Was glaubst du, schreibe ich dies oder mein "lyrisches Ich"?
Hi Carlos,
die Frage wurde ja jetzt inzwischen geklärt. Deine Einstellung hierzu habe ich ja nun auch vernommen und darüber nachgedacht. Es fängt ja im Grunde schon damit an, sich klar zu werden, weshalb ich veröffentliche. Nicht, weshalb ich schreibe, sondern, weshalb ich möchte, dass Menschen, die ich nicht kenne, meinen Text lesen. Und hier noch einmal speziell in einem Lyrikforum. Dort kennt man ja auch niemanden. Man ist so naiv zu glauben, dass die Avatare identisch sind, mit den Menschen, die sie steuern. Vielleicht ist das der Fall, vielleicht aber auch nicht. Wenn du jetzt schreibst, dass du kein Verständnis dafür hast, stellvertretend das LI für dich sprechen zu lassen, dann tust du es im Grunde ja irgendwie doch. Du lässt deinen Avatar das Gedicht veröffentlichen und gibst dich nicht mit vollem Namen und Adresse zu erkennen. Was ich auch für absolut vernünftig halte. So, "anonym" kann ich viel unbefangener experimentieren ohne zu befürchten, gleich meinen Arbeitgeber, Freunde, Familie (Kinder zum Beispiel) auf der Matte zu haben, die mit mir diskutieren wollen. Das soll mein privates Hobby bleiben. Wenn ich meine, ein Text könnte sie interessieren, dann zeige ich ihnen denen direkt. Nun ist diese Community hier ja schon so etwas, wie eine große virtuelle Familie. Da mag es gut tun, wenn die Familienmitglieder sich gegenseitig ihr Herz ausschütten. Ich frage mich nur, was das mit Lyrik zu tun hat. Ich kann das nicht. Ob nun LI oder Autor, das ist völlig egal; wenn ich einen Text in Ich-Form lese, dann käme ich nie darauf, dem Autor oder LI meine Betroffenheit ihm persönlich gegenüber kundzutun. Also wirklich ernsthaft kundzutun. Ausnahme ist natürlich die satirische Antwort zu satirischen Beiträgen. Da sind ja die pointierten Antworten oft spannender als das Werk selbst. Da wird solch ein Fädchen optimalerweise zum Gesamtkunstwerk.
Aber ein: "Es tut mir so Leid, dass deine Beziehung in die Brüche gegangen ist. Gut, dass du solch einen selbstlosen Umgang zu deiner Ex gefunden hast", käme mir nicht aus der Feder. Das geht mich nichts an! Ich lese und versuche zu spüren, ob dieser Text mich bewegt. Nicht die Situation, die er beschreibt. Und dein Text
hat mich bewegt. Der ist unkonventionell. Man spürt sowohl Verbitterung als auch den überraschenden Umgang damit. Gut
verdichtet im wahren Sinne des Wortes. Das löst etwas in mir aus.
Da will ich nicht mehr wissen, ob das tatsächlich, und dann auch noch dir persönlich passiert ist. Und alle weiteren Einzelheiten, die du anschließend noch zum Bruch der Beziehung und deinen Umgang damit mitteilst, sind für mich völlig unerheblich. Ich will sie nicht wissen.
Und da bin ich beim Knackpunkt. Was will ein Lyrikforum? Will es gute Texte schreiben und lesen oder ist es eine Selbsthilfegruppe, die einander Halt, Trost und Mitleid spendet?
Ich tendiere für das erste.
VG, Marvin