitzten Haare. „Ich hab nicht aufgeräumt. Hab keinen Besuch erwartet.“ „Ist kein Problem.“ Er schloss die Haustür auf und wir stiegen die Stufen nach oben. Eine Frau kam uns entgegen. „Frau Bernhard, wie geht es ihnen?“, sagte Dieter zu ihr. Ich sagte nichts. „Gut, gut“, sagte die Frau und hielt auf der Treppe an. „Ist das Ihr Freund?“ „Ein Freund von der Arbeit“, sagte Dieter und dann war er kurz irritiert. „Nein nicht mein Freund, nur ein Freund. Ich bin nicht so einer. Er schon, aber ich nicht, ich ...“ Er stotterte etwas. Mir war die Situation mehr als peinlich. „Ich muss einkaufen, Dieter, kannst du mir später noch helfen bei den Getränkekisten?“ „Natürlich Frau Bernhard.“ „Dann euch einen schönen Tag noch.“ Frau Bernhard ging nach unten und wir weiter nach oben. Als wir ganz oben angelangt waren, hörte man von draußen ein Motorengeräusch. Dieter suchte nach seinem Schlüssel und schloss dann auf. „Wie gesagt – ist nicht so aufgeräumt“, sagte er bevor er die Tür aufschob. „Das ist schon in Ordnung.“ Ich trat in einen quadratischen Raum. Links waren zwei Türen, rechts zwei Türen. Vor uns eine Fensterfront, vor der direkt die Krone eines Apfelbaumes war. „Hoffentlich wird der Baum bald gefällt“, sagte Dieter. Er legte seinen Helm auf eine Kommode vor dem Fenster und führte mich durch die Wohnung. Zuerst die Tür rechts vorne. „Das ist die Küche.“ Ein rechteckiger Raum mit einer gut ausgestatteten Einbauküche und einem kleinen Tisch. Dann gingen wir zu der Tür rechts hinten. „Das ist mein Schlafzimmer“, sagte er. Ich wusste nicht, warum er mir sein Schlafzimmer zeigte. Ich würde doch nicht mit ihm in einem Bett schlafen, oder? Der Gedanke war mehr als unangenehm. Neben dem Bett gab es noch eine Stereoanlage, eine Kommode und einen Kleiderschrank. Simpel eingerichtet. Wir verließen den Raum zu der Tür gegenüber. „Das ist das Bad.“ Dusche, Badewanne, Toilette, Waschbecken, Waschmaschine, Spiegelschrank, Milchglasfenster. Dann kamen wir zu der letzten Tür. „Das ist das Wohnzimmer. Da wirst du auch schlafen. Ich hab eine ausklappbare Couch.“ Ein großes Sofa, ein Flachbildfernseher und ein Regal mit Schneekugeln. „Das ist meine Schneekugelsammlung“, sagte er, schritt darauf zu und holte eine heraus. „Die ist aus Brasilien.“ „Es gibt in Brasilien Schneekugeln?“ „Es gibt überall Schneekugeln. Willst du sie mal anfassen? Ist ein ganz besonderes Stück; hab es aus einem Kunstladen bekommen.“ Er drückte mir die Schneekugel in die Hand. Im Inneren sah man eine Bananenplantage. Ich schüttelte sie. „Nicht schütteln“, sagte Dieter entgeistert. „Macht man das nicht mit Schneekugeln?“ Er nahm sie mir aus der Hand und stellte sie zurück zu den anderen. „Nicht mit diesen Sammlerobjekten.“ Ich hatte das Gefühl, dass er erwartete, dass ich mich entschuldigen würde, aber ich sagte nichts. Was für ein ranziges Hobby.
Ich hatte keine Lust mich weiter mit ihm zu unterhalten. „Wo kann ich meinen Laptop aufbauen?“ „Hier am Wohnzimmertisch.“ Ich nickte, packte meinen Laptop aus, schloss ihn an. „Danke“, sagte ich, schaltete ihn ein. „Ich hol dir eine Decke“, sagte Dieter und verließ den Raum. Der Tag verstrich mit den ersten Absagen zu meinen Freelancertätigkeiten.
Ich war froh, als Dieter endlich schlafen ging. Ständig kam er in das Wohnzimmer, suchte nach irgendeiner Sache und ich hatte stetig das Gefühl, beobachtet zu werden. Es ärgerte mich, dass ich am Ende des Tages nur einen einzigen Korrekturauftrag bekommen hatte. Knapp 50 Seiten für nicht einmal 30 Euro.
Irgendeine Abhandlung über ein philosophisches Thema, dass ich kaum verstand. Irgendwann um vier Uhr legte ich mich auf die Couch. Es war kein guter Start in die Zukunft, aber es würde schon werden, da war ich mir sicher.
Als ich wieder aufwachte, war es längst früher Nachmittag. In knapp zwei Stunden würde Dieter zurückkommen. Ich machte meine Arbeit fertig, schickte sie zurück und hoffte auf eine baldige Bezahlung. Um Punkt 16 Uhr kam Dieter durch die Tür reingeschneit. Ich hörte wie er seinen Fahrradhelm auf die Kommode legte. Er kam kurz darauf ins Wohnzimmer. „Schon Arbeit gefunden?“, fragte er. „Nur Kleinigkeiten. Das dauert etwas.“ „Wie lang glaubst du, wirst du hier bleiben? Die Nachbarn denken schon, das wir …“ Er sprach den Satz nicht aus. „Was meinst du?“ Er schüttelte den Kopf. „Egal. Wie lange glaubst du?“ „Ich beeile mich. Keine Sorge“, sagte ich übermäßig freundlich. Wenn er jetzt schon so war, wollte ich gar nicht wissen, wie er sich morgen oder übermorgen verhalten würde. Ich ging kurz nach draußen auf die Straße, um eine zu rauchen, kam aber bald darauf wieder zurück und klingelte.
Oben stellte ich einen Lebenslauf zusammen und bewarb mich bei mehreren offenen Journalistenstellen. Vielleicht würde ich ja doch etwas finden. Aber gleichzeitig suchte ich nach besseren Aufträgen, für meine freiberufliche Tätigkeit. Ich wollte wirklich endlich etwas reißen, mehr schaffen.
