Zum Inhalt springen

Wolkenwolf

Autor
  • Gesamte Inhalte

    122
  • Benutzer seit

  • Letzter Besuch

1 Benutzer folgt diesem Benutzer

Autorenleben

Letzte Besucher des Profils

Der "Letzte Profil-Besucher"-Block ist deaktiviert und wird anderen Benutzern nicht angezeigt.

  1. Das Erwachen der Nacht Die Nacht war stark in mir, Ein nimmersattes Tier, Warf ihren Mantel weit. Sie schlang, was gut und recht, Hinunter – nahm, was schlecht Aus der Vergangenheit. «Oh Mutter, geh nicht fort! Sag mir, was willst du dort, An fremdem Mannes Strand?» «Ach Vater, nimm mich mit! Ich halte nicht mehr Schritt, Drum reich mir deine Hand.» Die Nacht ist stark in mir, Voll ungestillter Gier, Schickt ihre Schergen aus. Verbrannt vom Sonnenlicht, Find ich den Rückweg nicht Ins alte Schneckenhaus. «Ach Mutter, nimm dein Glück Und kehre nicht zurück! Vergesst, was ihr noch wisst.» «Oh Vater, dreh dich um! Sag mir nochmal, warum Du fortgegangen bist.» Die Nacht wird stark in mir Und weilt auf ewig hier, Gleich einem schwarzen Meer… ___ © Wolkenwolf
  2. Vielen Dank für eure Kommentare. 🙂 @gummibaum Du bringst es auf den Punkt. Mit der Schuld ist die Vergangenheit des Erzählers gemeint. Die Sünden und Fehler seines bisherigen Lebens nagen in der Gegenwart an ihm und begleiten ihn auf Schritt und Tritt.
  3. Ein Loch im Herzen Das Silber des Himmels ist Zeuge, Dass ich mich den Regeln nicht beuge; Denn ich jage allein, Mag es immer so sein; Mit einem Loch in meinem Herzen. Die einstmals so tapfere Meute, Längst blind für die lohnende Beute, Trägt mit gläsernem Blick Schon das Beil im Genick; Mit einem Loch in ihren Herzen. Ein wilder Tanz bringt es ins Wanken, Weisst den Quell zu schnell in die Schranken; Welcher Schritt darf es sein? Lass dich nicht darauf ein! Mit einem Loch in deinem Herzen. Das Schweigen im Walde spricht Bände; Verwehrt bleiben Lippen und Hände, Weil niemand sich bindet, Im Dunkeln sich findet; Mit einem Loch in jedem Herzen. ___ © Wolkenwolf
  4. Das Schaf im Wolfspelz Da waren Winter, Eis und Schnee – Sie liessen dich wie selten frieren, Beinahe den Verstand verlieren; Der Anblick tat im Herzen weh. Da war ein Trommeln in der Brust Und Worte, die sich zärtlich streiften, Wie Nebel durch die Lüfte schweiften, Als hätten sie es längst gewusst. Da waren Wein und heisser Tee Und dennoch konntest du’s nicht lassen, Ich musste dich erst sanft umfassen, Damit ich dich nicht frieren seh’. Da waren Schlange, Wolf und Schaf – Und Katzen, über die wir lachten, Die uns einander näherbrachten, Wie wir oft frech und selten brav. Da war ein allererster Schritt, Auf den noch viele folgen sollten; Sag, ist die Schuld bald abgegolten? Die vielen Jahre reisen mit. ___ © Wolkenwolf
  5. Wolkenwolf

    Raus aus meinem Kopf

    Raus aus meinem Kopf Wenn ich glaube, jeden Winkel zu kennen, Jede Strasse, jedes Haus kann ich nennen, Und meine Gedanken sind sachlich sortiert, Dann weiss ich oft schon, was jetzt passiert. Plötzlich fängt meine Welt an sich zu drehen Und die Uhren scheinen rückwärts zu gehen; Ich schau zu, wie sich die Wände verschieben, Als meine Wahrheit beginnt sich zu biegen. Raus aus meinem Kopf! Nur einmal will ich nicht ganz bei mir sein; (Ich will:) Raus aus meinem Kopf! Wie kann ich mich nur von mir selbst befrei’n? Raus aus meinem Kopf! In meinem Kopf scheint ein Schneesturm zu toben Er ist überall, rechts, links, unten, oben Man kann die Hand vor den Augen kaum sehen Sind da Stimmen? Ich kann sie nicht verstehen. Es ist viel zu schwer in Worte zu fassen, Denn die Gedanken, sie können’s nicht lassen; Weil sie nur springen und tanzen und hasten Und das am Ende allein mir zu Lasten! Raus aus meinem Kopf! Nur einmal will ich nicht ganz bei mir sein; Raus aus meinem Kopf! Wie kann ich mich nur von mir selbst befrei’n? Raus aus meinem Kopf! ___ Wolkenwolf, 2023
  6. Hallo Darkjuls, Danke für deinen Kommentar. Das mit dem Sterben... Ich sehe es eher so, dass man bereit sein muss, alles zu tun, was nötig ist. Man muss bereit sein, alles, was man ist, herzugeben, um ein besserer Mensch zu werden, indem man sich seine eigenen Fehler eingesteht und dann versucht, sich zu verbessern. LG WW
  7. Fehler frei! (Ich bin dein Richter) Du bist der Letzte, der mich Demut lehren kann, Hältst du die Narren stets auch fest in deinem Bann; Wenn mein Blick doch niemals mehr den deinen findet, Wird es dein Licht sein, das noch vor meinem schwindet. Diskretion lenkt jeden deiner leisen Schritte; Perfektion, glaubst du, entspringt aus deiner Mitte? Wie tief der Stock in deinem Arsch tatsächlich steckt, Hat noch niemand, am wenigsten du selbst, entdeckt. Dein Lächeln ist falscher noch als dein Benehmen; Menschen, frei von Fehlern, fangt an, euch zu schämen! Sucht die Schuld in jedem Spiegel, allen Scherben, Such in dir und sei bereit, dafür zu sterben! ___ © Wolkenwolf, Mai 2022
  8. Hallo @horstgrosse2 Das ist die erste konstruktive Kritik, die ich zu meinen Videos bekomme, dafür danke ich dir 😁 Das mit der Musik ist mMn Geschmackssache, ich fand sie jetzt für dieses Gedicht ganz passend. Die Lautstärke bzw. das Verhältnis ist aber ein wiederkehrendes Problem bei vielen meiner Aufnahmen, da stimme ich dir zu. Da darf ich noch einiges dazulernen. Freut mich aber, dass du den Text generell interessant findest. Das Gedicht habe ich hier im Forum im Mystik- und Fantasie-Bereich gepostet, falls du es noch einmal nachlesen möchtest. 😉 Beste Grüsse WW
  9. Wolkenwolf

