Moin Letreo,
das ist inhaltlich in der Tat sehr bedrückend.
In deiner Umsetzung zeigt sich aber ganz gut, dass das Lyrische Ich dieses schlimme Ereignis hinter sich lassen will.
Der Text ist nicht laut oder aggressiv, die inhaltliche Schwere wird formal vielleicht durch die Trochäen ausgedrückt, das finde ich passend.
Wäre es nicht so, dass es hier eben ums Vergeben ginge, würde mir das bei so einem Thema möglicherweise nicht reichen, aber hier, wo es um Milde geht, soll es so sein!
Ein paar Punkte würde ich noch ansprechen wollen:
Angst sitzt fest in meinem Nacken,
so, als ob es gestern wär.
Grausam musstest du mich packen,
es gab keinen Ausweg mehr.
Vers 4 ist hier metrisch etwas wackelig, weil das "es" schwächer betont wird als das "gab".
Das könnte man an dieser Stelle reicht einfach lösen, wenn wir auch das unpersönliche Passiv mit "es" änderten.
Vielleicht so:
gabst mir keinen Ausweg mehr.
So wird die Täterschaft des Lyrischen Du nochmal betont, denn die Ausweglosigkeit wurde ja durch dieses überhaupt erst durchgesetzt.
Nein, ich werd das nie vergessen,
doch mein liebend Herz ist rein,
statt zu hassen, will stattdessen,
ich den Vorfall dir verzeihn.
Bei Vers 1 dachte ich, dass das klanglich und metrisch auch ohne die Elision (Streichung des e bei "werde") so gut funktionieren könnte:
Nein, ich werde nie vergessen,
Vielleicht ist es dir wichtig, "das" im wahrsten Sinne des Wortes nochmal zu betonen, wobei es ja eigentlich auch nicht nur um "das" geht.
Auch danach ging es für das Lyrische Ich ja noch weiter, ohne das "das" wäre die Aussage also vielleicht sogar etwas universeller.
Bezüglich dieses Verses spreche ich auch nochmal den Titel an, der erscheint mir in diesem Kontext nicht richtig.
Bezogen auf den Inhalt müsste es dann ja
Zeit zu verzeihen sein, was meinst du?
Bei Vers 4 stimme ich meinen Vorrednern zu, der "Vorfall" klingt unheimlich harmlos.
Ich kann sicherlich nicht wie das Lyrische Ich über diesen Schrecken nachfühlen, aber das erscheint mir ZU aufgeräumt.
Über Alternativen wurde ja bereits gegrübelt, jede erscheint mir angemessener.
Ich möchte bei diesem Vers aber noch einen anderen Impuls anstoßen, da ich auch dieses direkte "dem Lyrischen Du verzeihen" echt krass finde.
Vielleicht kann das Lyrische Ich das, aber für mich fühlt sich das unvorstellbar an.
Was ich mir aber dachte, und da denke ich wieder an meine Anregung aus Vers 1 dieser Strophe:
Vielleicht könnte es dem Lyrischen Ich ja auch um ein universelleres Verzeihen gehen.
Nicht eines in dieser unglaublichen Gerechtigkeit gegenüber dem Lyrischen Du.
Sondern ein Verzeihen der Welt gegenüber, etwa so:
ich der Welt all das verzeih'n.
Denn im Endeffekt lebt und liebt das Lyrische Ich ja nicht für das Lyrische Du oder mit ihm.
Es ist ihm nichts schuldig, erst recht nicht die Gerechtigkeit des Verzeihens.
Vielmehr lebt das Lyrische Ich unabhängig vom Lyrischen Du.
Es will diesen Hass nicht mehr in sich, in seinem Leben und die Welt eben ohne diesen erleben.
So zumindest lese ich das.
Aber ich verstehe natürlich, wenn das Lyrische Ich da ein viel besserer Mensch als ich sein könnte, und tatsächlich auch ganz konkret dem Lyrischen Du verzeihen kann und will.
LG Chris