Diesmal ging ich früher schlafen, kurz nachdem Dieter in sein Schlafzimmer verschwunden war. Ich würde mehr Zeit haben, wenn er nicht da wäre. Ich überlegte einfach in der Zeit zu schlafen, wenn er wach war, dass wäre für uns beide sicher am erträglichsten. Aber dann wäre es mir absolut unmöglich das Haus zu verlassen, weil er mir keinen Schlüssel gab und ich keine Ahnung hatte, wo sein Schlüssel lag.
Es war 8 Uhr, als mein Handy laut anfing zu klingeln. Mein Exverlobter. Kam er endlich zu mir zurückgekrochen und gab mir das, was ich verdient hatte?
„Diego, hol dein Zeug ab, ich will es nicht sehen.“ „Ich hab noch keine eigene Wohnung.“ „Schaff deinen Müll heute raus und sonst steht er morgen früh vor der Tür.“ „Was ist los?“ „Es stört mich bei meiner Arbeit.“ „Du bist ein Arschloch“, sagte ich und legte auf.
Der Wichser setzte mir die Pistole auf die Brust und das passte mir überhaupt nicht. Ich würde nicht kommen. Er würde meinen Kram nicht wegschmeißen. Morgen würde ich kommen, damit er wusste, wo er stand. Er und seine dummen Regelungen. Bis zum Nachmittag arbeitete ich an zwei kleinen Aufträgen, die mir nicht einmal einen kompletten Einkauf bezahlen würden.
Als Dieter am Nachmittag zurückkam, fragte ich ihn, ob er ein Auto hätte. Irgendwie musste ich die Sachen ja herschaffen. „Nein, kein Auto. Der Umwelt zuliebe.“ Ich seufzte. „Warum fragst du?“ „Ich muss ein paar Sachen aus der Wohnung holen.“ „Du willst dein Zeug hierherholen?“ „Nur vorübergehend.“ „Diego, das ist keine gute Idee. Ich meine, keine Ahnung. Hast du mittlerweile eine Arbeit?“ „Ich hab ein paar kleinere Auträge.“ Er nickte. „Ich will nicht, dass alles zugestellt ist. Ein, zwei Sachen klar, kannst du den Rest nicht woanders hinbringen?“ „Nein Dieter. Ich weiß, dir gefällt das alles nicht, aber ich muss mich grad aus der Scheiße herauskämpfen. Und wenn es dir so gehen würde, würde ich das Gleiche für dich tun.“ Er nickte. „Okay“, sagte er trocken.
Jetzt musste ich nur noch wissen, wie ich das Zeug herholen würde. Ich scrollte durch mein Smartphone und überlegte jemanden anzurufen; aber nachdem sie mich schon bei einigen Nächten abgewimmelt hatten, wollte ich nicht noch einmal ankommen. Es war mir einfach zu peinlich.
Ich bestellte für morgen einen Mietwagen, der zwar schweineteuer war, aber das war es mir wert.
Am nächsten Morgen stand ich früh auf, um Dieter noch zu erwischen. „Kannst du mir deinen Schlüssel geben heute? Ich muss die Sachen abholen.“ Er schien überhaupt nicht begeistert zu sein, aber gab ihn mir schließlich, nachdem ich ihm dreimal versichern durfte, dass ich vor ihm zurückkommen würde.
Der Mietwagenverleih war eine knappe halbe Stunde entfernt und ein gelangweilter Mann drückte mir Papiere zum unterschreiben in die Hand und übergab mir dann den Schlüssel. „Bringen Sie den Wagen einfach um die gleiche Zeit wieder zurück.“ Es war ein altes Modell mit ein paar Kratzern an der Seite, aber es war das billigste Modell gewesen und mehr brauchte ich gerade nicht. Die Vorstellung meinen Exverlobten wiederzusehen, bereitete mir Unbehagen. Irgendwo hoffte ich, dass er sich entschuldigen würde. Dieter ging mir jetzt schon so auf den Sack, ich wollte nur noch weg.
Doch als ich in meine ehemalige Straße einbog, fegte ich alle Hoffnungen weg. Dieses Arschloch hatte meinen ganzen Kram vor die Haustür gestellt. Die Kartons waren wohl zugeklebt worden, aber nun aufgerissen. Ich hatte keine Lust mehr auf eine Versöhnung. Ich drückte noch einmal auf das Gas, weil ich sah, dass ein junger Mann sich die Sachen ansah. „Verschwinden Sie!“, sagte ich, während ich ausstieg und zu den Sachen ging. Meine Comicbücher waren alle weg. Alle. Die Erstausgabe von Mechanische Missgeburten, die Neuauflage des Bestiariums und die signierte Spezialausgabe von Gottkomplex. Alle weg. Sogar meine Quentin Figur. Ich ballte meine Fäuste. Dieser Hurensohn. Ich lud viele der anderen Sachen in den Mietwagen, aber alles was ich nicht mehr brauchte, stellte ich einfach vor den Hauseingang. Ich fuhr zurück und schleppte die Sachen in Dieters Wohnung. Ich wusste schon, was er sagen würde:
„Musste das so viel sein?“ Dieter sah über die rund zehn Kartons. „Ich hab es auf's Wichtigste reduziert.“ Dieter nickte genervt. „Was ist mit Arbeit, schon was gefunden?“ Halt's Maul wollte ich sagen, halt dein verficktes Maul, aber ich lächelte nur und sagte: „Habe einige Bewerbungen geschrieben.“ „Schon was zurück?“ „Noch nicht.“ Als würde das innerhalb von zwei Tagen erledigt sein. Was stellte er sich vor? Zumindest ließ er mich den restlichen Tag in Ruhe.
Ich suchte in den Kartons abends nach meinen Kopfhörern, damit ich endlich wieder Musik hören könnte und die Goamusik, die Dieter ständig laufen ließ, übertönen könnte.
In den Kartons fand ich nicht meine In-Ear-Kopfhörer, aber ein paar kabelloser Kopfhörer, zusammen mit einer Station. Dazu einen Mikroanstecker durch den wahrscheinlich das Funksignal übertragen wurde.
Ich wusste nicht, woher diese Kopfhörer kamen. Ich hatte nie kabellose gekauft, weil ich immer überzeugt gewesen war, dass sie den Klang verzerrten, aber es war besser als nichts. Hatten sie Sebastian gehört? Naja, dann war er wohl selbst schuld. Ich stellte die Ladestation neben den Laptop und packte den kleinen Adapter an die USB Buchse. Wie viel Saft, die Dinger wohl noch hatten?