    Hörspiel: Die Zauberin

    Die griechische Mythologie fasziniert mich schon sehr, sehr lange. Während meiner Schulzeit unternahmen wir mit der gesamten Klasse einen Kino-Nachmittag, an dem wir uns Disney’s Version von Hercules (1997) ansahen. Bis heute einer meiner absoluten Lieblings-Disneyfilme. In meiner Kindheit bereiste ich mit meinen Eltern die griechische Insel Kreta. Später vertiefte ich mich in die verschiedenen Sagen von Ikarus und seinem Flug bis zur Sonne, von Orpheus und seiner Reise in die Unterwelt, vom Minotaurus, von Sisyphos, Zeus, Persephone, den Argonauten und wie sie alle heissen. Die griechische Mythologie inspirierte auch viele von mir favorisierte Künstler zu bestimmten Werken. Die Sage von Sisyphos beispielsweise begegnet uns im gleichnamigen Song der Band Samsas Traum (Oh Luna mein, 2000). Von Ikarus und Orpheus hören wir in Katharsis der Band Adversus (Winter, so unsagbar Winter, 2003). Orpheus spielt auch eine gewisse Rolle in der Tintenwelt-Buchreihe von Cornelia Funke (Cecilie Dressler Verlag, ab 2003), wo er allerdings eher als Antagonist auftritt. Zu erwähnen wären vielleicht noch gewisse Games wie Assassins Creed Odyssee (Ubisoft, 2018), dessen Handlung im antiken Griechenland spielt. Oder das grandios humorvolle Immortals Fenyx Rising (Ubisoft, 2020), in dem man ebenfalls die griechische Sagenwelt bereist. Genug der Werbung! Eigentlich wollte ich damit nur aufzeigen, dass sich viele moderne Künstler gern von der griechischen Mythologie beeinflussen lassen und ich im Laufe meines Lebens immer wieder darüber gestolpert bin. Genau so wie vor einigen Monaten, als ich in Konstanz in einem grösseren Buchladen auf den Roman Ich bin Circe (Ullstein Buchverlage, 2019) der US-Autorin Madeline Miller stiess. Das war dann aber auch die letzte Werbung, ich schwör’s! Von der Zauberin aus Homers Odyssee-Epos hatte ich bis anhin auch schon das eine oder andere Mal erfahren. Unter anderem wird sie in den Harry Potter-Romanen (Carlsen, ab 1997… Ich geb’s auf…) erwähnt, wo Harry sie auf eine der Schokofrosch-Karten wiedererkennt. Wenn mich etwas ähnlich fasziniert wie die griechische Mythologie, dann sind es Hexen bzw. Zauberinnen. Und weil Circe – bzw. auch Kirke oder Zirze – das Beste aus beiden Welten in sich vereint, war mir schnell klar, dass ich etwas über sie schreiben wollte. Die ersten Versuche in Form eines Gedichts gerieten allerdings eher schlecht. Den Versen fehlte die Magie, die Mystik, sie waren zu humoristisch und fingen den Geist der antiken Zauberin, die Menschen in Tiere verwandelt, nicht richtig ein. Ich liess die Idee also erstmal für eine Weile liegen und widmete mich anderen Projekten. Bis mir ein anderes Lyrik-Projekt die entscheidende Idee lieferte. Dort bediente ich mich des Reimschemas von ASPs lyrischem Kurzroman Der Fluch (2012), um eine scheussliche und über mehrere Jahre andauernde Episode aus meiner Lehrzeit künstlerisch zu verarbeiten. Das gefiel mir so gut, dass ich der festen Überzeugung war, es würde auch meinem Text über die Zauberin Circe zu einer gewissen Seriosität verhelfen. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon länger nicht mehr an einem Gedicht gearbeitet. Allerdings fand ich mich erstaunlich schnell wieder damit zurecht und hatte so viel Spass am Reimen und Ausgestalten der Verse, dass ich zwei Tage lang immer wieder an diesem Text arbeiten konnte und auch wollte. Ein gewisses Augenzwinkern und die nötige Portion Witz, die im Grunde allen meinen Werken anhaftet, ist auch hier wieder zu finden. Ich bin allerdings der Meinung, dass das Gedicht zu Circe von dem Reimschema nur profitiert hat.
  10. Landauf landab redeten die Leute über die Grosse Stadt. Viele arbeiteten ihr ganzes Leben lang und sparten alles Geld, das sie verdienten, um sie nur einmal aus der Nähe sehen zu können. Jeder wusste, dass die Grosse Stadt niemals schlief. Selbst nach der Abenddämmerung war sie so hell erleuchtet, als würde die Sonne über den hohen Häusern und Türmen ewig scheinen. Nahezu jeden Tag trafen Neuigkeiten aus der Grossen Stadt ein. Die Menschen sprachen darüber, welche Mode die Städter gerade trugen, welchen Wein sie tranken und wie sie ihre Häuser ausstaffierten. Worüber die Menschen hingegen nicht sprachen – und wenn doch, dann nur hinter vorgehaltener Hand – war die Königin der Nacht. Die Königin der Nacht herrschte im Geheimen über die Grosse Stadt. In den Gasthäusern und Kneipen wurde gemunkelt, dass sie eine Armee aus Schatten befehligte. Tagsüber sahen sie wie Menschen aus. Ihre Haut war von einer vornehmen Leichenblässe, wie sie nur die gutbetuchten Städter auszeichnete. Schwarze Stoffe verhüllten ihre Körper. Unheimlich schienen sie, bewegten sie sich doch so leise und bedacht, dass sie manchmal mit den übrigen Schatten der Stadt zu verschmelzen schienen. Niemand wusste so recht, ob sie vielleicht gefährlich waren. Viele dachten, sie spionierten womöglich für die Königin der Nacht und trugen ihr alles zu, was während ihrer Abwesenheit vor sich ging. Denn die Königin der Nacht, so hiess es, zeige sich nur drei Mal im Jahr: Einmal im späten Frühling, wenn die Schachblumen blüten; im Sommer, im Zeichen des honigfarbenen Mondes und zur Herbstmitte, kurz bevor die Grenze zwischen dem Reich der Lebenden und der Toten offen stand. Zu den genannten Zeiten fand in der Grossen Stadt ein geheimer Maskenball statt. Nur diejenigen, die eine Einladung von der Königin persönlich ausgestellt bekamen, durften daran teilnehmen. Manche munkelten, dass auch sie in diesen Nächten zu Schatten wurden. Sie tanzten die ganze Nacht hindurch, tranken blutroten Wein und liessen sich vom gereichten Zuckergebäck verführen. So wurden sie schliesslich eins mit der Finsternis und wandelten