Schmuddelkind
Autor
Woche 1
Der alte Mann nickt verständnisvoll, als Béla resigniert zusammenfasst: "Mathe ist so schwer. Ich verstehe gar nichts davon, was mein Lehrer da immer erzählt. Ich sehe da immer nur irgendwelche komischen Zeichen und ich verstehe nicht, was das bedeuten soll - oder wofür es gut ist. Und wenn ich mal meinen Mut zusammennehme und den Lehrer danach frage, schlägt er nur die Hand auf die Stirn und sagt: "Das ist doch aus der 8. Klasse bekannt.""
Tiefe Falten legen sich um das Lächeln des Alten, das nach all den Jahren des Unterrichts noch immer die Zuversicht einer unbekümmerten Jugend birgt und für einen Moment scheint es fast, als wäre er jünger als sein Schüler. Dieses Lächeln begleitet nun auch seine Antwort: "Ich verstehe dich gut. Ich dachte als Schüler auch, Mathematik sei kompliziert, weil ich darin nur die Zeichen erkannt habe, die man sieht. Erst als ich mit der Zeit lernte, die richtigen Fragen zu stellen, erkannte ich die leicht verständliche Bedeutung und dieses wundervolle Gedankenuniversum hinter diesen Zeichen und mit einem Mal war Differentialrechnung einfacher als die Abseitsregel.
Mir ist egal, wie dein Schullehrer das sieht, aber in meinem Unterricht gibt es keine dummen Fragen. Falsche Fragen bringen keine zufriedenstellenden Antworten, aber deswegen sind sie noch lange nicht dumm. Denn daraus kann man lernen, weitere Fragen zu stellen. Und wenn man erst einmal die richtige Frage ausgesprochen hat, ist alles ganz klar und einfach - das gilt in der Mathematik wie im Leben generell. Ich werde dir oft Fragen stellen, die du nicht beantworten kannst. Das bedeutet nicht, dass ich eine Antwort erwarte. Ich erwarte nur einen Gedanken: einen Kommentar, eine Frage, ein Problem, eine Idee. Und scheue dich nicht, zu fragen! Fragen stellen bedeutet Mathematik betreiben und ich habe noch nie einen Schüler gegessen."
Béla entfährt ein Schmunzeln: "OK!" Er ist sich nicht ganz sicher, ob er genau verstanden hat, was sein Gegenüber ihm mitteilen wollte, aber er fühlt, dass ihm ein Großteil seiner Nervosität genommen wurde. Vielleicht liegt es am ruhigen, besonnenen Tonfall des Alten, vielleicht daran, dass alles, was dieser sagte ganz und gar anders war als das, was die Lehrer, die er bisher kannte so von sich gegeben hatten. Aber dieser Lehrer scheint tatsächlich auf seiner Seite zu sein.
"Gut", sprach der alte Mann, "lass uns mal sehen, wo wir anfangen wollen. Ihr solltet in der Schule gerade quadratische Gleichungen behandeln, nicht wahr?" "Ich bin mir nicht so sicher..." "Das sind die Gleichungen mit dem x² darin." "Oh ja, genau!", erinnert sich der Junge eilig nickend. Für wenige Sekunden schaut der Mann gedankenverloren an die Decke, um sich dann nach vorn zu beugen und die Gleichung 3x²-9x=0 auf seinem Zettel zu notieren. Er legt den Stift auf den Zettel wie eine unausgesprochene Einladung und fragt den Jungen: "Hast du eine Idee, wie man diese Gleichung lösen könnte?"
Béla kommt sofort in den Sinn, was er zunächst tun würde. Aber würde der alte Mann dasselbe tun? Oder würde er die Augen rollen? Er zögert, denn er hat Angst. Vermutlich würde er sich ohnehin blamieren und er wird noch nicht einmal verstehen, was genau so blamabel an seiner Antwort ist. So langsam muss er aber etwas sagen. Ach, was soll's: "Vielleicht können wir die 9x auf die andere Seite bringen?" "Das könnten wir sicherlich tun", entgegnet der alte Mann: "Die Frage ist nur, ob wir damit Erfolg haben können. Ich kann schon mal vorwegnehmen, dass wir damit nicht sehr weit kommen werden und ich werde dir gleich auch erklären, wieso." "Oh, dann tut es mir leid. Ich dachte mir schon, dass meine Idee schlecht war." "Nein, Ideen sind immer gut. Aber Ideen bringen auch Fehler mit sich. Lernen heißt aber, über Fehler nachzudenken - nicht sich dafür zu entschuldigen. Du bist ja hier, um Mathe zu lernen. Also bist du auch hier, um Fehler zu machen." "OK!"