Keinen stellte sich heraus, denn als ich auf den Knopf drückte, der sie anschaltete, tat sich nichts. Ich stellte die Kopfhörer auf die Ladestation. An der Seite spendete ein Lämpchen ein rotes Licht. Ich arbeitete an einem Auftrag und verschickte weitere Bewerbungen.
Das Licht wurde orange und schließlich leuchtete es grün. Ich zog die Kopfhörer ab und das Leuchten erlosch. Ich drückte auf den Anschaltknopf und ein grünes Leuchten flimmerte mir entgegen.
Dann setzte ich die Kopfhörer auf und schaltete den ersten Track an. Der Bass wummerte, während sich der Track Chromglanz durch die Membran schälte. Wunderbar. Mit Musik auf den Ohren machte es gleich doppelt so viel Spaß weiterzuarbeiten. Ich hatte das Gefühl, dass sich meine Produktivität exponentiell erhöhte. Wieder kam dieses Gefühl auf, das Gefühl des Neuanfangs, dass sich jetzt alles regeln, alles klappen und alles mit großen Schritten vorankommen würde.
Es war zwei Uhr, als ich die Kopfhörer absetzte. Ich hatte drei Aufträge erledigt, knapp zehn Bewerbungen geschrieben. Ein produktiver Tag. Die Kopfhörer waren wirklich gut, aber es wunderte mich das Sebastian sie mir gegeben hatte. Er wusste ganz genau, was mir gehörte und was ihm; besser als ich selbst. Warum hatte er mir die Kopfhörer dann überlassen? Ich schob den Gedanken beiseite und betrachtete die Kopfhörer näher. Immer noch ein grünes Leuchten. Der Akku hielt wirklich lang. An der Seite war ein Schieberegler, mit verschiedenen Klangcharakteristika. Fünf Stück waren es insgesamt. Ein N. Ein B. Ein H. Ein X. Ein S.
Es waren wohl verschiedene Wiedergabemodi. Momentan stand der Regler auf dem N. Ich schob ihn auf B und hörte mir Haus der Lüge an. B stand anscheinend für Bass. N für Normal. Wofür stand dann X? Xylophon? Ich schob den Regler auf H. Das Stück wurde mit starkem Hall wiedergegeben.
Als ich auf das X switchte, stoppte die Musik. Erst hörte ich nichts, doch dann: „Du Arschloch hättest dich nicht mit ihr einlassen müssen!“ „Marie es tut mir leid, wirklich.“ „Es tut dir leid.“ Was war das? Ich schob den Regler weiter auf S. Wieder spielte Haus der Lüge von Einstürzende Neubauten. Die Stimme war diesmal deutlich hervorgehoben. S für Stimme? H für Hall. Aber X verstand ich nicht. Was hatte ich da gehört? Ich legte die Kopfhörer neben die Station, weil sie immer noch grün leuchteten und schaltete den Computer aus. Morgen früh musste der Mietwagen weggebracht werden und ich hatte nur noch ein paar Stunden zu schlafen.
Ich war müde, aber wälzte mich trotzdem auf der ranzigen Couch herum. Es wirkte irgendwie fremdartig. Vielleicht hatte irgendwer die Kopfhörer in die Kartons getan? Irgendein Passant?
Aber warum sollte das jemand tun? Sie waren ja nicht kaputt. Bis auf den Abspielmodus X schien alles einwandfrei zu funktionieren. Natürlich konnten noch Mängel auftauchen, aber das würde ich ja die nächsten Tage bemerken.
Am nächsten Morgen stand ich früh auf, um den Mietwagen zurückzubringen. Ich war sogar vor Dieter wach. Die Luft draußen war noch nebelig und jeder Zug an der Zigarette ließ mich gleichzeitig die kalte Umgebung inhalieren.
Ich musste zwar in einer Stunde bei dem Mietwagenverleih sein, aber für eine Zigarette sollte noch Zeit sein. Ein Mann kam mit finsterem Blick die Straße herunter. Dann auf mich zu. „Haben Sie noch eine Zigarette?“ Ich gab ihm eine und wir rauchten schweigend gemeinsam, dann verabschiedete er sich, ging zu Fuß weiter und ich stieg in den Mietwagen.
Die Rückgabe verlief unkompliziert und ich ging wieder zu Dieter, hörte leise Musik, arbeitete ein wenig. Abends stellte ich den Abspielmodus noch einmal auf das X. Vielleicht war es ja nur eine vorübergehende Störung. Leider nicht. Diesmal hörte ich zwei Männer. Der eine sagte, dass er das Geld des anderen haben wollte oder den anderen abknallen würde. Der andere stockte bei seiner Antwort, er hatte anscheinend Todesangst. Ich schaltete zurück auf N und verbrachte den Rest des Abends mit einem langweiligen Korrekturjob.
Der nächste Tag verlief nicht viel anders. Ich hörte laute Musik, die Beats ließen mich wacher werden. Abends erzählte Dieter, dass es einen Überfall gegeben hätte – nur eine Straße weiter. „Will mir gar nicht vorstellen, wenn ich das gewesen wäre“, meinte er und wechselte dann das Thema. Er sprach mich wieder auf das Thema Arbeit und Auszug an, aber ich hörte gar nicht mehr zu. Denn mir war klar geworden: Die Einstellung X veränderte alles. Ich konnte damit anscheinend schlechte Ereignisse mithören. Der Streit in der Familie, der Überfall. Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Der Mann, der mich nach einer Zigarette gefragt hatte, war der Mann gewesen, der mit seiner Frau gestritten hatte. Die Stimme war dieselbe. Also war es auch ganz in der Nähe gewesen.
Als Dieter aus dem Zimmer verschwunden war und sich hingelegt hatte, schaltete ich den Abspielmodus wieder auf X. Diesmal hörte ich zwei Frauen. „Mach ja keine Faxen“, meinte eine Stimme, während die andere nur ängstlich antwortete. Das Gespräch ging weiter und anscheinend war die eine Frau eingebrochen. Ein Mann gesellte sich hinzu. Ein weiterer Einbrecher.