bereits am nächsten Morgen als neue Schatten umher. Freilich konnte dies niemand belegen. Denn niemand, der auf die Feierlichkeiten zu Ehren der Königin eingeladen war, erzählte je davon. Es gab natürlich einige, die sich jedes Mal brüsteten, wieder eine Einladung erhalten zu haben. Doch wenn dies stimmte, so nahmen sie am Ende doch nicht am Maskenball teil - aus Angst, selbst zu Schatten zu werden - oder sie hatten ganz einfach gelogen. Weit entfernt von der Grossen Stadt lebte einst ein Kaufmannssohn. Er wohnte gemeinsam mit seiner Mutter in einer Siedlung, in der jedem Haus eine Tür von ganz bestimmter Farbe zugewiesen war. Dies half den Bewohnern, die Häuser, die sonst alle gleich aussahen, besser auseinanderzuhalten. Denn die Familie hinter der orangefarbenen Tür wollte sich nicht das Haus des Mannes mit der himmelblauen Tür verirren und schon gar nicht in das der alten Vettel hinter der scharlachroten Tür. Wo doch jeder mit seinem eigenen Leben schon genug zu schaffen hatte. Die Tür zum Haus des Jünglings und seiner Mutter war rosafarben. Allerdings benutzte der junge Mann sie nicht sehr häufig, denn er verliess das Haus, wann immer er konnte. Seine Mutter litt, seit der Vater fortgegangen war, unter einer schlimmen Schwermut. Wohl deshalb war sie dem billigen Wein aus der Gegend so zugetan und auch deshalb hatte sie sich mit ihrem Sohn so schlimm zerstritten, dass es für beide besser war, wenn sie sich aus dem Weg gingen. Der Junge träumte wie die meisten anderen in seinem Alter - er hatte zu diesem Zeitpunkt 17 Winter gesehen - von der Grossen Stadt. Doch er wusste, mit seinem mageren Lehrlingslohn, den er in der Schreibstube im Ort verdiente, würde er niemals auch nur in ihre Nähe gelangen können. So begnügte er sich damit, Tag für Tag die Schriftstücke fremder Leute zu kopieren und zu lesen, während in seinem Leben sonst nichts von grösserem Belang geschah. Der Herbst kam und mit ihm ein Tag, an dem der junge Mann wie so oft versonnen aus dem Fenster des Skriptoriums blickte, in dem er arbeitete. Er sah zu, wie der Wind das Laub von den Blättern wehte: Zitronengelb, orange-rot, kupferfarben… Der Anblick stimmte ihn über die Massen melancholisch. Seine Gedanken glitten zu dem Messer hinüber, mit dem er in der Küche seines Meisters Kuchen auf Teller verteilt hatte. Er dachte darüber nach, ob dieses Küchenmesser wohl scharf genug war, um… Doch in diesem Moment segelte etwas, das kein Laubblatt war, durch das offene Fenster in die Schreibstube. Wie für ihn adressiert, landete das Etwas auf dem Pult des Jungen. Verblüfft stellte er fest, dass es sich tatsächlich um einen Brief handelte, der mit einem tintenschwarzen Siegel versehen war. Noch überraschter war er allerdings, als er seinen Namen auf dem Umschlag wiederfand. Vorsichtig, so wie es seine Art war, öffnete der Jüngling das Schreiben. Er entfaltete das Papier - es war eine hochwertige Art von Pergament, wie er sogleich erkannte - und begann zu lesen. Dabei wanderten seine Augen langsam von links nach rechts. Als er geendet hatte, liess der Junge das Schreiben sinken. Niemand anderes als die Königin der Nacht hatte ihm eine Einladung zukommen lassen. Eine Einladung zum geheimen Maskenball. Mit klopfendem Herzen spähte er aus dem Fenster. Hatte womöglich ein Schatten, ein Diener der Königin, den Brief überbracht? Lauerten sie in diesem Augenblick dort draussen? Versteckten sie sich in den Nischen der Häuser und zu den Füssen der Bäume? Doch andererseits, was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Er war auserwählt worden! Nicht nur das: Der Brief verriet ihm auch den Treffpunkt - den Ort, an dem die anderen Teilnehmer sich versammeln würden, um gemeinsam die Feierlichkeiten aufzusuchen. Obendrein enthielt das Schreiben einen Namen, den sogenannten “anderen Namen”. Ein Alias, das er verwenden müsse, um zum Ball zugelassen zu werden, wie im Brief beschrieben wurde. Des Weiteren wurde er angewiesen, ausschliesslich schwarz zu tragen. Das war nicht weiter verwunderlich. Die Schatten waren, das wusste jeder, stets in schwarze Gewänder gehüllt. Aber war an den Gerüchten, die überall herumerzählt wurden, etwas dran? Würde er nun auch zu einem Schatten werden, wenn er den Ball besuchte? Gleichzeitig dachte er nicht einen Moment lang darüber nach, die Einladung der Königin auszuschlagen. Dies war die Gelegenheit, nach der er gesucht hatte. Die Chance, seinem tristen Leben und der Enge hinter der rosafarbenen Tür endlich zu entfliehen. *** Am in dem Brief beschriebenen Tag holte der Junge seinen besten schwarzen Gehrock hervor. Er zog die abgetragenen Stiefel an - zu seinem Bedauern besass er zu diesem Zeitpunkt nichts Besseres - und band sich das Haar zurück, das für gewöhnlich bis über seine Schultern wallte. Er las noch einmal den Brief. In diesem wurde ihm versichert, dass eine Kutsche ihn wohlbehalten bis in die Grosse Stadt bringen werde. Als die Abenddämmerung sich näherte, verliess der Junge das Haus und schlug die rosafarbene Tür hinter sich zu. Seine Mutter war nicht zuhause. Zum Glück, denn so musste er ihr keine Rechenschaft darüber ablegen, wo er um diese Zeit und in seinem Aufzug noch hinzugehen gedachte. Der junge Mann versicherte sich, dass er abgeschlossen hatte. Als er sich umwandte, staunte er nicht schlecht. Vor ihm stand eine Kutsche aus schwarz lackiertem Holz, vor die zwei prächtige Rappen gespannt waren. Jedes der Pferde erschien gewaltig, muskulös und wie dafür gemacht, um viele Stunden ohne Unterlass zu traben. Ihr Fell war geradezu unnatürlich schwarz, dunkler als die dunkelste, sternenlose Nacht. Die Pferde der Königin, dachte der Jüngling ehrfürchtig. Der Mann, der auf dem Kutschbock sass - eine vermummte Gestalt, die wie ein Haufen dunkler Lumpen