Es war meine erste weite Reise ganz allein, mit dem Zug nach Köln und dann mit einer Maschine der Bundeswehr nach London, zu einem Jugend-Länderkampf.
Über dem Ärmelkanal fiel der Backbordmotor der DC3 aus, aber der Steward meinte, so etwas wäre ganz normal und einer würde reichen, auch für die Landung. Er brachte Cola mit Eis, setzte sich zu uns und wir wussten, dass alles das mit zum Abenteuer gehörte. Die Funktionäre, die wie immer dabei waren und die sich vorher so wichtig gemacht hatten, wussten es offenbar nicht, waren bleich geworden und hörten auf mit Saufen und mit Sprüche klopfen. Einer übergab sich fein säuberlich in eine der Tüten, die in den Halterungen auf der Rückseite der grünen Sitzlehnen klemmten.
Das Schwimmbad in London stank ebenso nach Chlor wie die Bäder bei uns in Deutschland, aber die Kacheln des Beckens waren grau, nicht hellbau, der Mittelstrich schwarz und es gab andere Wendemarken. Das Wasser war kälter als daheim; wir hatten nur einen Tag Zeit, uns zu daran zu gewöhnen. Untergebracht waren wir zusammen mit unseren Trainern in einem so genannten ‚youth hostel‘, in dem es Drei- und Vierbettzimmer gab. Die Funktionäre schliefen anderswo.
Ich hatte damals schon angefangen, den Schwimmsport zu hassen. Das heißt, ich hasste nicht so sehr die Schinderei im Becken, nicht die endlosen, einsamen Kilometer, mit dem Kopf unter Wasser und den Gedanken an der Grenze zwischen Traum und Bewusstlosigkeit, nicht die Kommandos, die hallenden Pfiffe und die ewigen Korrekturen. Aber die gierigen Gesichter der Vorstände hasste ich, die Selbstgerechtigkeit der Verbandstrainer und die Erhabenheit der Funktionäre, die unser Fleisch in ihren Töpfen gar kochten und die uns ein Stückchen Blech umhängten oder irgendeine Zinnschüssel in die Hand drückten, wenn ihnen der Braten geschmeckt hatte. Sie nannten uns „Gewinner“, aber ich konnte nichts damit anfangen. Ich hielt mich für einen Idioten.
Damals in London gab es Mädchen in roten Badeanzügen, die einem das Zeug abnahmen vor dem Start und die es dann wieder brachten. Mein Mädchen war mittelgroß; es hatte ein hübsches Gesicht und grüne Augen trotz der schwarzen Wuschelhaare. Am Abend nach dem ersten Wettkampftag gab es eine Party im Hotel der Funktionäre und das Mädchen war auch dabei, die Tochter irgendeines englischen Offiziellen. Sie trug einen winzigen Mini und sagte zu mir, sie hieße Kathleen und ob ich morgen auch noch da wäre. Mein Schulenglisch war ziemlich mies und die Hälfte von all dem, was sie sagte, verstand ich nicht ganz. Aber wir haben uns geküsst, später am Abend, und ein bisschen rumgeknutscht auch. Um zehn musste ich ins Bett.
Am übernächsten Nachmittag bin ich mit ihr in einem Park spazieren gegangen. Sie hatte einen andersfarbigen Mini an und einen breiten Ledergürtel über den Hüften, mit einer riesigen, silbernen Schnalle davor. Es war ziemlich heiß. Im Schatten einer Ulme saßen wir bestimmt eine Stunde lang auf dem kurz geschorenen Rasen und sie erzählte mir, soweit ich ihr folgen konnte, von der Schule und von ihrem Vater, dass sie Hockey spielen würde und Tennis. Ich hab ihr den Mund zugemacht mit Küssen und wollte mit meiner Hand zwischen ihre Schenkel, aber sie hat sie von dort weggenommen und gesagt, dass das nicht gut wäre, hier und jetzt.
Beim Aufstehen fragte sie mich, ob ich mitgehen würde, einen Freund besuchen. Sie hat mich an die Hand genommen und vor ein rotes Backsteingebäude geführt, das aussah wie ein Sanatorium. An der Pforte nannte sie einen Namen und man hat uns durchgelassen, in einen Gang hinein, ein paar Treppen hinauf, wieder einen Gang entlang und dann durch eine hellgrün lackierte, nummerierte Türe.
In dem hohen Raum stand genau in der Mitte ein Bett, dessen Kopfteil etwas angehoben war. Auf dem Kissen ruhte bewegungslos der schmale, blasse Kopf eines Jungen. Über seiner Brust schwebte ein Holzbrett, auf dem ein Buch lag. Er konnte das Buch mit einem Schlauch umblättern, wenn er in das Ende blies, das aussah wie eine Zigarettenspitze und das man direkt vor seinem Mund befestigt hatte. Der Mund und seine Augen waren das einzig Bewegliche an ihm.