Es war mittlerweile nach 23 Uhr. Ich ging raus auf die Straße. Es war mir jetzt egal, ob ich wieder in das Haus kommen würde. Ich hatte zwar gezögert, aber ich musste herausfinden, ob dieses Ding tatsächlich funktionierte. Ich fand das Haus schnell. Vor Nummer 9 stand ein Wagen, der so geparkt wurde, dass er direkt wieder betriebsbereit wäre und die einzige Wohnung in der noch Licht leuchtete, war die von einer gewissen Frau Hahn. Das passte doch!
Doch jetzt wusste ich nicht, was ich tun sollte. Die Leute waren bewaffnet, da war ich hundertprozentig sicher. Die Polizei sollte das regeln. Ich tippte die Nummer ein und wurde kurz darauf mit einem unfreundlichen Typen verbunden. Man riet mir, dass ich mich von dem Haus fernhalten sollte und so ging ich ein paar Schritte von dem Haus weg und wartete bis die Polizei eintraf. Zur Sicherheit speicherte ich mir das Nummernschild ins Handy. Keine zehn Minuten später kam ein Polizeiwagen und die Beamten stiegen aus. Ich erzählte, welche Wohnung es meiner Meinung nach wäre, doch es war gar nicht mehr nötig: Die Einbrecher kamen aus der Wohnungstür rausmarschiert und wurden direkt von den Beamten empfangen. Die Frau war glücklicherweise unverletzt und wir beide wurden noch an Ort und Stelle befragt. „Wie kamen Sie eigentlich darauf, dass in der Wohnung eingebrochen wurde? Haben Sie etwas gehört?“ Da ich keine Antwort parat hatte, außer einer total abstrusen, entschied ich mich auf den Zug aufzuspringen. „Ich war spazieren und hatte einen Schrei gehört.“ „Frau Hahn sagte, sie wäre die ganze Zeit ganz still gewesen.“ Scheiße, dachte ich. Der Polizist vor mir wiegte den Kopf etwas. „Vielleicht ging alles zu schnell. Ich bin sicher einen Schrei gehört zu haben.“ Der Beamte nickte. „Oft sind Zeugen etwas verwirrt. Auf jeden Fall danke für ihren Einsatz“, sagte er. Er klopfte mir auf die Schulter und sie fuhren davon nachdem sie alles relevante aufgenommen hatten.
Dieser Abspielmodus übertrug mir wirklich Verbrechen oder zumindest schlechte Energie. Das war unglaublich. Ich hatte keine Ahnung wie dieses Ding funktionierte, aber es funktionierte und das war die Hauptsache.
Ich klingelte bei Dieter, der schlaftrunken irgendwann öffnete. Er war sichtlich irritiert, dass ich um diese Zeit klingelte und in die Wohnung wollte. ich erzählte ihm von dem Einbruch. Er schien mir nicht ganz zu glauben, ließ mich aber in Ruhe.
Am nächsten Morgen war ich in der Zeitung, sogar mein Name war genannt worden. Ich hatte unruhig geschlafen und war, kurz nachdem Dieter aus dem Haus gegangen war, ebenfalls gegangen und in die Stadt gefahren. Dann hatte ich mich ins erstbeste Café gesetzt und erst einmal in einer Onlinezeitung gelesen. Auf meinem Laptop sah ich die neuesten Berichte, unter anderem auch über den Einbruch. Wahrscheinlich hatte die Polizei ihn weitergegeben oder nicht nur ich besaß so ein Paar Kopfhörer, dachte ich grinsend. Und dann stockte ich. War ich der Einzige mit solchen Kopfhörern oder gab es möglicherweise noch viel mehr von diesen?
Ich suchte im Internet danach. Kopfhörer, die Verbrechen hervorsagen. Ich fand nicht wirklich irgendetwas, was brauchbar wäre und fühlte mich etwas dumm. Würde irgendjemand auf GuteFrage.net eine Frage stellen, wenn er so ein Paar Kopfhörer gefunden hatte? Das schien mir eher unwahrscheinlich.
Ich hatte an diesem Tag eigentlich noch zwei Aufträge fertigzustellen und abzugeben, aber ich zog stattdessen die Kopfhörer über. Ein Handtaschendiebstahl auf der Hauptstraße. Bis auf den Schrei einer älteren Frau, dem Geräusch wie ihr die Handtasche vom Arm gerissen worden war und dem Rennen des Taschendiebs konnte ich nichts hören.
Ich stand auf, klappte meinen Laptop zusammen und ging ein paar Schritte auf die Straße. Ich hatte noch nicht gezahlt, aber das war mir gerade egal. Es dauerte keinen halben Gedanken, dann sah ich den Taschendieb mit der Handtasche unter dem Arm, wie er die Straße entlanghastete. Ich lief ihm in die Bahn, hielt ihn auf, er stolperte und fiel ungeschickt auf das Kopfsteinpflaster. Ich nahm die Handtasche an mich. Der Mann rappelte sich schnell wieder auf und verschwand. Ich übergab der Frau die Handtasche und sie war unfassbar dankbar für meinen Einsatz. So dankbar, dass sie mir 50 Euro zusteckte. Ich sagte ihr, dass sie zu der Polizei gehen sollte.
Ich glaubte nicht, dass sie wirklich hingehen würde. Aber die Idee festigte sich weiter. Es funktionierte wirklich. Und aus dem Leiden anderer musste man doch Kapital schlagen können. Ich kaufte von dem Geld, was ich durch die Korrekturen verdient hatte, eine Kamera im nächsten Laden. Bei Dieter Zuhause lud ich sie auf und entschied mich am nächsten Tag loszugehen und das nächste Verbrechen zu dokumentieren. Ich rührte die Kopfhörer solange nicht an. Es schien mir falsch damit einfach Musik zu hören; ich wollte sie nicht unnötig abnutzen.
Am nächsten Tag ging ich wieder frühmorgens los, suchte mir ein Viertel, in dem sowieso viele Verbrechen vorkamen. Vielleicht würde ich sonst keines mitbekommen. Und ich wollte nicht meine Zeit verschwenden. Zeit war wertvoll und mit so einem magischen Ding in den Händen wurde sie noch viel wertvoller.