anmutete, gekrönt von einem Zylinder - sagte nichts. Er deutete nur mit ausgestrecktem Daumen auf die Kutsche hinter sich, was wohl so viel heissen sollte wie: Steig ein! Der Junge tat, wie ihm geheissen und öffnete die mit Ornamenten verzierte Tür. Kaum hatte er sich auf der Polsterbank im Inneren des Kutschenwagens niedergelassen, schon setzte sich die Kutsche in Bewegung. Die Fenster waren mit Tüchern verhangen, sodass der junge Mann nicht nach draussen blicken konnte. Sie liessen gerade so das Licht eines schwindenden Tages herein und wie die Stunden vergingen, so wurde der Junge schläfrig. Er musste wohl eingedöst sein, denn eine unbestimmte Weile später hielt die Kutsche mit einem sanften Ruck. Der Junge blinzelte. Ihm war die Reise zur Grossen Stadt nur wie ein paar Minuten vorgekommen. Doch genauso gut hätten Tage oder Jahre vergangen sein können. Ein wenig ängstlich und mit weichen Knien stieg er aus. Noch ehe er etwas sagen oder um sich umdrehen konnte, fiel die Tür hinter ihm zurück ins Schloss. Die Pferde verfielen wieder in ihren gleichmässigen Trab und der Kutscher verschwand mitsamt seines Höllengefährts inmitten der Stadt. Der Grossen Stadt, wurde dem Jungen in diesem Moment schlagartig klar, während er noch in die Richtung starrte, in die die Kutsche verschwunden war. Seine Augen weiteten sich. Staunend, mit offenem Mund blickte er sich um. Die Stadt war tatsächlich so, wie man sich bei ihm zuhause immer erzählt hatte. Wenn auch nicht ganz so bunt. Eine Vielzahl an Häusern ragte wie mahnende Finger in den Himmel und versperrte ihm die Sicht. In manche von ihnen waren sonderbare Uhren eingelassen, die nicht die Zeit, aber irgendetwas anderes anzuzeigen schienen, an dem sich die Menschen hier offenbar orientierten. In allen Formen und Grössen eilten sie an ihm vorbei, rempelten sich gegenseitig an, lachten, fluchten, klagten und plapperten durcheinander. Während der Bursche sich immer noch staunend um sich selbst drehte, nahm er die zahlreichen Gerüche der Grossen Stadt war. Es roch nach Essen, scharfen Gewürzen und Kräutern, Pferdedung und Schweiss. Das war zunächst nichts Ungewöhnliches, doch in der hier schienen sich all diese Eindrücke zu verstärken, so sehr, bis sie kaum mehr auszuhalten waren. Der Jüngling selbst befand sich, wie er jetzt bemerkte, auf einem weitläufigen Platz am Rande eines Parks. In der Nähe sprudelte ein Brunnen in der Form eines vierblättrigen Kleeblatts. Die bronzenen Figuren an den Rändern zeigten Frauen, offensichtlich Fischweiber, mit Krügen und Trauben und Netzen in den Händen. In ihrer Mitte thronte ein Mann mit langem Haar und einem Dreizack in den Händen. Ein König der Meere. Als der Junge sich umsah, erkannte er, dass er nicht alleine hergekommen war. Viele junge Männer und auch Frauen in schwarzen Gewändern drückten sich in Reichweite des Brunnens herum. Manche umklammerten wie er noch die Einladung der Königin, andere lachten und redeten aufgeweckt miteinander. Seinem eigenen Brief entnahm er, dass er sich mit einer bestimmten Gruppe zu treffen hatte. Allerdings war ihm nicht ganz klar, um welche Gruppe es sich dabei handelte. “Haltet nach einem Mann im selben Alter Ausschau, schwarzes Haar, schwarzer Mantel, schwarzes Armband.” Nach einer Weile glaubte der Junge, es müsse sich bei der Beschreibung wohl um einen Scherz handeln. Sie traf nahezu auf jeden zweiten Mann auf diesem Platz zu. Er ging ein paar Mal über den Platz und um den Brunnen herum, um dann von vorne zu beginnen. Mit der Zeit sank ihm der Mut und er wollte bereits aufgeben. Da fiel ihm eine Gruppe auf, die etwas abseits des Brunnens nahe einer kleinen Kirche stand. Sie redeten vergnügt miteinander und unter ihnen erspähte er auch einen Burschen, auf den die Beschreibung im Brief zutraf. Als er sich ihnen näherte, schaute der Fremde zu ihm auf. Er wirkte noch wie ein Mensch, so viel stand fest. Seine Haut war vielleicht ein bisschen zu blass, er selbst hoch an Wuchs und schmal. Doch als sich ihre Blicke trafen, schienen sie etwas in einander zu erkennen. Es war, als schaue man einem lange verlorenen Bruder in die Augen - einem Freund, der nach jahrelanger Abstinenz endlich nach Hause zurückkehrte. Der Jüngling trat auf ihn zu und nannte ihm seinen Anderen Namen. Der Mann ihm gegenüber lächelte geheimnisvoll. Danach dauerte es nur eine kurze Weile und schon unterhielt sich der Jüngling ausgelassen mit den anderen. Sie erzählten sich Geschichten aus ihrer Heimat. Er erzählte ihnen von der rosafarbenen Tür und seiner Mutter, doch schon bald sprachen sie auch über den bevorstehenden Maskenball. Dem Jungen kam es so vor, als wäre er schon immer Teil von ihnen gewesen, die offensichtlich weder Menschen noch Schatten waren. Unter ihnen befand sich eine Frau, die zunächst gar nicht als solche zu erkennen war. Sie trug einen schwarzen Mantel, der ihr ein wenig die Konturen eines Mannes verlieh. Doch das Strahlen ihrer nussbraunen Augen und ihr Lachen erregten die Aufmerksamkeit des Jungen. Sie erklärte ihm, dass dies nicht die Nacht des Maskenballs sein würde. Stattdessen würden sie gemeinsam die Gasthäuser der Grossen Stadt besuchen, die Ateliers und Theater, Parks und Museen, bis die tatsächliche Einladung der Königin sie erreichte. So geschah es. In der kommenden Zeit lernte der Junge seine neuen Freunde besser kennen. Er lernte, wie ein Schatten zu leben, sich lautlos fortzubewegen, die Nacht zu umarmen und nach den Hinweisen auf die Königin Ausschau zu halten. Denn nur ein Brief mit einem tintenschwarzen Siegel, das begriff der Jüngling schnell, befähigte noch nicht dazu, am geheimen Maskenball teilzunehmen. Es galt, ein Freund der Schatten zu werden, die Wege zu beschreiten, auf denen sie wandelten und die Welt mit