9. März 1856
Wie kann ich festhalten, was derart an meine Seele rührt, dass ich selbst nicht mehr zu halten bin? Wie kann ich in Form bringen, was nur in den Wirren einer unklaren Betrachtung zu verstehen ist?
Am Mittag gelangte ich an einen einsamen, schroffen Felsen, der in einer Einkerbung kühlen Schatten versprach. Dort ließ ich mich fallen und fiel sogleich in einen tiefen Schlaf, vom Tode nicht zu unterscheiden. Und wie ich dies so niederschreibe, weiß ich in der Tat nicht, wie ich ausschließen soll, dass ich tot bin, obgleich - oder gerade weil ich mich so lebendig fühle, wie ich es in meiner Erinnerung, von diesem Tage abgesehen, nicht wiederzufinden vermag. Da lockte mich ein Gefühl aus meinem Traume, das mir ganz und gar fremd geworden ist: Wasser auf meiner Hand. Als ich den Schleier vom Gesicht hob, erkannte ich, dass es Regentropfen waren, die den Felsen hinabrannen und auf meine Handfläche tropften. Nun erst hörte ich den Regen auf das Geröll niederprasseln.
Sogleich stand ich auf, riss mir den Schleier vom Kopf, blickte, während mein Atem um Ruhe rang, gen Himmel und die Freudentränen waren von den Regentropfen nicht zu unterscheiden. Wie ich die Augen schloss, spürte ich alle Freude meines Lebens auf mich herniedergehen und als ich die Zunge ausstreckte, waren sie alle in einem Punkte vereint. Ewig wollte ich so verharren. Doch ich wusste, dass ich mich beeilen müsse, so viel dessen zu bewahren, das durch seine Vergänglichkeit so wertvoll ist. Ehe ich mich besah, hatte ich einen Eimer und all meine Kraft bereitgestellt. Da griff ich schon zur Schaufel und grub ein Loch, so groß, dass ich es gerade mit einer Lederdecke auslegen konnte. Nach getaner Arbeit betrachtete ich mit Genugtuung, wie nun die Natur in meinem Sinne wirkte, da hörte ich zu meiner größten Überraschung eine milde Frauenstimme hinter mir:
"Die Wüste ist der schönste Ort der Welt, nicht wahr?" Erschrocken zuckte ich zusammen, sammelte mich aber rascher, als es mir lieb war, drehte mich um und sah nichts als die unermessliche Tiefe und Klarheit ihrer blauen Augen, durch die hindurch ich hinter dem Spiegel meiner Verwunderung den Frieden ihrer Seele sah. Da gab ich zur Antwort: "In diesem Moment ist sie es." "Sie ist es, wenn man sich ihr ergibt." Noch während ich meine Frage formulierte, ärgerte ich mich über ihre Belanglosigkeit: "Wer bist du?" Es ist nicht wichtig, wem man begegnet, wenn in der Wüste eine Begegnung stattfindet. Durch ihre Antwort erst wurde meine Frage bedeutsam: "Ich bin der Wüstenregen."
Darüber hätte ich mich wohl wundern sollen. Stattdessen sah ich sie einfach nur an. Mein Blick folgte der schwarzen Strähne herab, die über die zarteste Wange hing, streifte dabei die kurze Nase, die, wenn man sie für sich allein betrachtete, schüchtern aussähe, jedoch in den selbstbewussten Zügen ihres Antlitzes Genügsamkeit verriet, und kam auf ihren dünnen, nuancierten Lippen mit ihrer weit gezogenen Senke zur Ruhe, die einen Gedanken zu tragen schienen, der jenseits des Horizonts seine Quelle haben musste. In ihrem weißen Gewand stand sie bemerkenswert aufrecht, aber nicht starr vor mir ohne das geringste Anzeichen von Anstrengung, als hätte der Wind sie herbei geweht, dass ihre Weisheit sich mehr durch ihren gütigen Blick als durch ihre Worte über mich ergösse. Sie war das Werden inmitten des Vergehens. Mir blieb nichts anderes zu sagen als: "Danke."
Schon nahm sie meine Hand und brachte mich, indem sie sich auf den Boden setzte, ebenfalls zum Sitzen. Noch ehe ich fragen konnte, antwortete sie: "Ich bin der Wüste wegen hier und du bist nun Teil der Wüste." "Aber ich gehöre nicht hierher." "Nur wenn es regnet, bestehe ich. Daher weiß ich nicht, was es bedeutet, irgendwohin zu gehören, wo man nicht ist." Da verstand ich, wie kostbar das Leben ist, das ich wenige Minuten zuvor noch am liebsten überwunden hätte, und unergründliche Zufriedenheit sank in mir herab. Als sie dies sah, ließ sie mir ein Lächeln zukommen. An keinem anderen Ort, so wurde mir bewusst, wollte ich lieber sein als hier. Keine andere Zeit, so hoffte ich, sollte es geben, als die Gegenwart. Darauf nickte sie. "Die Wüste wird für dich sorgen, wenn du ihr vertraust. Nun trinke etwas!"
Doch ich wollte den Blick nicht von ihr abwenden. Also neigte sie den Kopf zur Seite, als wollte sie sagen: "Mir zuliebe!" Während ich einen Schluck aus der Karaffe nahm, fühlte ich mich ihr so nah, als wenn ich sie küsste. Darüber lachte sie, streifte mir durch das Haar und als unsere Blicke einander näherten und in der Tiefe versanken, küsste sie mich. Alles wurde eins. Sie und ich. Der Regen und die Wüste. Der Himmel und die Erde. Alles wurde eins.
Plötzlich stand sie auf. Kurz blickte sie nach oben und ihre Miene wandelte sich mit einem Male zum reinsten Ausdruck von Vergänglichkeit. "Es ist an der Zeit", erklärte sie. Als sie im Gehen begriffen war, hielt ich ihre Hand und ahnte nicht, dass ich sagen würde: "Ich werde auf dich warten." Dann lösten wir uns voneinander wie Tautropfen vom Blatt und nachdem ich mir die Nässe vom Gesicht wischte, war der Regen verschwunden. Und sie war es auch.