Liebe Lichtsammlerin, liebes Sternenherz,
vielen Dank für eure ausführlichen und gut reflektierten Kommentare. :smile:
Lichtsammlerin hat einige wichtige Fragen aufgeworfen, die ich in Sternenherzens Kommentar hervorragend beantwortet finde; deswegen fange ich mal mit diesen Antworten an.
Augenfällig ist für mich insbesondere die doppelte Bedeutung des Wortes "kennen".
In Strophe eins impliziert es mM nach Sicherheit. Vertrautheit.
Nach diesem Übergriff impliziert das Wort "kennen" ein tiefes Wissen darum,
was er für ein Schwein ist, innerlich.
Vielen Dank, dass du diese doppelte Bedeutung des Wortes "kennen" herausgestellt hast, liebes Sternenherz. Es ist das zentrale Thema des Gedichts. Wen kennt man wirklich? Wen glaubt man zu kennen? Wem vertraut man, weil man ihn noch nicht gut genug kennt? Welche schmerzhaften Erfahrungen werden von uns abverlangt, wenn wir Menschen besser kennenlernen? Das alles muss man natürlich nicht auf die im Gedicht beschriebene Vergewaltigung reduziert sehen. Es ist vielmehr eine universelle Begleiterscheinung des menschlichen Miteinanders, hier in seiner schlimmsten Form auf die Spitze getrieben.
Insofern ist es gerade die vermeintliche Ähnlichkeit von Anfangs- und Endstrophe, die einen auf die veränderten Umstände und die Doppeldeutigkeit des Bekanntseins stoßen. Manchmal finden wir ähnliche Worte für zwei völlig verschiedene Dinge und wenn Menschen aus dem Kontext dennoch deuten können, wie es gemeint ist, verdeutlicht dies, welche Wahrnehmungen, Sichtweisen und Werte wir miteinander teilen, denn ohne diese geteilte Weltsicht ist ein solches Verständnis nicht möglich. Sätze sind mehr als Aneinanderreihungen von Worten. Sie beziehen sich immer auch auf allgemein Bekanntes oder auf ein geteiltes Wissen der Gesprächsteilnehmer. In diesem Subtext zu gründen, das ist wohl allervorderst die Methode der Lyrik.
Doch da der Subtext immer etwas ist, das sich verändern kann, das vielleicht nur zwischen Person A und B gilt, nicht jedoch für Person C, das neu ausgehandelt werden muss und auf das zwei Menschen beim Hören derselben Worte in unterschiedlicher Weise zurückgreifen, bleibt Lyrik auch immer ein Stück weit vage und uneindeutig und das ist auch OK so und damit sei dann auch schon Lichtsammlerins Lesart angesprochen:
Die Parallele zwischen der ersten und letzten Strophe ist gleichermaßen ein Rahmen, wie sie auch die Umkehrbarkeit markiert. Die Nacht begann... der Tag begann... aber dazwischen liegt ein Abgrund.
Etwas zu denken gibt mir der Vers "Sie kannte ihn", denn zum Ende hin hätte ich eine Wendung darin vermutet. Sie glaubte wohl ihn zu kennen.. Aber nach der Tat? Ich hätte ein Gefühl der Fremdheit erwartet. Etwa in dem Ausdruck "Sie kannte ihn / nicht mehr."
Stattdessen kehrt dieser Vers an den Anfangspunkt zurück und erzeugt damit in schon fast surrealer Art ein Übergehen, ein Verhüllen und Verleugnen des Gewesenen. Und nach einer Vergewaltigung versuchen das viele Betroffene..
Aus einer Perspektive von Außen, wie in deinen Versen, lässt es mir aber einen bitteren Geschmack zurück, etwas Falsches, dass ich aufschreien möchte "Das ist so nicht richtig!". Besser kann ich es nicht beschreiben.
Interessant, dass du ein Gefühl der Fremdheit erwartet hattest, es aber nicht in der Dopplung des "Kennens" gefunden hast, liebe Lichtsammlerin. Das zeigt wieder, wie unterschiedlich Sprache wirken kann, selbst wenn man in eine ähnliche Richtung denkt. Schön, dass du aus der Überraschung für dich dennoch eine nachvollziehbare Deutung gestalten konntest. Der Gedanke, dass das Opfer zur Routine übergeht, indem es das Geschehene leugnet bzw. verdrängt, kam mir noch nicht, könnte aber ebenso in den angesprochenen Stellen zu lesen sein. Da dies, wie du ja auch schriebst, nicht ganz an der Realität vorbeigeht, habe ich auch gewisse Sympatien für diese Interpretation. Allerdings ginge dann ein anderer interessanter Aspekt des Gedichts verloren, den Sternenherz aufgespürt hat:
Bezeichnenderweise läßt Du an dieser Stelle im Gedicht die Sonne aufgehen, die ja für das Bewußtsein steht.
