Liebe Ursula,
die Metapher vom Zeichnen ohne Radiergummi sagt mir sehr zu, da die zugrundeliegende Wahrheit zwar selbstevident ist, aber allzu selten wirklich reflektiert wird. Tatsächlich ist das Leben eben nicht nachträglich korrigierbar, wiederholbar und du hast die sich daraus ergebende Verlockung gut in Worte gefasst: Lieber warten und Tee trinken. Am Ende allerdings hat man dann ein leeres Papier vor sich.
Wir haben ein Leben, und nur ein Leben allein, um uns darauf einzulassen, auszuprobieren, was uns möglich ist. Daher fällt es mir schwer, meine Fehler wirklich zu bereuen. Zwar habe ich die Einsicht, dies und jenes falsch gemacht zu haben und meine doch auch, aus so manchem Fehler gelernt zu haben, aber bereuen könnte ich diese Fehler nur, wenn ich der Meinung wäre, mein Leben wäre es nicht wert, der Sache eine Chance zu geben. Jedenfalls kann man über deine Worte so herrlich philosophieren, dass du das Gedicht auch gut und gerne unter "Weisheiten" hättest einstellen können. :thumbup:
An dem Text gefällt mir besonders, dass er die verschiedenen Bewegungen aufgreift und einander gegenüber stellt, die aus der im Titel vorweggenommenen Einsicht resultieren können. Dahingehend habe ich auch den Parallelismus sehr gerne gelesen:
Ich spüre eine Art Bremse, ein zögern in mir,
Ich spüre in mir einen heftigen Drang,
Hier werden zwei gegensätzliche Impulse in eine ganz analoge Formulierung gepackt, was verdeutlicht, dass man vom selben Punkt anfangend zu ganz unterschiedlichen Schlussfolgerungen gelangen kann. Vielleicht wäre dies noch wirkungsvoller gewesen, wenn du den Satzbau in beiden Sätzen noch mehr angeglichen hättest: "Ich spüre einen heftigen Drang in mir". Aber so oder so wird die enorme Ambivalenz deutlich, in der sich sicher Viele wiederfinden können.
Mir ist aufgefallen, dass das Wort "ich" und andere Pronomen in der ersten Person Singular in dem Gedicht sehr dominant sind (ich zählte insgesamt zwölf solche Wörtchen). In vielen Gedichten, in denen solche Worte derart gehäuft vorkommen, wird man es als ein wenig unbeholfen bewerten. Aber ich meine, dass es hier sehr gut passt. Ich deute es als eine Bewusstwerdung des LI, dass es eben dieses Ich gibt, dass es nur eines davon gibt und dass es daher unendlich bedeutsam ist. Gerade in der Bedeutsamkeit des eigenen Lebens als des einzigen Lebens, das man hat, steckt die Gefahr, passiv zu sein, um keinen Fehler zu machen, dieses Leben nicht an das Unzureichende zu verschwenden. Aber zugleich steckt darin ja auch die Einsicht, wie dein LI gegen Ende feststellt, dass dieses eine Leben anzupacken sei, zu nutzen sei, es nicht einfach auslaufen zu lassen aus Angst, man könnte Fehler machen.
So wie ich es lese, gibt es ein kleines Fehlerchen im Gedicht:
will endlich erleben und neues Zeichnen
"Neues zeichnen" oder?
Aber wie du geschrieben hast: Mut zu Fehlern! Denn das ist natürlich eine Kleinigkeit und stört meinen Gesamteindruck eines rundum gelungenen Gedichts kein bisschen. :classic_smile:
LG