„Hi, Kate!“ sagte er mit einer dünnen, gepressten Stimme. Kathleen beugte sich über ihn und küsste ihn auf die Stirn. Er suchte mich mit seinen dunklen Augen und fragte: „A Cigarette, Christian?“ Kate nahm das andere Ende des metallenen Gliederschlauchs von der Vorrichtung an dem Buch weg, zündete eine Zigarette an und steckte sie in die Öffnung. Ich sah, wie sich die Wangen des Jungen nach innen wölbten und wie er, völlig geräuschlos, den Rauch wieder von sich gab.
Ich fragte ihn, woher er meinen Namen denn wüsste. Er atmete Rauch aus und flüsterte, dass er in der Zeitung von mir gelesen, dass Kate von mir erzählt hätte und dass sie in mich verliebt sei. Kathleen ging wortlos zu dem Waschbecken im Eck des Raumes und kam mit einem feuchten Lappen zurück, nahm die Decke auf und wusch dem Jungen das Gesicht, den Hals und die Brust. Für einen Moment sah ich seine dünnen Arme, die schlaff und durchsichtig wie Glas neben seinem eingefallenen Oberkörper ruhten. Dann war die Decke wieder unter seinem Kinn.
Er wollte etwas über meinen Sport und meine Heimat wissen; ich erzählte ihm die Sache mit dem kaputten Motor und dass Schwimmen nur etwas für Scheintote wäre. Warum er so da läge, hab ich ihn noch gefragt. Er hat nicht darauf geantwortet, sondern nur gesagt, dass es ein heißer Sommer sei, diesmal. Dann war er still, als ob er zu erschöpft wäre, um noch etwas zu flüstern.
Am nächsten Tag ist unsere Mannschaft heimgefahren. Kathleen hat uns zum Flughafen begleitet; wir haben uns noch ein bisschen gedrückt und geküsst und sie hat gesagt, dass es sehr schön gewesen wäre, alles das.
Nach dem Abheben ging es durch eine dünne Wolkenschicht, dann war der Himmel frei. Erst als das Flugzeug schon über dem Kanal schwebte, hab ich nach meinen Augentropfen gekramt. „Scheiß-Chlorwasser, britisches!“ sagte ich zu dem Steward, der mir zusah, wie ich den Kopf zurücknahm und mir das Visadron gab. Er war derselbe wie bei der Hinreise.
Über dem Ärmelkanal fiel der Backbordmotor der DC3 aus, aber der Steward meinte, so etwas wäre ganz normal und einer würde reichen, auch für die Landung. Er brachte Cola mit Eis, setzte sich zu uns und wir wussten, dass alles das mit zum Abenteuer gehörte. Die Funktionäre, die wie immer dabei waren und die sich vorher so wichtig gemacht hatten, wussten es offenbar nicht, waren bleich geworden und hörten auf mit Saufen und mit Sprüche klopfen. Einer übergab sich fein säuberlich in eine der Tüten, die in den Halterungen auf der Rückseite der grünen Sitzlehnen klemmten.
Das Schwimmbad in London stank ebenso nach Chlor wie die Bäder bei uns in Deutschland, aber die Kacheln des Beckens waren grau, nicht hellbau, der Mittelstrich schwarz und es gab andere Wendemarken. Das Wasser war kälter als daheim; wir hatten nur einen Tag Zeit, uns zu daran zu gewöhnen. Untergebracht waren wir zusammen mit unseren Trainern in einem so genannten ‚youth hostel‘, in dem es Drei- und Vierbettzimmer gab. Die Funktionäre schliefen anderswo.
Ich hatte damals schon angefangen, den Schwimmsport zu hassen. Das heißt, ich hasste nicht so sehr die Schinderei im Becken, nicht die endlosen, einsamen Kilometer, mit dem Kopf unter Wasser und den Gedanken an der Grenze zwischen Traum und Bewusstlosigkeit, nicht die Kommandos, die hallenden Pfiffe und die ewigen Korrekturen. Aber die gierigen Gesichter der Vorstände hasste ich, die Selbstgerechtigkeit der Verbandstrainer und die Erhabenheit der Funktionäre, die unser Fleisch in ihren Töpfen gar kochten und die uns ein Stückchen Blech umhängten oder irgendeine Zinnschüssel in die Hand drückten, wenn ihnen der Braten geschmeckt hatte. Sie nannten uns „Gewinner“, aber ich konnte nichts damit anfangen. Ich hielt mich für einen Idioten.