"Um aus diesem Fehler zu lernen, sollten wir ihn also tatsächlich erst einmal begehen - also nicht nur im Kopf, sondern auf dem Papier. Deine Idee, die 9x auf die andere Seite zu bringen, kann ich nämlich gut nachvollziehen. So ähnlich haben wir ja bisher immer Gleichungen gelöst. Wie würdest du das also anstellen?" "Ähm, plus 9x rechnen." "Genau! Dann schreib mal bitte die nächste Zeile auf!" 3x²=9x folgert Béla reflexhaft. "Richtig. Und dann?" "Durch drei teilen." "Das ist naheliegend, nicht wahr? Dann mach mal ruhig! Dem Papier kann das ja nicht weh tun." - x²=3x - "So. Was würdest du als nächstes tun?" "Vielleicht die Wurzel ziehen?" "Klar, wir denken ja bisher immer in Gegenteilen. Und die Quadratwurzel ist ja das Gegenteil vom Quadrieren." Ohne Aufforderung schreibt Béla x=3x. Da spitzt der Alte den Mund: "Vorsicht! In einer Gleichung können wir ja - fast - alles rechnen, was wir wollen, solange wir es auf beiden Seiten machen." "Klar, richtig. Danke!" Sofort korrigiert Béla seinen Fehler: x=√(3x)
Da erkennt Béla mit einem Mal das Problem: "Oh! Jetzt habe ich ja das x in der Wurzel. Das ist auch blöd." "Absolut! Was müssten wir denn jetzt machen, um das x da zu befreien?" "Wieder quadrieren. Und dann sind wir wieder am Ausgangspunkt." "Richtig - und dann würden wir wieder die Wurzel ziehen und wieder quadrieren, Wurzel, Quadrat, Wurzel, Quadrat... bis uns schwindelig wird." Plötzlich äußert Béla eine Idee: "Und was ist, wenn wir stattdessen durch x teilen?" Nun fangen die Augen des alten Mannes an zu leuchten. Seine Freude über eine selbst formulierte Idee Bélas bereits in der ersten Stunde erfüllt den ganzen Raum und durchfährt augenblicklich Bélas Bewusstsein.
"Die Idee gefällt mir! Dann wäre ja links nur noch x, denn x²:x scheint ja einfach x zu sein. Und rechts hätten wir nur noch drei. Dann wäre die Gleichung ja schon gelöst. Leider, so gerne ich das jetzt machen würde - der Gleichung gefällt diese Idee nicht." "Nein?!" fragt Béla überrascht und hakt dann scherzhaft nach: "Sture Gleichung!", woraufhin der Lehrer ins Lachen gerät. Als er sich davon wieder erholt, erklärt er: "Das Problem ist: x könnte ja auch null sein. Und wenn wir durch x teilen, könnte das also auch bedeuten, dass wir durch null teilen und das dürfen wir ja nicht." "Ach ja, stimmt." "Das findet die Gleichung dann blöd, dass wir was Verbotenes machen und wird direkt zickig und verrät uns nicht mehr all ihre Geheimnisse. Falls x nämlich tatsächlich null sein sollte, verschweigt sie uns das. Weißt du auch, warum man nicht durch null teilen darf?" Kurz überlegt Béla noch und antwortet schließlich: "Also, ich weiß, dass man es nicht darf, aber mir war nie so wirklich klar, warum." In diesem Augenblick schaut der Alte auf die Uhr - für gewöhnlich sagt ihm eine innere Stimme, wann die 45 Minuten zu Ende sind, was er sich immer noch durch einen Blick auf die Uhr bestätigen lässt: "Mit dieser Frage werden wir uns dann nächste Woche beschäftigen."
Als die beiden sich verabschieden, merkt Béla, dass er sogar ein wenig traurig ist, dass der Unterricht schon vorbei ist. Er erkennt deutlich, warum sein Lösungsweg nachvollziehbar, aber falsch war und er ist darüber überraschenderweise dankbar. Aber nun, da er weiß, wie man eine solche quadratische Gleichung nicht löst, würde er zu gerne wissen, wie es stattdessen funktioniert. Was ihn aber noch mehr beschäftigt: Zum ersten Mal ist ein Lehrer tatsächlich an seinen Ideen interessiert, selbst dann, wenn sie falsch sind.
