Moin
@Sidgrani,
toller Text! 🙂
Sehr gern gelesen, so viel schon einmal vorweg.
Mir gefällt besonders, dass er sich zunächst gar nicht wie ein sonderlich melancholischer, düsterer oder trauriger Text liest.
Auf den zweiten (stummen) Blick aber, finden sich die kleinen Nuancen schon von Anfang an.
Lass uns einmal genauer schauen:
Ich glaube, der Titel ist das schwächste Element deines Textes. Er hätte mich fast nicht gecatcht, das wäre eine Schande gewesen 😄
Man könnte diverse Nuancen aus "stumm" herausinterpretieren:
- wörtlich als ein geräuschloser Blick bzw. ein Blick im Geräuschlosen.
- als unauffälliger, beiläufiger Blick.
- als "blinder" oder kraftloser Blick (wer stumm ist, hat nicht die Fähigkeit zu sprechen - hier dann zu sehen)
- als leerer Blick (wer stumm ist, also seine Stimme nicht erhebt, wird nicht gehört, ist unsichtbar, unscheinbar, machtlos)
Nach Lektüre deines Textes wäre jede dieser Interpretationen möglich, das könnte mal als Problem auffassen^^
Kurz zum Formalen:
Metrik (4-hebiger Jambus, teils mit weiblichen Kadenzen) und Reimschema (Kreuzreim) sind sauber, ganz wunderbar.
Ich geh hier und da in den jeweiligen Strophen nochmal auf Details ein.
Der Morgen hebt den Tag ans Licht
und letzte Nebelschwaden schwinden.
Der Himmel wäscht noch sein Gesicht
und Wolken tanzen mit den Winden.
Strophe 1 beginnt sehr unbeschwert. Das könnte auch der Anfang eines heiteren Herbstgedichtes sein.
Insbesondere das "wäscht noch sein Gesicht" bringt hier eine große Alltäglichkeit ein. Das vordergründig einzig Negative, die Nebelschwaden, werden aufgelöst, es wird hell und oben tanzen Wind und Wolken beschwingt.
Dennoch kann man auch hier schon die Schwermut spüren. Das "hebt" im ersten Vers zeugt von Last und Anstrengung. Es ist etwas (körperlich) Schwieriges, diesen Tag zu beginnen.
Auch die eben von mir aufgezeigte Alltäglichkeit durch das Gesichtwaschen bekommt eine ganz andere Dimension. Wenn gerade diese so betont wird, gibt es eben vielleicht auch gar nichts anderes mehr als das monoton Immergleiche.
Die "letzten Nebelschwaden" können auch so gelesen werden, dass sie nicht die letzten sind, die an diesem M
Die Bäume schütteln aus dem Laub
die letzten Fetzen bunter Träume
und ein Gedanke kriecht im Staub
durch früher einmal helle Räume.
Bildlich geht es hier Richtung "Herbst des Lebens". Das Bunte verschwindet aus den Blättern, sie werden grau, alt und brüchig.
"Schütteln" ist hierbei noch eine Steigerung von "heben" aus S1, und bringt in die körperliche Anstrengung auch noch eine gewisse aggressive Note (Verärgerung über diesen Zustand). Diese Aggressivität wird auch aufgegriffen durch den Schlagreim mit "letzten" und "fetzen" und dem scharfen, zischenden tz.
Auch das "kriechen" ist wieder sehr körperlich, bringt sowohl Hilflosigkeit als auch etwas Grauen mit ein. Sowieso ist der im Staub kriechende Gedanke ein ganz wunderbares Bild, das für mich Lebensmüdigkeit beschreibt oder aber auch den Verlust geistiger Fähigkeiten oder Erinnerungen. Mit dem nun offenbar dunklen Raum innen haben wir einen starken Kontrast zum hellen Morgen draußen, was auch das in-sich-Eingesperrtsein des alten Mannes versinnbildlichen könnte.
Etwas unpassend finde ich den plötzlichen räumlichen Sprung innerhalb dieser Strophe. Bildlich und Räumlich sind wir in den ersten beiden Versen draußen in der Natur, während wir offenbar mit Vers 3 und 4 drinnen beim alten Mann sind.
Das ist an sich auch konsequent, da ja die Folgestrophe den Blick von innen nach außen dann aufgreift.
Aber dann hätte ich mir an dieser Stelle mindestens einen Punkt als Pause gewünscht, statt ein weiteres "und", das uns vorantreibt.
Der alte Mann blickt aus dem Fenster,
er ist seit Jahren schon bereit.
Erinnerungen sind Gespenster,
und ringsherum tropft Einsamkeit.
Hier nun der alte Mann, wie er aus dem Fenster schaut.
Unklar ist dabei, ob das, was wir die ersten eineinhalb Strophen gelesen haben, auch das ist, was der alte Mann sieht.
Vielleicht ist ja sein stummer Blick ein leerer Blick und die schöne Natur, das Erwachen des Tags geht gänzlich an ihm vorbei.
Der Mann ist bereit, das könnte man fast noch positiv betrachten. Er hat sein Leben gelebt, der Tod macht ihm keine Angst. Ich lese hier aber eher eine Bitterkeit, weil der Tod einfach nicht kommen will.
"Gespenster" fühlt sich für mich falsch an - das sind diejenigen gruseligen Gestalten, die uns bei Halloween zum Beispiel begegnen, hat auch etwas Kindliches. Passender wären ja eher die Geister, da ist der Grusel nicht so implementiert und sie drücken vielleicht besser das Unbestimmte, Verschwommene, nicht Greifbare aus. Vielleicht war der Gruselfaktor aber auch genau deine Intention und die Erinnerungen suchen den alten Mann heim? Ich will nun auch den Reim nicht zerstören, das ist auf "Fenster" schwierig genug^^
Der letzte Satz schlägt dann noch einmal richtig rein. Die tropfende Einsamkeit ist super. Auch das "Tropfen" ist für mich wieder sehr körperlich, als verlöre der alte Mann an Substanz und siecht dahin.
Auf emotionaler Ebene denkt man natürlich auch an Tränen, passt dann gut zur Einsamkeit.
Wahrscheinlich sind alle Liebsten des alten Mannes schon vergangen, wie kleine Tropfen am Fenster.
Er ist alleine und vegetiert eigentlich nur noch durch den Tag und weiß auch dessen Schönheit, die uns in der ersten Strophe noch so eindrücklich aufgezeigt wird, nicht mehr zu schätzen.
So viel zu meinen Gedanken, gern gelesen!
LG Dali Lama