Damals in London gab es Mädchen in roten Badeanzügen, die einem das Zeug abnahmen vor dem Start und die es dann wieder brachten. Mein Mädchen war mittelgroß; es hatte ein hübsches Gesicht und grüne Augen trotz der schwarzen Wuschelhaare. Am Abend nach dem ersten Wettkampftag gab es eine Party im Hotel der Funktionäre und das Mädchen war auch dabei, die Tochter irgendeines englischen Offiziellen. Sie trug einen winzigen Mini und sagte zu mir, sie hieße Kathleen und ob ich morgen auch noch da wäre. Mein Schulenglisch war ziemlich mies und die Hälfte von all dem, was sie sagte, verstand ich nicht ganz. Aber wir haben uns geküsst, später am Abend, und ein bisschen rumgeknutscht auch. Um zehn musste ich ins Bett.
Am übernächsten Nachmittag bin ich mit ihr in einem Park spazieren gegangen. Sie hatte einen andersfarbigen Mini an und einen breiten Ledergürtel über den Hüften, mit einer riesigen, silbernen Schnalle davor. Es war ziemlich heiß. Im Schatten einer Ulme saßen wir bestimmt eine Stunde lang auf dem kurz geschorenen Rasen und sie erzählte mir, soweit ich ihr folgen konnte, von der Schule und von ihrem Vater, dass sie Hockey spielen würde und Tennis. Ich hab ihr den Mund zugemacht mit Küssen und wollte mit meiner Hand zwischen ihre Schenkel, aber sie hat sie von dort weggenommen und gesagt, dass das nicht gut wäre, hier und jetzt.
Beim Aufstehen fragte sie mich, ob ich mitgehen würde, einen Freund besuchen. Sie hat mich an die Hand genommen und vor ein rotes Backsteingebäude geführt, das aussah wie ein Sanatorium. An der Pforte nannte sie einen Namen und man hat uns durchgelassen, in einen Gang hinein, ein paar Treppen hinauf, wieder einen Gang entlang und dann durch eine hellgrün lackierte, nummerierte Türe.
In dem hohen Raum stand genau in der Mitte ein Bett, dessen Kopfteil etwas angehoben war. Auf dem Kissen ruhte bewegungslos der schmale, blasse Kopf eines Jungen. Über seiner Brust schwebte ein Holzbrett, auf dem ein Buch lag. Er konnte das Buch mit einem Schlauch umblättern, wenn er in das Ende blies, das aussah wie eine Zigarettenspitze und das man direkt vor seinem Mund befestigt hatte. Der Mund und seine Augen waren das einzig Bewegliche an ihm.
„Hi, Kate!“ sagte er mit einer dünnen, gepressten Stimme. Kathleen beugte sich über ihn und küsste ihn auf die Stirn. Er suchte mich mit seinen dunklen Augen und fragte: „A Cigarette, Christian?“ Kate nahm das andere Ende des metallenen Gliederschlauchs von der Vorrichtung an dem Buch weg, zündete eine Zigarette an und steckte sie in die Öffnung. Ich sah, wie sich die Wangen des Jungen nach innen wölbten und wie er, völlig geräuschlos, den Rauch wieder von sich gab.
Ich fragte ihn, woher er meinen Namen denn wüsste. Er atmete Rauch aus und flüsterte, dass er in der Zeitung von mir gelesen, dass Kate von mir erzählt hätte und dass sie in mich verliebt sei. Kathleen ging wortlos zu dem Waschbecken im Eck des Raumes und kam mit einem feuchten Lappen zurück, nahm die Decke auf und wusch dem Jungen das Gesicht, den Hals und die Brust. Für einen Moment sah ich seine dünnen Arme, die schlaff und durchsichtig wie Glas neben seinem eingefallenen Oberkörper ruhten. Dann war die Decke wieder unter seinem Kinn.
Er wollte etwas über meinen Sport und meine Heimat wissen; ich erzählte ihm die Sache mit dem kaputten Motor und dass Schwimmen nur etwas für Scheintote wäre. Warum er so da läge, hab ich ihn noch gefragt. Er hat nicht darauf geantwortet, sondern nur gesagt, dass es ein heißer Sommer sei, diesmal. Dann war er still, als ob er zu erschöpft wäre, um noch etwas zu flüstern.
Am nächsten Tag ist unsere Mannschaft heimgefahren. Kathleen hat uns zum Flughafen begleitet; wir haben uns noch ein bisschen gedrückt und geküsst und sie hat gesagt, dass es sehr schön gewesen wäre, alles das.
Nach dem Abheben ging es durch eine dünne Wolkenschicht, dann war der Himmel frei. Erst als das Flugzeug schon über dem Kanal schwebte, hab ich nach meinen Augentropfen gekramt. „Scheiß-Chlorwasser, britisches!“ sagte ich zu dem Steward, der mir zusah, wie ich den Kopf zurücknahm und mir das Visadron gab. Er war derselbe wie bei der Hinreise.