Die Plattenbauten schienen mir die erste Wahl. Ich schaltete die Kopfhörer ein und setzte sie auf. Sie waren schon auf X voreingestellt. Jemand beleidigte jemand anderen schwer, aber damit war nichts anzufangen. Ich schaltete sie noch einmal aus und stellte sie wieder an. Dann ein Taschendiebstahl. Das war nicht interessant genug. Ich probierte es noch einige Male, aber die Verbrechen waren keinen Artikel wert. Dann kam ich auf die Idee, die Lautstärke etwas hochzustellen. Vorher hatte der Regler auf 4 gestanden, jetzt auf 11. Tatsächlich. Ein Mann, der eine Frau ansprach und dabei ekelhaft schmierig klang. Ein Vergewaltiger? Ich zog die Kopfhörer ab und hörte kurz darauf eine Frau „Feuer“ schreien. Ich hatte mal gehört, dass Frauen in Notsituationen Feuer schreien sollten, weil bei Hilfe niemand käme. Ich rannte in die Richtung. Es war in einer Seitengasse. Er wollte ihr gerade das Oberteil vom Leib reißen, als ich die beiden erblickte. Er sah mich und rief: „Verpiss dich.“ Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Um die Polizei zu rufen, war es zu spät.
Er kam auf mich zu und schlug nach mir. Ich wich aus und konnte einen Treffer landen. Er taumelte etwas zurück, zückte ein Messer. Scheiße. Damit hatte ich nicht gerechnet. Doch während er auf mich zu ging, kam die Frau von hinten und schlug ihm mit einer Bierflasche auf den Kopf. Er sackte in sich zusammen. Blut sickerte in den Boden. Die Flasche blieb ganz, irgendwie hatte ich erwartet, dass sie in hunderte Teile zerspringen würde. Ich rief die Polizei und sie holten das Arschloch ab. Ich konnte ein paar Fotos schießen und mit der Frau ein kurzes Interview führen. Bei Dieter schrieb ich eine Zeitung an und wenig später, bekam ich zweihundert Euro für den Artikel und die Fotos.
Die nächste Zeit spielte ich an der Lautstärke herum, ging immer etwas höher. Raubüberfälle, Vergewaltigungen, Morde. Alles war möglich. Das höchste war bisher 17 gewesen und da hatte ich einen sadistischen Kinderschänder auf frischer Tat ertappt. Danach ging ich wieder runter, das war zu viel gewesen. Zuerst verkaufte ich die Storys an verschiedene Zeitungen und verdiente gutes Geld damit. Schließlich bestellte mich eine der Zeitungen, das Luckdorfer Tagesblatt zu ihrem Redakteur. Als ich eintrat, kam ich in ein luxuriöses Büro. „Herr Schanz. Ich will nicht lügen. Ihre Story über den Neffen des Dezembermörders hat unsere Auflage um zwanzig Prozent gesteigert. Ich möchte Ihnen ein Angebot machen.“ „Nur zu.“ „Um es kurz zu machen: Wenn Sie nicht mehr an die Konkurrenz verkaufen, zahlen wir Ihnen das Doppelte.“ Ich schlug ein. Nach einem Glas Whiskey mit dem Redakteur verließ ich das Gebäude. „Herr Schanz, kann ich kurz mit Ihnen sprechen?“, hörte ich, als ich gerade den ersten Schritt an die frische Luft gesetzt hatte. Ich drehte mich um. Ein Polizist. „Was kann ich für Sie tun?“, fragte ich. „Sie haben doch ein paar Minuten, oder?“ Ich nickte. Er stellte sich mir als David Ertmanns vor. Wir gingen ein Stück und ich steckte mir eine Zigarette an. „Wie machen Sie das? Was ist Ihr Geheimnis?“, fragte er nach etwas Smalltalk. „Ich bin gut in dem was ich mache“, sagte ich. „Ein geborener Journalist also?“ „So würde ich das nicht ausdrücken.“ „Keine falsche Bescheidenheit. Ich frage mich nur, wie sie das anstellen. So viele Morde, Vergewaltigungen in dieser Zeit aufzudecken.“ „Ich habe meine Augen und Ohren überall.“ „Es wird in letzter Zeit viel mehr über sowas berichtet. Die Leute haben Angst.“ Ich fühlte mich unwohl. „Herr Ertmanns. Was möchten Sie?“ „Nur erfahren, wie Sie das machen. Wissen Sie, das läuft zu glatt – verstehen Sie?“ „Ich muss nach Hause. Noch einen Artikel schreiben.“ „Natürlich“, sagte der Polizist und ließ mich gehen. Ich spürte, dass er mir nachsah.
Zwei Wochen später zog ich bei Dieter aus. „Danke für die Zeit, die ich bei dir wohnen durfte.“ „Kein Problem“, meinte Dieter. Ich hatte zwei schwere Koffer in den Händen. „Weißt du Dieter. Du bist ein richtiger Spast. Du warst von allen meine letzte Option.“ Mit diesen Worten verließ ich die Wohnung und fuhr mit einem Mietwagen in meine neue Heimat.
Die Wohnung hatte zwei Zimmer und war recht billig gewesen. Eine einfache Küche, nichts besonderes. Ich hatte zwei Monatsmieten in der Rückhand, nachdem ich die Kaution gezahlt hatte und fühlte mich sicherer dadurch.
Auch wenn sich meine Tätigkeit als Journalist durch die Kopfhörer als sehr einträglich zeigte, wollte ich kein Risiko eingehen. Ein Angestelltenverhältnis kam mir nach wie vor sicherer vor. Ich hätte gerne gewartet, bis ich eine dritte Monatsmiete beisammen gehabt hätte, aber ich wollte unbedingt von Dieter weg. Mittlerweile hatte er jeden Tag mehrmals gefragt, wann ich endlich ausziehen würde. Penetranter Wichser.
In der neuen Wohnung machte ich weiter wie bisher und kaufte mir von dem Geld bald schon die ersten Teile der Einrichtung. Bei dem Luckdorfer Tagesblatt war ich schon bald ein Name, der nicht einfach von einer genervten Assistentin durchgewunken wurde. Meine Storys brachten Geld und häufig auch eine Titelseite. Aber das war mir nicht genug. Ich fing an nebenbei einen Blog aufzubauen und dort News zu Verbrechen hochzuladen. Nach kurzer Zeit hatte die Seite einen hohen Traffic und ich baute mir damit nach und nach ein weiteres Standbein auf. Ich sah es auf Dauer nicht ein, für jemand anderen zu arbeiten, wenn ich für mich selbst arbeiten könnte und damit um einiges weiter kommen würde.