ihren Augen zu sehen. Wie sich herausstellte, ging es dabei vor allem um Musik. Es war nicht die Musik, die gewöhnliche Menschen machten oder hörten. Es war die Musik, die man nur in ganz bestimmten Momenten wahrnehmen konnte, wenn man ganz genau hin hörte. Der Klang des fallenden Regens auf Stein, das Schnurren einer Katze, das Zwitschern der Vögel. Hier ein Summen, dort eine Melodie, ganz fein, Zwischentöne nur, und doch ganz und gar wahrhaftig. All diese Dinge lernte der junge Mann zu hören und verlor dabei eines nie ganz aus dem Sinn: Das Mädchen mit den nussbraunen Augen. Bald wussten alle Halbschatten, mit denen er durch die Grosse Stadt zog, dass er an sie dachte. Dass sie Teil seiner Träume und seines Sehnens war. Nur er selbst war sich dessen nicht so sicher. Konnte er sich denn mit einem Halbschatten einlassen? War das für einen Menschen wie ihn möglicherweise gefährlich? Dann kam der Tag, an dem sein Bruder an ihn herantrat und verkündete, dass es nun an der Zeit sei. Der Maskenball würde stattfinden und er, der Jüngling, würde sich mit ihnen dorthin begeben, um der Königin der Nacht seine Aufwartung zu machen. *** Als die Dämmerung über der Grossen Stadt hereinbrach, verwandelte sich der Junge in einen Halbschatten. Sein Mantel wehte sacht in der Abendbrise und die neuen Stiefel an seinen Füssen fühlten sich angenehm schwer an, so als hielten sie ihn in der Wirklichkeit fest. Gegen die aufziehende Kälte trug er einen Schal, der ebenso schwarz war wie alles andere an ihm. Sein Bruder und die anderen hatten ihm gesagt, wohin er gehen müsse, um zum geheimen Maskenball zu gelangen. Eine Kutsche brachte ihn in einen Stadtteil etwas südöstlich des Zentrums. Dort sah er bereits, wie sich einige andere so wie er auf den Weg zu den Feierlichkeiten machten. Die Menschen, die auf den Strassen unterwegs waren, warfen ihm angsterfüllte Blicke zu und ein kleines Mädchen deutete sogar mit dem Finger auf ihn, bis ihre Mutter sie hastig weiter zerrte. Es war ein grossartiges Gefühl. Je mehr er der Welt der Menschen entglitt, desto mehr hatte der Junge seltsamerweise das Gefühl, einer von ihnen zu werden. So als wurde er erst jetzt zu dem Menschen, der er immer hatte sein wollte. Leibhaftig. Lebendig. Ein Schatten. Er folgte den anderen Halbschatten über einige verschlungene Strassen und Wege bis hin zu einem Park. Dort war es bereits so finster, dass man zwischen den Bäumen den Weg fast nicht mehr erkennen konnte. Der Jüngling hielt sich mit den anderen am Ufer des Flusses, der linker Hand in etwa 70 Schritt Breite an ihnen vorbeifloss. Während sie gingen, schnappte er einige ihrer Gespräche auf. Es ging natürlich um den Maskenball der Königin. Manche waren nervös. Andere frohlockten und konnten es kaum erwarten. Wieder andere erzählten sich Legenden über den Fluss und den Park, an dem sie vorüberliefen. Manchmal solle es dort wie magisch nach Rosen duften, behauptete jemand. Eine Vielzahl Soldaten aus dem letzten Krieg lägen hier begraben, doch kaum jemand wisse noch Genaueres darüber. Der junge Mann warf einen Blick über den Fluss und bemerkte einige Laternen, die ihr orangerotes Licht über die Wasseroberfläche warfen, wie Irrlichter. Die Szenerie hatte etwas Zauberhaftes an sich und je weiter sie durch den finsteren Park gingen, desto stärker hatte er das Gefühl, die Welt, so wie er sie immer gekannt hatte, hinter sich zu lassen. Als sie eine Weile gegangen waren, kam die kleine Gruppe schliesslich bei einer steinernen Brücke an. Sie bog sich über den Fluss und führte offenbar zu einer Art Insel, auf welcher der Junge jetzt die Silhouette eines hoch aufragenden, turmartigen Gebäudes ausmachen konnte. Auch hier erhellten Laternen die Düsternis. Zwar machte dieser Ort auf den ersten Blick einen ganz gewöhnlichen Eindruck. Doch ob ein gewöhnlicher Mensch ihn gefunden hätte, ohne zu wissen, wo er suchen musste, das bezweifelte der Junge. Sie waren eine ganze Weile durch die Dunkelheit gegangen. Der Weg war ihm ein wenig wie die Reise in die Grosse Stadt erschienen, damals, vor einer gefühlten Ewigkeit. Wer konnte sagen, ob sie Minuten, Stunden oder gar Jahre und Jahrzehnte unterwegs gewesen waren? Schnell hatte er seine Freunde entdeckt. Sie standen bereits auf halbem Weg über die Brücke und winkten ihm freudig zu, als sie ihn erkannten. Unter ihnen war auch seine Herzdame mit den nussbraunen Augen. Als er sie sah, war der junge Mann einen Augenblick lang sprachlos. Wie er sie so musterte, errötete sie, doch war das im Dämmerlicht der Laternen nur schwer zu erkennen. Für den Maskenball trug sie ein Kleid, das aus Nacht und Spinnenseide gewebt zu sein schien. Hier und da glitzerten Silberfäden auf dem dunklen Stoff und brachten das Mädchen über ihre Erscheinung hinaus zum Strahlen wie den Sternenhimmel. Gemeinsam schritten sie über die Brücke, wobei der Jüngling noch einmal einen letzten Blick auf die Wasseroberfläche warf. Rabenschwarz floss der Fluss dahin, träge, sodass er kaum ein Geräusch verursachte. Als sie das turmartige Gebäude erreichten, welches der Bursche aus der Ferne bereits gesehen hatte, geriet er abermals ins Staunen. Es glich einer Art Tempel oder Kirche und war durchzogen von Schatten. Richtigen Schatten, keinen Halbschatten. Sie waren buchstäblich überall, tummelten sich zwischen den Säulen, kauerten grüppchenweise entlang des Flussufers und schwebten unter den Baumkronen. “Willkommen bei der Königin der Nacht!” Etwas an der Art, wie sein Bruder das sagte, liess den Jungen stutzen. Er blickte auf den unheimlichen Sakralbau, auf die Schatten, die in der Dunkelheit tanzten. Dann dämmerte es ihm. Es gab gar keine Königin. Das, was die Schatten als “Die Königin der Nacht” betitelten, war all das hier - der Maskenball selbst. Es