Die Vermessung der Einsamkeit
Ein Haus steht zum Verkauf, irgendwo auf dem Land. Es ist alt, verwaist, die Wände verroht und nackt, hier und da ein Riss im Putz. Darin kein Leben mehr. Nur noch eines: seines.
Kalt ist es in den letzten Wochen geworden. - Er hat sich Zeit gelassen mit dem Auszug. Mal nahm er den Wäscheständer mit, mal nur ein paar Kleiderbügel. Schließlich, nach einiger Überwindung, all die großen Kartons, bis das Haus leer war. Oder leer genug. Nun ist es Winter.
Heute hat ein Transportdienst die letzten Möbel abgeholt. Ihn haben sie zurückgelassen. Er wäre auch gar nicht transportierbar gewesen. Er mit all seinen schweren Gedanken. Die Abdrücke der Möbel im Parkett, die Verfärbungen an den Wänden, wo Bilder und Schränke standen, alles haben sie zurückgelassen. Auch die Matratze ihres einstigen Ehebetts ist geblieben. Die hat er vor dem Abtransport bewahrt. Nur eine Nacht noch will er hier schlafen. Dann wird auch er verschwinden.
—--------------
Als seine jüngere Tochter aus- und weggezogen ist, um in einem anderen Teil des Landes zu studieren, ist seine Frau gleich mit ausgezogen. Seither ist das Haus unbewohnbar. Sie war der gute Geist dieses Hauses, die verbindende Kraft, die allen Bewohnern und Gegenständen darin ihren Platz und ihren Sinn gab. Doch sie hat ihre Kraft, ihren Zauber in all den Jahren verloren. All die Jahre wartete sie stoisch auf ihn, wenn er abends noch ein paar Stunden länger im Büro blieb oder tagelang auf Dienstreise war. Da war dieses dauernde Hoffen auf ein Zeichen von ihm, dass sich ihr Warten lohnt. Es blieb unerfüllt. Das offenbarte sie ihm zum Abschied. Und er hat all die Jahre nichts davon bemerkt.
Er erinnert sich daran, wie sie diese Worte sprach, ruhig, fast gefasst.
Er kann ja gut rechnen, doch damit hat er nicht gerechnet. „Blöder Spruch“, denkt er, „aber passend.“ – Eine Küche, eine nagelneue Küche hat er ihr eingebaut, als Willkommensgeschenk für den Start in ein neues Leben ohne Kinder im Haus. Alles selbst abgemessen, zugeschnitten und auf den Millimeter genau eingerichtet – und sie geht einfach! Sie lässt das alles zurück, ihre gemeinsame Sicherheit, ihren Traum vom Altwerden im eigenen Haus! – Nein, damit hat er nicht gerechnet.
Er geht durchs Haus, lässt den Blick und seine Gedanken durch jeden Raum schweifen. Überall, in jeder Ecke, jedem Winkel klaffen Erinnerungen an die guten Tage, die sie hier gemeinsam mit den beiden Kindern verbracht haben. Hier, in dem toten Winkel vor dem Schlafzimmer haben die Mädchen ihre Spielecke eingerichtet. Und da, da stand das große Puppenhaus. Selbst von ihm gezimmert, die Puppen eigenhändig gedreht. Und dort stand ihr Einkaufsladen. Und auf dem großen, grünen Teppich standen ihre Kinderbetten. Und die Wände umher hingen voll mit den Fotos, die sie als Familie an glücklichen Tagen zeigten. Da, an der sattblauen Stelle der sonst ausgeblichenen Wand hing ein großes Foto, das die Familie am Strand Teneriffas zeigte. Die Mädchen hatten sich auf dem heißen Sand so böse die Füße verbrannt, dass sie sogar ins Krankenhaus fahren mussten. Er schmunzelt. Ihm wird es warm, als er an seine Töchter denkt. An die vielen kleinen und großen Erfolge, an ihre Allüren und an die Kämpfe, die seine Mädels untereinander führten.
Seine Töchter kann er in Gedanken in jedem beliebigen Alter aufrufen. Doch an seine Frau hat er kaum Erinnerungen. Sie war halt da, so wie das Inventar des Hauses. Sie hat sich um die Mädchen gekümmert, das Haus in Stand gehalten und für die Familie gekocht. Zärtlichkeit zwischen ihnen gab es schon lange nicht mehr. Aber es war okay für ihn. Er hat gehört, dass das in langen Ehen eben so ist. Schließlich fand er sich damit ab. Alles andere funktionierte ja.
—--------------
Zurück im Wohnzimmer legt er sich auf die Matratze, deckt sich mit einer Wolldecke zu, starrt an die Decke. Sein Atem bildet kleine Wolken, die sich unter der Decke sammeln. – Gleich werden sie sich bestimmt zu einem Regenguss ergießen, denkt er. -
Kein Geräusch im Haus. Er fühlt sich einsam.
Diese Einsamkeit steckt fest in den leeren Bierflaschen, die er der Reihe nach um die Matratze aufstellt. Sie klafft grinsend aus jeder Ecke des Raumes. Sie hat sich in ihre Kuhle verbissen, die sie auf der Matratze zurückließ.
Das Telefon klingelt. Langsam greift er danach, hebt ab.
„Papa? … Möchtest du mich besuchen kommen?“
Die Stimme seiner Tochter ist vorsichtig, fast flüsternd. Als hätte sie Angst, ihn aus einem Traum aufzuschrecken.
Für einen Moment presst er die Lippen zusammen, als müsse er die Worte durch einen schmalen Spalt zwischen seinen Gedanken hindurchschieben. Dann bricht seine Stimme die Stille, antwortet brüchig: „Ja… Ja, ich komme.“
Es ist Zeit zu gehen.