Ich kam gerade von einem Gespräch mit dem Redakteur des Luckdorfer Tagesblattes zurück, als ich sah, dass Sebastian vor meiner Tür stand und wartete. „Hi Diego.“ Er hatte sich schön gemacht. Das schwarze Hemd, die Cordhose, die Budapester. Keine Stunde später lagen wir verschwitzt nebeneinander in meinem neuen Bett und er fuhr mir durch die Haare. „Ist alles in Ordnung?“, fragte er nach einiger Zeit. Es war dumm gewesen, jetzt mit ihm zu schlafen. Ich wusste es besser. „Alles in Ordnung“, sagte ich und küsste ihn. Zwei Tage später zog er bei mir ein. Ich war weder wirklich unglücklich noch glücklich darüber. Ich nahm es eben hin. Momentan konzentrierte ich mich sowieso auf die Arbeit. In einer Woche hatte ich ein Gespräch mit dem Redakteur. Ich hatte den Termin zwei Tage davor vereinbart, aber nicht gesagt, worum es konkret gehen würde.
Als besagter Tag anbrach, machte ich mich fertig, achtete noch einmal penibel darauf gepflegt auszusehen. „Wohin gehst du?“ „Zu der Zeitung für die ich schreibe.“ Sebastian nickte. „Ich werde gleich noch etwas malen“, sagte er. „Bis später.“ Wir küssten uns und ich fuhr mit Wagen zu der Zeitung. Von dem Geld, was ich verdiente, hatte ich auf Drängen Sebastians einen Turrets geleased und er fuhr sich wirklich gut. Ich parkte auf dem Gelände der Zeitung und ging in das Gebäude, direkt zum Redakteur und trat ein. „Pünktlich wie immer Herr Schanz.“ Ich nickte. „Setzen Sie sich ruhig.“ „Danke“, sagte ich und setzte mich. „Nun spannen Sie mich nicht länger auf die Folter. Worum geht es?“ Einen Moment wartete ich noch, dann sagte ich: „Ich möchte ein Festgehalt zusätzlich zu dem, was ich momentan verdiene.“ „Wir bezahlen unsere Journalisten immer nach Leistung. Eben das was sie uns einbringen.“ „Ich leiste mehr als gute Arbeit. Mehr als eine Titelseite kam von mir.“ „Ein Festgehalt. Vielleicht lässt sich da etwas machen.“ Er nickte. „Wie viel?“ „Dreitausend. Monatlich. Zusätzlich weiterhin die Einnahmen aus den Artikeln und Bildern.“ Er starrte mich einige Sekunden an. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein, das können wir nicht machen, tut mir leid.“ „Dann bin ich weg. Sie kennen doch sicher meinen Blog, tattlecrime, oder?“ Er verzog das Gesicht. „Tausend. Tausend im Monat als Festgehalt.“ Ich stand auf. „Gehen Sie nicht. 1500?“ Ich ging. Ich hatte meine Zeit viel zu lange damit vergeudet. Nächste Woche würde ich einen Premiumdienst lancieren. Das würde genug einbringen. Artikel werbefrei, ein paar Extraartikel für die Zahler.
Ich ging in die nächste Straße, stellte die Lautstärke auf 12, schaltete meine Kopfhörer an und ging los. Ein Raubüberfall, der mit einem Schuss endete. Ich konnte Fotos machen, rief währenddessen die Polizei und wartete ab. Die Polizei traf ein, als die zwei Täter gerade flüchten wollten. Ich machte noch ein Foto von der Festnahme und ging dann zu einem Polizisten, der mit dem Rücken zu mir etwas abseits stand. „Entschuldigen Sie, könnte ich kurz mit Ihnen sprechen?“ Er drehte sich um. Es war David Ertmanns. „Sie auch hier? Gar kein Wunder. Der Blog braucht schließlich Nahrung, oder?“ „Was wollen Sie? Ich mache meine Arbeit. Sie Ihre.“ „Ja, aber meine Arbeit ist es Leuten auf die Finger zu schauen. Wie auch immer. Rufen Sie mich an, wenn Ihnen etwas einfallen sollte. Sie wissen schon.“ Er drückte mir einen Zettel in die Hand, den ich einsteckte. Dabei lächelte er auf eine Art, die ich nicht richtig deuten konnte. „Schönen Abend noch“, sagte ich mürrisch und verließ ihn. Er sagte nichts, ging mir auch nicht hinterher, aber ich spürte, dass er mich ansah. Zuhause schrieb ich den Artikel und arbeitete ein wenig an dem Premiummodell. Irgendwann kam Sebastian ins Zimmer.
„Darf ich kurz stören?“ „Ja, was los?“ „Ein gewisser Herr Gahnmor hat angerufen.“ Der Redakteur von Luckdorfer Tagesblatt. „Was wollte er?“ „Einen Termin. Er hat nichts näheres gesagt.“ „Danke.“ Ich dachte nach, ob ich zurückrufen sollte, aber schob das erst einmal zur Seite. Ich ging ins Internet und googlete ein wenig nach ergiebigen Vierteln.
Ich stolperte über Verbrechensstatisken zu den einzelnen Stadtteilen. Es war eine Seite, die die Verbrechensrate über Monate und Jahre verglich. In vielen Vierteln war sie leicht zurückgegangen, nur in der Plattenbaugegend und in dem Stadtteil, in dem Dieter wohnte, war sie rapide gestiegen. Ich zitterte.