handelte sich nicht um eine Person, sondern um eine Zusammenkunft, ein Treffen aller Schatten aus der Grossen Stadt. Genauso musste es sein. Noch eher der Junge weiter darüber nachdenken konnte, schoben ihn die Freunde auch schon voran, direkt auf die Eingangspforte des Turms zu. Er fingerte nach seiner Einladung und nannte dem Schatten an der Tür seinen anderen Namen. Dann wurde er eingelassen. Im Inneren waberte künstlich erzeugter Nebel über den Boden, sodass man seine Füsse nicht mehr sehen konnte. Geradezu führte eine Treppe hinauf in die Turmzimmer oder aber hinab ins Kellergewölbe, aus dem in diesem Augenblick eine schaurige Musik nach oben drang. Rechts bewegten sich zahlreiche Schatten im angrenzenden Tanzsaal zu wieder einer anderen Musik, die aus dem Nichts, vielleicht irgendeiner jenseitigen Phäre zu stammen schien. Nicht wenige tranken den blutroten Wein, von dem in den Geschichten oft die Rede war. Ihre Körper waren tiefstes Schwarz, während ihre Gesichter von schneeweissen Masken aller Formen und Grössen verhüllt waren. Sie erinnerten den Jüngling an die Legende von der Schwimmenden Stadt, die sich irgendwo weit im Süden befinden solle. Dort, so hiess es, solle es ähnliche Feste geben, an denen die Besucher ausschliesslich maskiert oder gleich gänzlich verkleidet erscheinen würden. Sein Bruder drückte ihm etwas in die Hand. Eine Maske. Sie war wie ein Wolfskopf geformt, mit mandelförmigen Augen, spitzen Ohren und einer Schnauze. Als der Bursche sie aufsetzte - glatt und kühl schmiegte sich das unbekannte Material an sein Gesicht - fühlte es sich an, als habe er einen lange verloren geglaubten Teil seines Körpers wiedererlangt. Als habe er die Fähigkeit, zu gehen verloren und war nun eines Morgens aufgestanden, um festzustellen, dass das Gefühl in seinen Beinen zurückgekehrt war. Ein Rausch ergriff von ihm Besitz. Seine Freunde hatten bereits etwas Wein herbeigeschafft und nach den ersten ein, zwei Gläsern begannen auch sie, zu der fremdartigen Musik zu tanzen. Immer wieder warf der Junge dabei einen Blick auf seine Herzdame. Auch sie trug wie die anderen eine dieser unheimlichen Masken. Ihre hatte die Form einer Jungfer mit auffällig geformten Lippen. Abertausend Fragen geisterten dem Burschen durch den Kopf, während er zusah, wie sie sich zu den Friedhofsklängen bewegte. Dachte sie wohl auch an ihn? Konnte sie dasselbe Knistern spüren, das immer dann Funken zu schlagen drohte, wenn sie einander nahe waren? Fühlte sie dieselbe Wärme in ihrem Inneren, wann immer ihre Gedanken zu ihm abglitten? Oder taten sie das gar nie? In diesem Moment erhob sich das Mädchen und lief zu der Wendeltreppe, die hinab ins Kellergewölbe führte. Der Nebel, der um ihre Knöchel herum waberte, schien von dort unten zu kommen. Sie warf ihm einen auffordernden Blick zu. Dann stieg sie die Stufen hinab und wurde im nächsten Augenblick von den dichten Schwaden verschluckt. Der Jüngling und sein Bruder, der wie er eine Wolfsmaske trug, wechselten einen kurzen Blick. Dann stand er auf und folgte seiner Herzdame zögerlich hinab in die Tiefe. *** Auch im Kellergewölbe waren tanzende Schatten zu finden. Ihre schemenhaften Gestalten tauchten mal hier und mal da aus dem Nebel auf. Der Junge sah, wie sich Arme zur Decke empor reckten, nur um kurz darauf wie die Tentakel eines Kraken wieder in dem wabernden Meer abzutauchen. Er sah, wie Hüften in rhythmischen Bewegungen hin und her kreisten, dass ihm dabei fast schwindelig wurde. Dann fiel sein Blick wieder auf das Mädchen in dem Spinnfädenkleid. Sie stand da und so, wie sie ihn anblickte, schien sie auf ihn zu warten. Schon im nächsten Augenblick verschmolzen sie mit der Musik und mit den Nebelschwaden, während sie sich tanzend aufeinander zu und wieder von einander weg bewegten. Die Energie zwischen ihnen schien fast greifbar, dachte er, doch es wollte ihm nicht gelingen, daraus den nächsten Schritt zu machen. Erwartete sie, dass er sie berührte? Sie gar küsste? Wie konnte er ihr zeigen, dass er ihr zugeneigt war? Welche Sprache der Liebe verstanden die Schatten? Verzagt ob seiner Unbeholfenheit wandte er sich um und stolperte die Treppe empor, zurück in den oberen Tanzsaal. Dort sassen sein Bruder und ein paar seiner Freunde, die Gesichter immer noch mit weissen Tiermasken verhüllt, und berauschten sich am blutroten Wein. Als sie sahen, welch unglückliches Gesicht der Junge machte, beschlossen sein Bruder, etwas zu unternehmen. Der junge Mann indessen griff nach einem Weinkelch und lehrte ihn in einem Zug. Jemand, er konnte allmählich nicht mehr klar denken, vielleicht sein Bruder, bat ihn, die Maske abzunehmen. Zunächst zögerte er. Was, wenn er dabei ein unausgesprochenes Tabu brach? War es einem angehenden Halbschatten wie ihm gestattet, an der Königin der Nacht sein Gesicht zu zeigen? Doch sein Freund versicherte ihm, dass es in Ordnung sei. Er nahm die Wolfsmaske vom Gesicht. Im nächsten Augenblick presste das Mädchen ihre Lippen auf die seinen. Er spürte, wie sich ein heftiges Kribbeln von seinem Bauch heraus über seinen ganzen Körper hinweg ausbreitete. Elektrisiert und wie von einem jähen Fieber erfasst stand er da. Als er die Augen öffnete, erblickte er sie - ohne Maske, doch mit glühenden Wangen. Sie sah ihn an und lächelte. Daraufhin folgte ein zweiter Kuss. Vielleicht bildete er es sich nur ein, doch der Junge glaubte, seinen Bruder und die vielen anderen Schatten um sie herum jubeln zu hören. Das Kribbeln ging ihm noch immer von Kopf bis Fuss. Er wusste, dass dieses Gefühl nicht allein dem Kuss zuzuschreiben war. Es war das letzte Bisschen Menschsein, das von ihm abperlte. Der Junge wusste, nun war er für alle Zeit und unzweifelhaft einer von ihnen. Ein Schatten. Er spürte, wie die Magie der