Ein Haus steht zum Verkauf, irgendwo auf dem Land. Es ist alt, verwaist, die Wände verroht und nackt, hier und da ein Riss im Putz. Darin kein Leben mehr. Nur noch eines: seines.
Kalt ist es in den letzten Wochen geworden. - Er hat sich Zeit gelassen mit dem Auszug. Mal nahm er den Wäscheständer mit, mal nur ein paar Kleiderbügel. Schließlich, nach einiger Überwindung, all die großen Kartons, bis das Haus leer war. Oder leer genug. Nun ist es Winter.
Heute hat ein Transportdienst die letzten Möbel abgeholt. Ihn haben sie zurückgelassen. Er wäre auch gar nicht transportierbar gewesen. Er mit all seinen schweren Gedanken. Die Abdrücke der Möbel im Parkett, die Verfärbungen an den Wänden, wo Bilder und Schränke standen, alles haben sie zurückgelassen. Auch die Matratze ihres einstigen Ehebetts ist geblieben. Die hat er vor dem Abtransport bewahrt. Nur eine Nacht noch will er hier schlafen. Dann wird auch er verschwinden.
—--------------
Als seine jüngere Tochter aus- und weggezogen ist, um in einem anderen Teil des Landes zu studieren, ist seine Frau gleich mit ausgezogen. Seither ist das Haus unbewohnbar. Sie war der gute Geist dieses Hauses, die verbindende Kraft, die allen Bewohnern und Gegenständen darin ihren Platz und ihren Sinn gab. Doch sie hat ihre Kraft, ihren Zauber in all den Jahren verloren. All die Jahre wartete sie stoisch auf ihn, wenn er abends noch ein paar Stunden länger im Büro blieb oder tagelang auf Dienstreise war. Da war dieses dauernde Hoffen auf ein Zeichen von ihm, dass sich ihr Warten lohnt. Es blieb unerfüllt. Das offenbarte sie ihm zum Abschied. Und er hat all die Jahre nichts davon bemerkt.
Er erinnert sich daran, wie sie diese Worte sprach, ruhig, fast gefasst.
Er kann ja gut rechnen, doch damit hat er nicht gerechnet. „Blöder Spruch“, denkt er, „aber passend.“ – Eine Küche, eine nagelneue Küche hat er ihr eingebaut, als Willkommensgeschenk für den Start in ein neues Leben ohne Kinder im Haus. Alles selbst abgemessen, zugeschnitten und auf den Millimeter genau eingerichtet – und sie geht einfach! Sie lässt das alles zurück, ihre gemeinsame Sicherheit, ihren Traum vom Altwerden im eigenen Haus! – Nein, damit hat er nicht gerechnet.
Er geht durchs Haus, lässt den Blick und seine Gedanken durch jeden Raum schweifen. Überall, in jeder Ecke, jedem Winkel klaffen Erinnerungen an die guten Tage, die sie hier gemeinsam mit den beiden Kindern verbracht haben. Hier, in dem toten Winkel vor dem Schlafzimmer haben die Mädchen ihre Spielecke eingerichtet. Und da, da stand das große Puppenhaus. Selbst von ihm gezimmert, die Puppen eigenhändig gedreht. Und dort stand ihr Einkaufsladen. Und auf dem großen, grünen Teppich standen ihre Kinderbetten. Und die Wände umher hingen voll mit den Fotos, die sie als Familie an glücklichen Tagen zeigten. Da, an der sattblauen Stelle der sonst ausgeblichenen Wand hing ein großes Foto, das die Familie am Strand Teneriffas zeigte. Die Mädchen hatten sich auf dem heißen Sand so böse die Füße verbrannt, dass sie sogar ins Krankenhaus fahren mussten. Er schmunzelt. Ihm wird es warm, als er an seine Töchter denkt. An die vielen kleinen und großen Erfolge, an ihre Allüren und an die Kämpfe, die seine Mädels untereinander führten.
Seine Töchter kann er in Gedanken in jedem beliebigen Alter aufrufen. Doch an seine Frau hat er kaum Erinnerungen. Sie war halt da, so wie das Inventar des Hauses. Sie hat sich um die Mädchen gekümmert, das Haus in Stand gehalten und für die Familie gekocht. Zärtlichkeit zwischen ihnen gab es schon lange nicht mehr. Aber es war okay für ihn. Er hat gehört, dass das in langen Ehen eben so ist. Schließlich fand er sich damit ab. Alles andere funktionierte ja.
—--------------
Zurück im Wohnzimmer legt er sich auf die Matratze, deckt sich mit einer Wolldecke zu, starrt an die Decke. Sein Atem bildet kleine Wolken, die sich unter der Decke sammeln. – Gleich werden sie sich bestimmt zu einem Regenguss ergießen, denkt er. -
Kein Geräusch im Haus. Er fühlt sich einsam.
Diese Einsamkeit steckt fest in den leeren Bierflaschen, die er der Reihe nach um die Matratze aufstellt. Sie klafft grinsend aus jeder Ecke des Raumes. Sie hat sich in ihre Kuhle verbissen, die sie auf der Matratze zurückließ.
Das Telefon klingelt. Langsam greift er danach, hebt ab.
„Papa? … Möchtest du mich besuchen kommen?“
Die Stimme seiner Tochter ist vorsichtig, fast flüsternd. Als hätte sie Angst, ihn aus einem Traum aufzuschrecken.
Für einen Moment presst er die Lippen zusammen, als müsse er die Worte durch einen schmalen Spalt zwischen seinen Gedanken hindurchschieben. Dann bricht seine Stimme die Stille, antwortet brüchig: „Ja… Ja, ich komme.“
Es ist Zeit zu gehen.