Hallo Gewitterhexe,
ich habe die anderen Kommentare noch nicht gelesen, weil ich zunächst ungefiltert meine Gedanken zum Gedicht zusammentragen möchte. Beim Scrollen meine ich aber gelesen zu haben, dass ein paar Stellen angesprochen wurden, die vielleicht nicht optimal geschrieben sind und auf die ich auch eingehen möchte (ich hoffe, ich schreibe dabei nichts Redundantes). Aber zunächst einmal zum Inhalt:
Kaum etwas lässt eine solche innere Ruhe und Ausgeglichenheit und zugleich diese Sehnsucht und dieses Fernweh aufkommen wie die Nacht. Und das hast du in deinem schönen Naturgedicht überzeugend zum Ausdruck gebracht. Durch diese Assoziation der Nacht mit den vielfältigen Gemütszuständen lässt du die Nacht untrennbar von inneren Vorgängen erscheinen. Diese Auflösung der Grenze von Innen- und Außenwelt, die ich an der Lyrik der Romantik so sehr schätze, ist dir hier auch durch die Personifikation der Nacht wirklich gut gelungen.
Besonders beeindruckt hat mich in diesem Zusammenhang der Vers "Dein Blick Unendlichkeit", weil ich das Gefühl kenne, in den Sternenhimmel zu schauen und zu glauben, man würde in der Unendlichkeit aufgehen, die sich vor einem ausbreitet. So wird man in der Wahrnehmung zur Nacht selbst zur Nacht. Das hat Anklänge an den Pantheismus einiger Romantiker: Wenn es einen Gott gibt und dieser zugleich Schöpfer und Schöpfung darstellt, dann ist unsere Aufgabe wohl einfach, als kleiner bescheidender Teil des größeren Ganzen Gott zu ermöglichen, durch unsere Augen seine Schöpfung zu bestaunen.
Ich weiß nicht, ob das ein Grund ist, an Gott zu glauben, aber mir ist diese Vorstellung zumindest sehr sympathisch, denn sie erzeugt ein Gefühl der Demut und Größe zugleich (da man als Teil des größeren Ganzen so klein ist, jedoch das riesige Universum nicht als groß erfahrbar wäre ohne unsere bewusste Wahrnehmung) und dieses Gefühl finde ich in deinem Gedicht wieder, wenn die Sterne von Fernen erzählen, die für uns im Grunde unbegreiflich sind und sogar ein solches Ausmaß annehmen, dass sie von fernen (vergangenen) Zeiten erzählen. Jedenfalls will ich dir keinen Glauben unterstellen, der dir vielleicht gar nicht eigen ist, aber dieses faszinierende Gefühl kommt zumindest in mir auf, wenn ich dein Gedicht lese.
Dem müden Tag als Abschied
deine Märchentraumgesänge.
Die Stelle gab mir zu denken, denn ich assoziiere sonst gerne die Nacht mit Müdigkeit. Hier verlagerst du aber den Fokus: Müde ist hier nicht die Nacht, sondern der Tag. Die Nacht beinhaltet gar die Überwindung (Abschied) der Müdigkeit. Und wenn ich darüber nachdenke: Wenn ich träume, bin ich ja nicht müde, sondern in gewissem Sinne "hellwach" - in meinem Traum. Insofern ist Müdigkeit nur ein Zustand, der anhält, wenn ich dem Überholten anhänge, wenn ich bewahren will, was nicht bewahrt werden sollte. Wenn ich mich aber dem Schlaf hingebe, das Vergehen des Tages akzeptiere, bin ich bereit, mich näher mit mir selbst und meinem Unterbewussten zu beschäftigen. Das ist eine schöne Metapher, gerade als Abschluss des Gedichts. :grin:
Metrisch fällt mir auf, dass sich hier immer männliche mit weiblichen Kadenzen abwechseln (zumindest der Idee nach; in S2V3 klappt es nicht so richtig, aber darauf komme ich noch zurück). Das ist natürlich alles andere als außergewöhnlich, aber es ist hier hervorragend gewählt. Die männlichen Kadenzen suggerieren mit ihrem härteren Klang etwas Eindeutiges und Endgültiges, was dann aber von den weicheren, zurückhaltenderen weiblichen Kadenzen aufgelöst wird. Schließlich macht man ja in der Nacht beinahe eine Unendlichkeitserfahrung und diese wird klanglich unterstützt durch das Auflockern, das die weiblichen Kadenzen bewirken. Da geraten mir unwillkürlich Bilder in mein geistiges Auge von einem klar umrissenen Sternenhimmel und wenn man meint, man hätte das Bild verstanden, werden es doch mehr und mehr Sterne; dann meint man, das sei jetzt das endgültige Bild und dann erkennt man darin mehr und mehr Sternbilder... Unendlichkeit: es geht immer noch einen Schritt weiter und noch einen Schritt - da gibt es keine Endgültigkeit. Unser Verständnis der Welt ist immer vorläufig und das wird einem durch einen Blick in den Sternenhimmel unmittelbar bewusst.
Da wir gerade bei der Metrik sind: Mir sind da noch zwei Dinge aufgefallen, die vielleicht überarbeitet werden sollten.
1. Jeder Vers beginnt mit einer Senkung, außer S2V2+4. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die der Ansicht sind, das
müsse unbedingt gleichförmig sein, aber es birgt eben die Gefahr, dass man darüber stolpert, weil man eben einen anderen Rhythmus erwartet. Da gerät man kurz aus dem Takt, kann sich zwar hinterher noch erklären, wie man es hätte lesen müssen - aber so ne richtig schöne Leseerfahrung ist es nicht. Ich würde aber auch jeden in Schutz nehmen, der das aus guten Gründen so wählt (habe früher oft mit metrisch alternierenden Versanfängen geschrieben). Wobei ich meine, dass das im letzten Vers ruhig so stehen bleiben könnte - so eine Zäsur am Ende hat noch kaum einem Gedicht geschadet. Aber für S2V2 würde ich eine Änderung empfehlen, ohne dass mir jetzt auf die Schnelle eine bessere Lösung einfällt (außer vielleicht einfach ein "die" vor Symphonie?).
2. Der Reim "Lied" - "Abschied" kommt nicht zur Geltung, weil Abschied auf der vorletzten Silbe betont ist. Dann sieht es zwar auf dem Papier aus wie ein Reim, aber wenn man es spricht, merkt man, dass der Reim sich nicht richtig entfalten kann. Da wäre es sinnvoll, den dritten Vers so zu ändern, dass eine männliche Kadenz entsteht. Vielleicht indem du einen Satz mit dem Präteritum von "scheiden" bastelst - also: "schied". Nur so ne Idee...
Seltsamerweise stört es mich nicht, dass drei Verse der letzten Strophe vierhebig sind, wohingegen das restliche Gedicht dreihebig ist. Ein klareres Muster (z.B. alternierend) wäre zwar irgendwie "schöner" (im Sinne von "gefälliger"), aber so richtig problematisch will es mir nicht erscheinen.
Ansonsten, bis auf die paar Fehlerchen, ein Gedicht, das mich thematisch und emotional abholt. Gerne gelesen. :smile:
LG