Nacht ihn durchdrang, wie der Moment an Zeit verlor und in die Ewigkeit überging. Er hatte sich verliebt. Verliebt in einen Schatten. Auch seine Wangen brannten jetzt und der Nebel und die Nacht und die Dunkelheit schienen ihn willkommen zu heissen wie einen verlorenen Sohn. Der Maskenball der Königin dauerte noch die ganze Nacht an, bis zum Morgengrauen. Es war die erste Dämmerung, die der Schatten, der nun kein Junge mehr war, zu Gesicht bekam. Seine Verwandlung war abgeschlossen. Hand in Hand mit seiner neuen Gefährtin, seinem Bruder und ihren zahlreichen Freunden verliessen sie die Insel, um in die Grosse Stadt zurückzukehren. Dort warteten viele blasse Tage auf sie, die sie hinter sich bringen würden, um wie in jener Nacht auf dem Maskenball der Königin zusammenzukommen. Denn sie waren die Schatten, vor denen die Menschen sich fürchteten und die heimlich über die Stadt Wache hielten. Damals, gestern, heute und solange dem Licht sein dunkler Bruder auf dem Fusse folgte.
  11. Vielleicht kennt jemand "Der Fluch", die Vers-Novelle von ASP (Sänger der gleichnamigen Band). Mich hat diese Reimform, die er benutzt, sehr fasziniert, auch wenn ich immer noch nicht herausgefunden habe, wie sie genannt wird. 🤔 Auf jeden Fall habe ich mich für dieses Gedicht von "Der Fluch" bzw. von diesem Reimschema inspirieren lassen. Was die giftig grünen Flammen angeht... Stimmt, die kann man auch chemisch erzeugen. Ich dachte dabei allerdings eher an Dornröschen, wo die Dunkle Fee Malefiz ja auch mit grünen Flammen dargestellt wird. Allgemein, finde ich, wirkt grünes Feuer irgendwie magisch, wenn auch giftig, boshaft und verschlagen. Nicht, dass ich der armen Circe damit irgendetwas unterstellen wollte... 😉
  12. Danke Joshua Coan, fühlt sich gut an, wieder hier zu sein. 😊 Danke auch für die Ehre, dass meine Texte zu deinen Favoriten zählen dürfen. Das freut mich sehr. Ich finde erstmal heraus, was sich alles verändert hat, aber bisweilen gefällt es mir ganz gut und ich freue mich auch schon auf neue Inspiration und den Austausch mit euch. 😊
  13. Die Zauberin Unter starken Eichenbäumen, die sein Reich wie Säulen säumen – Stramme Wächter, ewigwährend – steht still das alte Hexenhaus; Zahme Löwen, Wölfe, Hunde drehen achtsam ihre Runde, Ihre Sanftmut trägt die Kunde zum Ende dieser Welt hinaus, Von Drudenwerk und Zauberkunst, ein Leben voller Saus und Braus; «Ein Märchen!», sag ich rundheraus. In der Luft ein zartes Knistern lenkt mich geisterhaftes Flüstern Auf die Lichtung und die Tiere machen mir vorbehaltlos Platz; Ihre Augen wie die meinen – menschlich sind sie, will mir scheinen, Beinahe scheinen sie zu weinen: Löwen, Hunde, Wolf und Katz; «Was ist an diesem Ort geschehen?», wende ich mit einem Satz Mich an die Vögel, Specht und Spatz. Kein Wort in der Menschenzunge dringt aus ihrer kleinen Lunge, Nur verzweifeltes Gezwitscher schafft es bis an meine Ohren; Ich nähere mich dem Haus aus Stein, klopfe, rufe: «Lasst mich ein!» Liess ich das nicht besser sein? Will ich in Hades Tiefen schmoren? Wer lebt in diesem Haus und was habe ich heraufbeschworen? Ich bin nicht zum Held geboren! Das Flüstern schwillt zum Raunen an; Was ist das für ein Zauberbann? Die Türe öffnet sich nach innen, als ein Fräulein mich empfängt, So zart, von lieblicher Gestalt, mit Haar, das zu den Hüften wallt; Doch scheint sie jung nicht, auch nicht alt, mit einem Blick, der mich versengt Ich folge ihr hinein ins Haus, als ob sie meine Schritte lenkt Worauf sie mir ein Lächeln schenkt. Ich schau ihr nach, wie sie sich wiegt, sich vor mir wie im Tanz verbiegt, Ihr Duft nach Kräutern macht mich schwach, mir ist nach einem Becher Wein; Was ist noch wahr und was ist Trug? Sie raubt mir jeden Atemzug Von Geisterhand füllt sich der Krug, ich flöss ihn mir zur Gänze ein Dann plötzlich wandelt sich ihr Blick, verliert das Feuer, wird zu Stein: «Du sollst jetzt grunzen wie ein Schwein!» Tisch und Stuhl beginnt zu wachsen – Treibt ihr Götter eure Faxen Mit mir armem Wicht? Ich schrumpfe und bin bald gänzlich verwandelt; Die Zauberin steht über mir: «Das hast du nun von deiner Gier! Wer sich benimmt so wie ein Tier, der wird auch wie eins behandelt.» «Verdammte Hexe», denk ich mir. «Das war so nicht ausgehandelt. Ich zu einer Sau verschandelt!?» «Hilfe!», dringts aus meiner Kehle, Schweinekörper, Menschenseele, Die Zauberin führt mich hinaus, bringt mich zu den andren Tieren «Komm!», fleh ich zum Götterboten. «Hermes, nimm die Schweinepfoten Von mir, ist es dir verboten? Du siehst mich auf allen Vieren! Soll fortan in diesem Leben stets mich eine Schnauze zieren? Muss ich dieses Spiel verlieren?» Diese Frau, so schön wie immer, macht es leider nur noch schlimmer, Wenn sie tanzt zwischen den Eichen, denen ein Zauber innewohnt; Dann will ich sie nur betrachten, Nächte lang nur nach ihr schmachten, Als Weib wär’ sie nicht zu verachten, hätt’ sie mich doch nur verschont; So tanzt sie völlig ohne Kleider nackt unter dem runden Mond, Der nur für sie am Himmel thront. Manchmal dringen fremde Düfte aus dem Haus und in die Lüfte, Nicht wie sonst nur scharfe Minze, Thymian, Kerbel und Salbei; Was braut sie da nur zusammen unter giftig grünen Flammen? Will sie uns nun doch verdammen? Und warum lässt sie uns nicht frei? Morgen wird sie wieder tanzen, fort bis zum nächsten Hahnenschrei; Ihr hohen Götter, steht mir bei! Bis ein Held kommt, mich zu retten und zu sprengen meine Ketten Bleibe ich in meinem Koben und achte auf die Zauberin Wenn sie singt auf ihre Weise wird der Rest der Welt ganz leise Scheinbar lohnte sich die Reise letztendlich, wenn ich glücklich bin Das Leben dieses Schweins beginnt und das des Menschen ist dahin Vielleicht liegt darin der Gewinn. ___ © Wolkenwolf 2023
  14. Wolkenwolf

