Liebe Juls, lieber Herbert,
zunächst danke ich Euch sehr für Eure positiven Rückmeldungen. Und ich muss Euch recht geben: "das Leben und die Wesen, die es hervorbringt, sind in ihrer Art durchaus vollkommen" (Juls), "das Leben ist perfekt, in jedem Augenblick" (Herbert). Perfektion ist im Grunde eine menschengemachte Dimension, und ihr Gütegrad ist definitionsgemäß gar nicht erreichbar. Allerdings objektiv gesehen, wie eure Anmerkungen belegen, auch bedeutungslos.
Deine als Antwortgedicht zurückgespiegelte Variation, liebe Julie, ist sehr gelungen 😉.
Einerseits muss ich zu meinem Gedicht den Hinweis geben, dass ich die in der ersten Strophe verwendeten Begriffe "das Leben" und "diese Zeit" nicht allgemein, sondern singulär auf das LI bezogen verwendet habe (was aber natürlich nicht gerade offensichtlich ist). Das LI spricht über sich selbst und gibt seine Erfahrung weiter, damit andere es besser machen.
Andererseits möchte ich auf die Idee für meine Zeilen eingehen, den Auslöser, der allerdings sehr profan ist:
Eines Tages nahm ich einen Zirkel und zeichnete einen Kreisbogen. Wider erwarten verfehlte er allerdings die Anschlusslinien, obwohl ich mir sicher war den Mittelpunkt sorgfältig und richtig gewählt zu haben. Meine Gedanken schweiften ab und ich fragte mich, wie wohl ein Kreis beschaffen sei, wenn die Zirkelspitze nicht wohlgeformt wäre, sondern z.B. in einem Dreieck angeordnete Teilspitzen aufweisen würde, die jeweils nur für ihren Winkelbereich wirksam wären. Der Kreis wäre dann nicht vollkommen, sondern bestünde aus Bögen mit unterschiedlichem Radius. Eine solche Abweichung tritt natürlich in den Hintergrund, wenn wir den relativen Fehler betrachten. Der geht bei einem unendlich großen Radius zwar über zu Null, aber der absolute Fehler, die Differenz zwischen den Radien, bleibt.
Doch was passiert, wenn wir (theoretisch) den Radius immer weiter verkleinern? Sobald der Radius den Abstand der Seiten des Dreiecks unterschreitet, beginnt der Kreis Schleifen zu bilden, die sich kreuzen, verschlungene Pfade. Das war eine überraschende Einsicht. Sind verschlungene Pfade nicht viel schöner als nur ein ebenmäßiger Kreis, der sich im Unendlichen zu einer Geraden streckt? Diese verschlungenen Pfade habe ich auch im Bild dargestellt, das dann meiner Meinung nach - ebenso überraschend - Züge eines menschlichen Antlitz angenommen hat. So ergab sich das Gedicht.
Der Vers, "der Kreis ist öd wie die Gerade" wird damit sicherlich verständlich. Auch zu Deiner Frage, Julie, "Ist es nicht die Endlichkeit, die das Licht löscht?", kann ich antworten. Ich stelle hier einfach fest, dass das Ausmaß einer endlichen Einheit, wie z.B. "Lebens Licht", vor der unermesslichen Größe der Unendlichkeit zu Null schrumpfen muss - rein mathematisch betrachtet.
In diesem Gedicht verknüpfte ich die technisch-mathematische mit einer weltanschaulich-philosophischen Betrachtung. Das war für mich der eigentliche Reiz.
Liebe Grüße,
Athmos