Der alte Mann nickt verständnisvoll, als Béla resigniert zusammenfasst: "Mathe ist so schwer. Ich verstehe gar nichts davon, was mein Lehrer da immer erzählt. Ich sehe da immer nur irgendwelche komischen Zeichen und ich verstehe nicht, was das bedeuten soll - oder wofür es gut ist. Und wenn ich mal meinen Mut zusammennehme und den Lehrer danach frage, schlägt er nur die Hand auf die Stirn und sagt: "Das ist doch aus der 8. Klasse bekannt.""
Tiefe Falten legen sich um das Lächeln des Alten, das nach all den Jahren des Unterrichts noch immer die Zuversicht einer unbekümmerten Jugend birgt und für einen Moment scheint es fast, als wäre er jünger als sein Schüler. Dieses Lächeln begleitet nun auch seine Antwort: "Ich verstehe dich gut. Ich dachte als Schüler auch, Mathematik sei kompliziert, weil ich darin nur die Zeichen erkannt habe, die man sieht. Erst als ich mit der Zeit lernte, die richtigen Fragen zu stellen, erkannte ich die leicht verständliche Bedeutung und dieses wundervolle Gedankenuniversum hinter diesen Zeichen und mit einem Mal war Differentialrechnung einfacher als die Abseitsregel.
Mir ist egal, wie dein Schullehrer das sieht, aber in meinem Unterricht gibt es keine dummen Fragen. Falsche Fragen bringen keine zufriedenstellenden Antworten, aber deswegen sind sie noch lange nicht dumm. Denn daraus kann man lernen, weitere Fragen zu stellen. Und wenn man erst einmal die richtige Frage ausgesprochen hat, ist alles ganz klar und einfach - das gilt in der Mathematik wie im Leben generell. Ich werde dir oft Fragen stellen, die du nicht beantworten kannst. Das bedeutet nicht, dass ich eine Antwort erwarte. Ich erwarte nur einen Gedanken: einen Kommentar, eine Frage, ein Problem, eine Idee. Und scheue dich nicht, zu fragen! Fragen stellen bedeutet Mathematik betreiben und ich habe noch nie einen Schüler gegessen."
Béla entfährt ein Schmunzeln: "OK!" Er ist sich nicht ganz sicher, ob er genau verstanden hat, was sein Gegenüber ihm mitteilen wollte, aber er fühlt, dass ihm ein Großteil seiner Nervosität genommen wurde. Vielleicht liegt es am ruhigen, besonnenen Tonfall des Alten, vielleicht daran, dass alles, was dieser sagte ganz und gar anders war als das, was die Lehrer, die er bisher kannte so von sich gegeben hatten. Aber dieser Lehrer scheint tatsächlich auf seiner Seite zu sein.
"Gut", sprach der alte Mann, "lass uns mal sehen, wo wir anfangen wollen. Ihr solltet in der Schule gerade quadratische Gleichungen behandeln, nicht wahr?" "Ich bin mir nicht so sicher..." "Das sind die Gleichungen mit dem x² darin." "Oh ja, genau!", erinnert sich der Junge eilig nickend. Für wenige Sekunden schaut der Mann gedankenverloren an die Decke, um sich dann nach vorn zu beugen und die Gleichung 3x²-9x=0 auf seinem Zettel zu notieren. Er legt den Stift auf den Zettel wie eine unausgesprochene Einladung und fragt den Jungen: "Hast du eine Idee, wie man diese Gleichung lösen könnte?"
Béla kommt sofort in den Sinn, was er zunächst tun würde. Aber würde der alte Mann dasselbe tun? Oder würde er die Augen rollen? Er zögert, denn er hat Angst. Vermutlich würde er sich ohnehin blamieren und er wird noch nicht einmal verstehen, was genau so blamabel an seiner Antwort ist. So langsam muss er aber etwas sagen. Ach, was soll's: "Vielleicht können wir die 9x auf die andere Seite bringen?" "Das könnten wir sicherlich tun", entgegnet der alte Mann: "Die Frage ist nur, ob wir damit Erfolg haben können. Ich kann schon mal vorwegnehmen, dass wir damit nicht sehr weit kommen werden und ich werde dir gleich auch erklären, wieso." "Oh, dann tut es mir leid. Ich dachte mir schon, dass meine Idee schlecht war." "Nein, Ideen sind immer gut. Aber Ideen bringen auch Fehler mit sich. Lernen heißt aber, über Fehler nachzudenken - nicht sich dafür zu entschuldigen. Du bist ja hier, um Mathe zu lernen. Also bist du auch hier, um Fehler zu machen." "OK!"