    MMXVII

    Auszug aus Kuro's Herzfinster-Reisen Ich fiel von namenlosen Klippen Wie von abgebrochenen Zähnen, Die vom Wind und den Gezeiten schwarz gefärbt. Wie oft nur brach ich mir die Rippen, Hab ich das Herz, das schwer von Tränen Nach dem Ziel, vielmehr der Reise Sinn gefragt? Oft waren da nur Schwarz und Schweigen Fernab der Wege, kaum zu sehen, Wenn Solana ihr Gesicht zur Nacht gewandt. Ein scharlachroter Tobsucht-Reigen; Ich konnte lange nicht verstehen, Wie mein Schicksal minutiös gänzlich verschwand. Doch selbst der stärkste Bann kann brechen Und «Schicksal» ist ein Wort von vielen, So wie «Freundschaft» und «loyal», der Sinn verkannt. Wie lang noch dauert dieses Stechen, Das Herz bedeckt von dichten Schwielen, Und ich weiss doch, ich bin längst nicht ausgebrannt. Ich zwang mich selbst durchs Eis zu gehen, Auch dort war Liebe noch zu finden, Wenngleich sonderbar und nicht für mich gemacht. Ich musste weiter, blieb nicht stehen; Hier war kein Ort, um sich zu binden, Herzen brennen, ist die Liebe erst entfacht. Am Strand liess ich die Beine rasten Und sah das Meer die Sonne trinken. Sag, wie oft hab’ ich dereinst an dich gedacht? An Staub auf schwarz- und weissen Tasten, Dein Herz, als würde es mir winken; Niemals wieder habe ich vor Glück gelacht.
  15. Hallo zusammen und vielen Dank für eure lobenden Kommentare Der Text handelt von einer komplizierten Freundschaft. Es geht im Prinzip darum, dass die eine Person der anderen helfen möchte, letztere aber Hilfe nicht so einfach annehmen kann. Deshalb muss sie in Zukunft über ihren eigenen Schatten springen und um Hilfe bitten, damit die Freundschaft weiterhin als solche bezeichnet werden kann. Ich verneige mich in Demut Wolkenwolf
×
×
  • Neu erstellen...

Wichtige Information

Community-Regeln
Datenschutzerklärung
Nutzungsbedingungen
Wir haben Cookies auf deinem Gerät platziert, um die Bedienung dieser Website zu verbessern. Du kannst deine Cookie-Einstellungen anpassen, andernfalls gehen wir davon aus, dass du damit einverstanden bist.