Dies führt mich in Gedanken nochmals zurück zum Eingang des Gedichtes, wo frau sich ganz unschuldig und arglos im Mondlicht, das ich nun nach dem einmaligen "Passieren" Deiner Gedankengänge bzw. des Geschehnisses - mit dem Unbewußten bzw. dem Nicht-Bewussten und dem mütterlichen Urvertrauen assoziiere.
Einmal durchwandert wird frau mit dem Bewußtsein konfrontiert, wie es wirklich zugeht - nämlich auch gewalttätig, arglistig und schambeladend.
Vielen Dank, liebes Sternenherz, dass du die Lichtsymbolik so schön zerlegt und dann wieder zusammenhängend erklärt hast! :thumbup:
Genau das waren auch meine Gedanken beim Schreiben. Wieder erkennt man den Gegensatz im scheinbar Ähnlichen und wieder meint man, etwas zu erkennen (indem man es wiedererkennt) und sieht doch, dass man sich erst intensiver mit den Worten auseinandersetzen muss, um sie richtig kennenzulernen.
Der Mond steht wohl eher für die Ahnung, die Intuition etc.. In diesem blassen Licht meint das sie, ihn gut genug zu kennen, um zu wissen, dass man ihm vertrauen kann, dass man eine Nacht an seiner Seite verbringen kann, ohne das Schlimmste befürchten zu müssen. "Was soll schon passieren? Er ist doch ein netter Kerl." Diese Vertrautheit spürt man ja hin und wieder, wenn man jemanden kennenlernt, ohne dass dieses Vertrauen durch ausreichend Erfahrung untermauert wäre. Damit will ich auch nicht die Intuition verdammen. Auch auf die Intuition muss man sich im menschlichen Miteinander zuweilen verlassen.
Aber in diesem Fall war es die falsche Entscheidung. Erst bei Lichte betrachtet, wenn alles durch die Erfahrung klarer wird, erkennt sie den wahren Menschen hinter Wunschvorstellung. Insofern steht das Sonnenlicht tatsächlich für die Erkenntnis, die Bewusstwerdung, die Ent-Täuschung, während der Mond das Urvertrauen, das Bauchgefühl, vielleicht auch die Unbedarftheit symbolisiert.
Ich habe noch eine andere Assoziationsreihe im Innern, die muss ich aber noch "bergen" und polieren, um zu sehen, ob sie Bestand haben kann.
Darf ich fragen, ob du deine Assoziationen inzwischen für vorzeigbar hältst? Bin jedenfalls sehr gespannt nach deiner tiefen Betrachtungsweise des Gedichts, wie du sie bisher offenbart hast. :smile:
da verkrampft sich mir das Herz beim Lesen. Dieser fast schon unschuldiger Schreibstil, die wiederkehrenden Verse.. gepaart mit der Schwere des Inhalts.. der Kontrast macht in meinen Augen die Dramatik umso deutlicher.
Ich denke, der unschuldige Schreibstil rührt von der reinen, teilnahmslosen, nüchternen Beschreibung der Handlung. Das LI nimmt sich hier völlig raus, um dem Leser das Denken, Urteilen und Fühlen zu überlassen. Dabei wirkt das LI vielleicht auch etwas abgeklärt, als hätte es so etwas schon dutzende Male erlebt. Aus meiner Sicht unterstreicht es auch irgendwie die Tragik, dass wir alle wissen, dass es täglich passiert und dass es auch in Zukunft nicht verhindert werden kann und man kann dann kaum mehr tun, als das Unrecht zu beschreiben, denn ungeschehen kann man es nicht machen.
Das sind zumindest meine Gedanken zum Text. Danke noch einmal für euren tollen Input, der einen richtigen inneren Dialog in mir nach sich zog. Deswegen hat es auch eine Weile gedauert, bis ich es verschriftlichen konnte. Das waren schon sehr viele Gedanken auf einen Schlag. So macht es aber richtig Spaß, sich mit Literatur auseinanderzusetzen.
LG