"Um aus diesem Fehler zu lernen, sollten wir ihn also tatsächlich erst einmal begehen - also nicht nur im Kopf, sondern auf dem Papier. Deine Idee, die 9x auf die andere Seite zu bringen, kann ich nämlich gut nachvollziehen. So ähnlich haben wir ja bisher immer Gleichungen gelöst. Wie würdest du das also anstellen?" "Ähm, plus 9x rechnen." "Genau! Dann schreib mal bitte die nächste Zeile auf!" 3x²=9x folgert Béla reflexhaft. "Richtig. Und dann?" "Durch drei teilen." "Das ist naheliegend, nicht wahr? Dann mach mal ruhig! Dem Papier kann das ja nicht weh tun." - x²=3x - "So. Was würdest du als nächstes tun?" "Vielleicht die Wurzel ziehen?" "Klar, wir denken ja bisher immer in Gegenteilen. Und die Quadratwurzel ist ja das Gegenteil vom Quadrieren." Ohne Aufforderung schreibt Béla x=3x. Da spitzt der Alte den Mund: "Vorsicht! In einer Gleichung können wir ja - fast - alles rechnen, was wir wollen, solange wir es auf beiden Seiten machen." "Klar, richtig. Danke!" Sofort korrigiert Béla seinen Fehler: x=√(3x)
Da erkennt Béla mit einem Mal das Problem: "Oh! Jetzt habe ich ja das x in der Wurzel. Das ist auch blöd." "Absolut! Was müssten wir denn jetzt machen, um das x da zu befreien?" "Wieder quadrieren. Und dann sind wir wieder am Ausgangspunkt." "Richtig - und dann würden wir wieder die Wurzel ziehen und wieder quadrieren, Wurzel, Quadrat, Wurzel, Quadrat... bis uns schwindelig wird." Plötzlich äußert Béla eine Idee: "Und was ist, wenn wir stattdessen durch x teilen?" Nun fangen die Augen des alten Mannes an zu leuchten. Seine Freude über eine selbst formulierte Idee Bélas bereits in der ersten Stunde erfüllt den ganzen Raum und durchfährt augenblicklich Bélas Bewusstsein.
"Die Idee gefällt mir! Dann wäre ja links nur noch x, denn x²:x scheint ja einfach x zu sein. Und rechts hätten wir nur noch drei. Dann wäre die Gleichung ja schon gelöst. Leider, so gerne ich das jetzt machen würde - der Gleichung gefällt diese Idee nicht." "Nein?!" fragt Béla überrascht und hakt dann scherzhaft nach: "Sture Gleichung!", woraufhin der Lehrer ins Lachen gerät. Als er sich davon wieder erholt, erklärt er: "Das Problem ist: x könnte ja auch null sein. Und wenn wir durch x teilen, könnte das also auch bedeuten, dass wir durch null teilen und das dürfen wir ja nicht." "Ach ja, stimmt." "Das findet die Gleichung dann blöd, dass wir was Verbotenes machen und wird direkt zickig und verrät uns nicht mehr all ihre Geheimnisse. Falls x nämlich tatsächlich null sein sollte, verschweigt sie uns das. Weißt du auch, warum man nicht durch null teilen darf?" Kurz überlegt Béla noch und antwortet schließlich: "Also, ich weiß, dass man es nicht darf, aber mir war nie so wirklich klar, warum." In diesem Augenblick schaut der Alte auf die Uhr - für gewöhnlich sagt ihm eine innere Stimme, wann die 45 Minuten zu Ende sind, was er sich immer noch durch einen Blick auf die Uhr bestätigen lässt: "Mit dieser Frage werden wir uns dann nächste Woche beschäftigen."
Als die beiden sich verabschieden, merkt Béla, dass er sogar ein wenig traurig ist, dass der Unterricht schon vorbei ist. Er erkennt deutlich, warum sein Lösungsweg nachvollziehbar, aber falsch war und er ist darüber überraschenderweise dankbar. Aber nun, da er weiß, wie man eine solche quadratische Gleichung nicht löst, würde er zu gerne wissen, wie es stattdessen funktioniert. Was ihn aber noch mehr beschäftigt: Zum ersten Mal ist ein Lehrer tatsächlich an seinen Ideen interessiert, selbst dann, wenn sie falsch sind.