Es gibt zu meiner Sprache, die meine Mutter mir beigebracht hat, kein Land. Zu meinem Blut keine Erde. Das Land besteht aus mir, aus der grenzenlosen Ferne, die überall sein konnte. Ich bin Land, das überall zuhause ist. Das Land, das diesem Land gehört.
Ich lebe unter euch, ihr seid mein Zuhause. Ich suche nicht mehr. Ich bin zuhause. Ich will mich unter euch erkennen. Mich selbst erkennen. Auch Erkennen, warum es mich nicht geben kann und warum es mich gibt.
Die grösste Erkenntnis: Ich bin geliebt.
1920. Mehrere grelle Glühbirnen hingen von der Decke wie Ausrufezeichen. Mittig verstreuten sie ihr unnatürliches Licht auf nachdenkliche, in Falten beschatteten Gesichtern. Atemzüge, die kaum einer vernahm. Verschiedenste eau de Parfum. Schwere Vorhänge liessen die letzten Abendstrahlen hinein und verschluckten das restliche Licht dahinter. Das grelle Licht verschluckte die Lichtarme. Stiller Lichterkampf. Am süssen, französischen Gebäck, der mit importierten Früchten drapiert auf dem schweren Tisch hier und da sämtliche Blicke einfing, säuselte eine Fliege. Die Fliege säuselte, weil sie musste. Hier. Wer hätte das gedacht, dass dieser stille Moment Ereignisse mit sich bringen würde. Ereignisse, die ewige, ruhelose Fragen aufwerfen werden. Eine endgültige Entscheidung, die die Menschen, die das Schicksal selbst waren, darin zementieren würden. Als wären diese Menschen das Schicksal selbst. Die Fliege antwortete erbost, als würde sie diese Situation begreifen. Doch einer der Diener schlug das Säuseln mit dem Leinentuch hinfort. Der Diener selbst trug eine in Falten gelegte Miene. Das Säuseln hörte auf.
Am runden Tisch Entscheidungen zu treffen, war nie einfach. Hier füllten sich die Augen mit Misstrauen und Entscheidungsfreude. Gestärkte Kragenhemde, mit Initialen signierte Stofftaschentüchern. Einer der Anwesenden griff mit seinen Ringbesetzten Fingern nach sauer riechender Füllertinte. Er setze seine Füllerspitze an, hielt das grobe Papier zwischen seinen gutgemeinten Begutachtungen und dem Daumen, zeichnete Erklärungen, die eigentlich Emotionen waren. Unterschriebene Emotionen. Ein Papier unter 1000en. Glänzende, gravierte Bleigläser mit gespritztem Soda. Das Prickeln des Sodas ging mit dem Uhrenticken eine Symbiose ein. Nach der Stille, weitere Stille. Nur ein Konzert der stillen Bewohner im Jetzt: Die nicht mehr säuselnde Fliege, eine sanft tickende Taschenuhr, die offen zur Deckenwand zeigte, das Prickeln im Glas, das Karbon in die Luft abgab. Weichgecremte Hände, die entschlossen den holzernen Füllerbauch zwischen Finger und Daumen hielten. Die entschlossene, entscheidende Unterschrift. Ein Blick, der die Unterschrift nochmals und abermals nachsignierte. Ein tiefes Ausatmen. Schritte, die noch zu hören waren. Die nie mehr leiser wurden. Obwohl sie sich immer weiter entfernten.
Die Sonne geht im Schrecken jeweils erstaunlich langsam unter. Als würde die Sonne selbst warten, dass ein Van Gogh dieses Drama malerisch einfing. Er hätte noch Zeit genug, seine Farben in seinen Tuben aufzuwärmen, damit sie die richtige Konsistenz hätten. Er hätte Zeit gehabt, seine Pinsel nach Größe und Gebrauch hinzulegen und das Drama nochmals richtig aufgestellt. Die Sonne hätte es von allen Seiten so beschienen, dass die gelbe Tube heute dran glauben müsste. Auf seiner Staffel hätte er eine wunderschöne dramatische Sonne aufgezeichnet. Die Sonne, die darauf gewartet hat, sich in dieser dramatischen Stunde zu offenbaren. Van Gogh selbst würde diese Dramatische Situation für dramatisch erklären und sich dafür bedanken, dass diese auf ihn gewartet hat, Schliesslich wartet so ein Drama nicht, bis die Staffel aufgestellt ist. Bis sie erkannt wird. Van Gogh hätte allen, die gefragt hätten, was sich denn für ein Drama in diesem Raum abgespielt hatte, es mit seinem Bild erklären können. Eine Sonne, die unterging. Mehr brauchten die Menschen nicht zu wissen. Nach mehr Luft hätten sie nicht schnappen können. Van Gogh hätte seinen Malerkoffer genommen und nach Käufer gesucht, die Dramaturgie insgeheim feierten.
Die Fliege wartete die Nacht ab. Sie konnte nicht aus dem Vorhang. Sie konnte nicht, weil es nicht ging. Wie ein Schutzschild, das aus dem schweren, vergoldeten Vorhang hervorging, fühlte sie sich eigenartig fremd und geborgen. In ihren Träumen hörte man zwar nicht viel, doch sie säuselte oft von der Freiheit, die hinter dem Fensterglas lag. Sie hob selbst mit ihren 1000 Augen den Morgen mit der Sonne auf. Als wäre der Tag nichts anderes als ein Tuch, das man aufhob und über allem, was lebte, platzierte.
Der Diener kam nur ab und zu vorbei, um nach dem Säuseln ausschau zu halten. Er hatte sein Leinen extra gestärkt. Er schaute und schaute und schaute. Er nahm den Staub mit, als er zufrieden ging. Es gab keine Fliegen in diesem Schloss.
Die Fliege putzte sich die Flügel. Die Fliege hob ein Paar mal die Sonne von der Nacht auf.
In einem Traum von mir malte die Fliege die Sonne auf das Fensterglas. Der Diener schlug mit seinem gestärkten Leinentuch auf das besonnte Glas, doch er konnte sie nicht wegschlagen. Die Sonne blieb. Die Sonne würde die Menschen bescheinen, denen Anrecht auf diesen besonnen Platz entnommen wurde. Das Land, das von der Sonne beschienen wurde, wäre nicht mehr ihres. Als hätte man diesen Menschen die Sonne selbst weggenommen. Als würde sie untergehen und nie mehr aufgehoben werden. Und wer würde diese Menschen denn noch Erkennen? Und würden sie sich selbst in dieser Dunkelheit erkennen? Wohin würden sie gehen? Was suchen? Was bedeutet Licht? Die Fliege säuselte zufrieden, als der Diener die Fenster öffnete. Der Diener glaubte seinen Ohren nicht. Er wollte diese schlaue Fliege. Doch nun flog sie gen Sonne, als wäre sie dort zuhause. Als wäre sie überall zuhause.