Als ich mich beruhigt hatte, rief ich den Redakteur an und vereinbarte mit ihm einen Termin für morgen. Er sagte, er hätte noch einmal über das Festgehalt nachgedacht. Dass er so schnell einknicken würde, hätte ich nicht gedacht. Ich war gespannt auf sein Angebot. Am nächsten Tag ging ich hin und betrat sein Büro ohne zu Klopfen und zehn Minuten zu spät. Ich war jetzt in der Position. „Schön, dass Sie Zeit gefunden haben.“ Ich nickte und setzte mich. „Kann ich Ihnen etwas anbieten? Wasser?“ Ich schüttelte den Kopf. „Also, um zur Sache zu kommen. Ich habe noch einmal über Ihr Angebot nachgedacht. Dreitausend als Festgehalt im Monat scheinen mir fair.“ Ich stand auf. „Fünftausend im Monat und die übliche Bezahlung für die Artikel und Bilder.“ „Ja. Unter einer Bedingung. Sie schalten Ihren Blog ab.“ „Tut mir leid. Das kann ich nicht machen.“ „Herr Schanz, bei aller Liebe, 5000 sind ein verdammt guter Deal. Und das ist ja nur das Festgehalt.“ „Kündigungsschutz?“ „Ein Jahr lang können Sie nicht gekündigt werden, danach nach den regulären Modalitäten.“ „In Ordnung. Ich werde den Blog abschalten, sobald mein erstes Gehalt auf meinem Konto ist.“ Mein Gegenüber nickte. „Ich lasse Ihnen die Tage die Papiere zukommen.“ Ich verließ wenig später das Büro und setzte mich in mein Auto. Mein Blog hätte auf Dauer viel mehr abgeworfen, doch mir war gestern eines klargeworden: Die Kopfhörer entdeckten nicht die Verbrechen. Sie verursachten sie.
Als ich mit dem Wagen Zuhause ankam, stand vor dem Haus ein Krankenwagen. Auf einer Liege wurde Sebastian herausgeschafft. Ich stieg aus und lief hin. „Was ist los?“ „Wer sind Sie?“ „Sein Lebensgefährte. Was ist passiert?“ „Wahrscheinlich ein Herzinfarkt.“ „Wo bringen Sie ihn hin?“ „Ins städtische Krankenhaus.“ Ich fuhr so schnell es ging dort hin und wartete, bis ich mit Sebastian sprechen durfte. Sein Zustand war instabil, aber er lebte noch. „Was ist passiert?“, fragte ich ihn, als ich im Zimmer stand und seine Hand hielt. „Ich war im Wohnzimmer. Keine Ahnung.“ „Hast du dich zu sehr angestrengt oder so?“ „Ich hatte die Kopfhörer aufgesetzt und wollte Musik hören. Hab ein wenig rumgespielt und plötzlich...“ Ich starrte ihn nur wütend an. „Warum hast du meine Kopfhörer angefasst?“ „Tut mir leid, ich wusste nicht, dass das ein Problem ist. Entschuldige.“ „Ich komm morgen wieder.“ „Diego, bitte.“ Ich verließ wütend das Krankenhaus, fuhr nach Hause. Hoffentlich waren die Kopfhörer nicht kaputt. Ich betete inständig. Darauf war meine komplette Existenz aufgebaut und ich würde nicht zulassen, dass sie wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel. Ich öffnete hastig die Wohnungstür und sah mich um. Nicht auf dem Tisch, nicht auf der Kommode. Die Kopfhörer lagen auf dem Boden, aber sie schienen intakt zu sein. Ich hob sie auf, stellte die Lautstärke runter auf 3 und schaltete sie dann ein. Ein unnötiger Streit unter Freunden. Sie funktionierten noch. Und dann wurde mir klar. Die Kopfhörer waren nur für mich bestimmt. Ich war die Person, die sie tragen sollte. Weil es Sebastian versucht hatte, hatten sie ihn ... angegriffen. Ich starrte die Kopfhörer an. Nur für mich. Es fühlte sich seltsam an. Ich war Sebastian nicht mehr böse. Die Kopfhörer waren Fluch und Segen zugleich.
Das Telefon klingelte. Ich nahm ab. „Herr Schanz?“ „Ja?“ „Sie sind als einziger Notfallkontakt für Sebastian Lorens eingetragen. Sein Zustand hat sich massiv verschlechtert. Bitte kommen Sie direkt zum Krankenhaus.“ Ich musste so schnell wie möglich dorthin. Ich rannte aus der Tür heraus, nach unten. Auf der anderen Straßenseite stand jemand direkt neben meinem Auto. Ich konnte ihn nicht genau erkennen, weil es stark zu regnen begonnen hatte. Ich lief über die Straße. Es war der Polizist. „Herr Schanz. Kann ich kurz mit Ihnen reden?“ „Ich habe keine Zeit.“ Ich wollte zur Wagentür gehen, aber der Polizist versperrte mir den Weg. „Ich habe recherchiert. Nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit.“ „Ich muss ins Krankenhaus.“ „Nur ein paar Minuten, das kann warten.“ „LASSEN SIE MICH ZU MEINEM WAGEN.“ „Aber, aber – nur ein paar Minuten.“ Er wich nicht von der Stelle. Ich wollte nach dem Griff der Autotür greifen, aber er blockierte ihn. „Lassen Sie mich gehen. Ich muss ins Krankenhaus“, zischte ich. „Nein, wir reden jetzt.“ Ich schlug dem Polizisten ins Gesicht, packte ihn an seiner Jacke und warf ihn auf die Straße. Dann stieg ich ins Auto und fuhr los. Dieses verdammte Arschloch. Hoffentlich würde er auf der Straße verrecken.
Keine fünf Minuten später, parkte ich auf dem Parkplatz des Krankenhauses und lief rein, zu dem Zimmer. Aber Sebastian war tot. Ein Arzt sagte mir, dass er vor nicht einmal einer Minute gegangen war. Ich wollte mich schon umdrehen. „Wollen Sie sich nicht verabschieden?“ Ich sah an dem Arzt vorbei in das Krankenzimmer. Nur einen Moment lang. So wollte ich Sebastian nicht in Erinnerung behalten. Ich schüttelte den Kopf. „Nehmen Sie besser ein Taxi. Soll ich Ihnen eines rufen?“ „Nein, ich hol mir selbst eines.“ Der Arzt nickte und ich ging. Ich fuhr mit dem Auto nach Hause.
Ich verließ das Haus die nächsten Tage nicht. Am dritten Tag ging ich nach unten, wollte Zigaretten holen. In der Post fand ich den Vertrag. Ich überflog ihn kurz. Bei dem Kiosk um die Ecke nahm ich den Stift, der eigentlich für Lottoscheine gedacht war, unterschrieb, kaufte Zigaretten und verließ den Verkäufer wieder. Auf dem Weg fielen mir immer wieder Polizeiwagen auf. Ich war traurig, dass Sebastian tot war. Und ich war so unglaublich wütend, was dieses Polizistenschwein mir angetan hatte.
Ich ging früh ins Bett an dem Tag und die nächsten Tage verließ ich das Haus nicht. Ein extremes Schwächegefühl schien sich auf alles zu legen, wie ein klebriger Film. Ab und an vibrierte mein Handy. Das erste Mal sah ich noch darauf. Der Redakteur. Die anderen Male ließ ich es einfach unberührt liegen.
Nach fünf Tagen zog ich mich an und wollte einkaufen gehen.
Ich wusste, dass ich weitermachen musste. Aufstehen, weitermachen. Ich ging nach draußen. Erst bemerkte ich es nicht, aber als ich aus der Post kam und den fünften Streifenwagen sah, hatte ich das Gefühl beobachtet zu werden. Die nächsten Tage fiel es mir immer wieder auf. Polizisten, die vorbeifuhren.
Irgendwann vibrierte mein Handy wieder und es war ausnahmsweise nicht der Redakteur, der die mieseste Investition seines Lebens gemacht hatte, sondern die Mutter von Sebastian. Nach einer kurzen Begrüßung fragte sie recht trocken: „Weißt du, wie er beerdigt werden wollte?“ Ich war vollkommen überfordert mit der Frage und brachte irgendwann so etwas wie ein Nein hervor. Wir sprachen noch kurz. Ein paar Tage später wurde die Beerdigung organisiert. Ich hatte überlegt nicht hinzugehen, aber verwarf den Gedanken wieder.
Ein Grabredner erzählte Kleinigkeiten. Die langjährige Beziehung mit mir wurde nicht einmal erwähnt. Ob er von unserem Streit erzählt hatte oder die Eltern gehofft hatten, dass es nur eine Phase wäre – ich wusste es nicht. Es war seltsam ihn im Sarg liegen zu sehen. Sein feines Gesicht wirkte so schwach und die Haut hatte sich verfärbt. Ich nahm einen tiefen Atemzug, strich über den schwarzen Anzug und verabschiedete mich still. Dann drehte ich mich um und das erste, was ich sah, war David Ertmanns.
Der Polizist war in einem Anzug erschienen. Ich ließ mir nichts anmerken, sondern ging nach draußen und rauchte. „Es tut mir sehr leid um ihren Freund.“ Der Polizist baute sich vor mir auf. Ich sah eine winzige Narbe neben seinem Auge. Hatte ich so fest zugeschlagen? „Lassen Sie die Spielchen.“ „Dann gestehen Sie. Sie sind in die ganze Scheiße involviert. Ein toter Freund plötzlich – vorher steigt die Verbrechensrate extrem an. Wer oder was sind Sie?“ „Dass Sie sich nicht schämen“, meinte ich und spuckte auf den Boden. Dann ging ich und fuhr nach Hause. Es wurde nicht weniger, jeden Tag sah ich Polizeiwagen. Nach drei Tagen, in denen Sebastian in der Erde lag, wurde ich angerufen. Sebastians Vater war es, man würde Sebastian exhumieren. Ich wusste, wer das veranlasst hatte. Ich suchte den Zettel heraus und rief den Polizisten an. „Was fällt Ihnen ein?!“  „Herr Schanz, schön Sie zu hören.“ „Ich werde alles erzählen.“ „Kommen Sie am besten zur Wache morgen.“ „Ich glaube nicht. Ich suche den Ort aus. Ein öffentlicher Ort. Sie können gerne ein paar Männer herholen.“ „Wo?“ „Morgen sag ich Ihnen alles.“ Dann legte ich auf.
Ich entschied mich für das Café, welches neben der Polizeistation stand. Dieses Arschloch würde merken, mit wem er sich angelegt hatte. Diese Kopfhörer gaben mir Macht. Und ich würde sie nutzen.
Am nächsten Tag informierte ich den Polizisten. Ich war schon längst im Café, als ich anrief. Es dauerte keine drei Minuten, da saß er vor mir. Immer wieder versuchte er das Gespräch auf die Verbrechen zu lenken, aber ich trank in Seelenruhe meinen Cappuccino. Irgendwann lehnte ich mich vor und sah ihn direkt an und sagte ganz leise, aber bestimmt. „Legen Sie sich nicht noch einmal mit mir an.“ „Wie meinen Sie das?“ Ich sagte nichts, sondern griff in die Tasche, die ich mitgenommen hatte und zog die Kopfhörer hervor. Ich hatte den Volumenregler auf die höchste Stufe gestellt. Dann setzte ich sie auf und schaltete auf X und lächelte. Ich wollte die Welt brennen sehen. Wollte sehen, wie das Lächeln dieses Wichsers in Angst umschlagen würde.
Doch ich hörte nur ein Pumpen. Ein Pumpen, welches schneller wurde und schließlich erstarb und da spürte ich wie mein Herz stoppte und ein brennender Schmerz durch meine Brust zog.
Während des Herzinfarkts wurde ich ohnmächtig und ins Krankenhaus gebracht. Ich habe mehrmals nach den Kopfhörern gefragt, aber niemand wusste, wo sie waren.
Mein Herz schlägt wieder. Ich bin an einem Apparat angeschlossen, um meine Herzfrequenz zu messen. Auf dem Weg zur Besserung sagen die Ärzte. Ich weiß aber, dass ich nicht mehr viel Zeit habe. Das schwache Ding wird bald seinen Geist aufgeben. Sebastian hatte es auch auf die höchste Stufe gestellt. Den Volumenregler. Ein Detail. Sie sind nicht für mich gemacht, diese verdammten Kopfhörer. Sie sind für niemanden gemacht.
Im Fernsehen laufen in den Nachrichten Interviews mit David Ertmanns. Ein Mord, den er hier aufgeklärt hat, einen anderen dort.
Es ist klar, wer meine Kopfhörer jetzt hat. Und ich weiß, dass er genauso gierig werden wird, wie ich. Ich lächle, als mein Herz schwächer wird und die Maschine Alarm schlägt.
 
Oh, das stimmt auf jeden Fall! Ich werde aber in Zukunft auf jeden Fall auch mal was Kürzeres posten - danke!
 
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