Hallo Berthold,
ich bin sehr beeindruckt von deinem Werk 'Menschenskinder'.
vielen, herzlichen Dank!
Als Titel ein Ausdruck des Ärgers, der aufrüttelt, aufweckt, anspornt.
Dann geht es ans Eingemachte.
In den ersten Versen kann ich noch auf ein sympathisches
Frühlingsgedicht hoffen, doch die wird bereits Ende der ersten Strophe
weggeschwemmt. Also: Keine Gartenzwergidylle, stattdessen dunkle
apokalyptische Bilder, Szenarien; und das im Telegrammstil.
Telegrammstil - ja. News im Telegrammstil, Liveticker ... die mich manchmal regelrecht überwältigen. Alleine Hanau jetzt wieder, aktuell. Es mag durchaus sein, dass es natürlich gute Nachrichten/Geschehnisse auf der Welt gibt und es stimmt, dass diese nicht 'sensationswürdig' sind und daher keine Berichterstattung wert sind (nach Ansicht der Medien). Aber das ändert trotzdem nichts an der schieren
Menge an schlechten Nachrichten - manchmal kommen sie fast wie eine 'Flutwelle', eine Hiobsbotschaft nach der anderen ...
Dann kann es geschehen, dass die Dunkelheit ihren Weg in mich hinein findet und ich dann die Bilder in mir, wie hier, sprechen lasse.
Der Telegrammstil hängt auch mit der von mir gewählten 'Form' zusammen. Ich nahm hier die mittelalterliche Stabat-Mater-Strophe (stabat mater dolorosa: Es stand die Mutter schmerzerfüllt) als 'Grundgerüst' und passte sie entsprechend an, indem ich das Reimschema veränderte und mit mehr Zäsuren arbeitete. Der trochäische Rhythmus eignet sich besser als der Jambus, um diesen Inhalt zu 'tragen'.
Mir gefällt, wie du nach und nach die Reime auflöst, parallel dazu, wie
sich der uns so vertraute Gang der Welt, ja, die Erde selbst, nach und
nach auflöst.
Den Rhythmus hältst du so weit ich das eben erkenne bei. Vielleicht
folgt auch der Untergang unserer Welt einem uns unbekannten Rhythmus,
einer uns fremden Choreographie [Lediglich die 'Betonbauten' fallen mE
aus dem Rhythmus].
Es freut mich sehr, dass du auf diese 'Auflösung' der Reime aufmerksam geworden bist. Den Rhythmus wollte ich auch beibehalten und nicht auflösen, denn, wie du es sagst - der 'Abgesang' ertönt ständig weiter, bis zum letzten Ton ...
Du bist sehr aufmerksam! Ja, die Betonbauten, kantige, steinige Gebilde. Davor, dabei und danach in der Strophe: Ratten, Füchse und - Menschen. Das Werk der Menschen ist hart, kalt und 'sperrig'. Zwar versuchen Tiere, wie z. B. Füchse, sich an ein Leben in Städten anzupassen, aber, wenn es dem Menschen nicht gefällt, dann greift er zum Gift und unterschiedslos, egal, wen es trifft. Gift für Ratten, Gift für Tauben, Gift für Insekten, Gift für Füchse ... die Natur stört uns, wird nicht geduldet. Oder wenn doch, hier und da, dann nur zu menschlichen Bedingungen; kein Ast an einem Baum, kein Blümchen und kein Grashalm dürfen wachsen, ohne dass wir darüber bestimmen, wo und wie. Wird gegen unsere Bedingungen verstoßen, wird abgemäht, abgeschnitten und 'beseitigt'.
Aus sechs starken Strophe möchte ich zwei herauspicken.
*Wasser überflutet Keller,
Bäume fallen in den Wäldern
und im Buschland: Flammenmeer.
Fehlen Bienen, schweigen Vögel,
fault Getreide auf den Feldern,
krächzt kein Rabe, nimmermehr.
Zuerst ein fast gewöhnlicher Starkregen, dann der Sturm, dann der
verheerende Waldbrand. Die daraus resultierenden (möglichen)
Konsequenzen arbeitest du 'nur noch' stichpunktartig ab und erzeugst
damit eine mE unglaublich düstere Atmosphäre, bis hin zum stillen
Schlussakkord: "... krächzt kein Rabe, nimmermehr."
überfluten, fallen, fehlen, schweigen, faulen - kein Krächzen, nimmermehr. Edgar Allan Poe, den ich hier mit einbezog. Zwar sind hier natürlich auch die Raben und Krähen angesprochen, aber der kleine Hinweis auf Poe, dessen Name der Anfang des Wortes Poesie ist, hat hier 'mitzureden'. Im übertragenen Sinn stirbt auch sie hier 'mit', die Schönheit und auch das einzig Schöne und wirklich Konstruktive, das unseren viel zu destruktiven Händen und Hirnen entsprang ...
*Nur der Geist von Mutter Erde
blickt am Ende auf die Leere,
schlägt die Hände vors Gesicht,
weint ein Meer aus Kieselsteinen.
Fort sind alle ihre Kinder,
sie ist wieder ganz allein.
Ein höchst unerfreulicher Ausblick, den du hier skizzierst, ja. Die Art
und Weise wie du ihn skizziert, finde ich gleichwohl bärenstark.
Noch einmal - Danke für dein Lob.
Wenn alles zerstört und selbst der Ozean verdampft ist - dann
kann Mutter Erde nur noch Kieselsteine weinen ...
Menschenskinder! Wacht auf! - - - Ob es was nützt?
Das hat es bereits. Du hast mir diesen Kommentar geschrieben. Ich habe einen Kieselstein in Bewegung gesetzt und er hat einen zweiten losrollen lassen. Das ist die einzige, realistische Hoffnung, die es gibt - dass sich diese kleinen Steinchen (nicht nur mein Gedicht, sondern alle anderen Arten von Steinchen, Demonstrationen, Aktivitäten) sammeln mögen und irgendwann die Macht einer Lawine erreichen. Die, vielleicht doch, in der Zukunft, die noch bleibt, etwas Großes geschehen lässt und sich, sei es auch im 'letzten Moment', sei es eine Sekunde vor Mitternacht, die Dinge ändern. Vielleicht auch nicht, aber es gibt keine Chance, die zu klein wäre, als dass es sich nicht lohnen würde, sie zu nutzen - und auf sie zu hoffen. Manchmal geschehen auf der Welt auch die unwahrscheinlichsten Dinge. Es gewinnen ja auch Leute im Lotto - und da ist die Wahrscheinlichkeit weit höher, vom Blitz getroffen zu werden. Die Hoffnung stirbt zuletzt - noch ist sie nicht tot.
Nicht gern, aber nachdenklich gelesen.
So ging es auch mir. Nicht gern, aber nachdenklich geschrieben.
LG,
Anonyma
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Hallo, Eulenflügel,
Eulenflügel schrieb:
Meine Güte,
was für ein trauriges Monument.
Ich danke auch dir! Trauer suchte sich Worte, denn, manchmal, da muss ich um Hoffnung ringen, wirklich.
Eulenflügel schrieb:
Danke für diese entsetzliche Vision, Anonyma.
Sie ist in starke Worte gesetzt.
Hoffen wir, dass sie nicht in Erfüllung geht ....
Ja, Eulenflügel - ich hoffe das auch. Dass, gegen jede Wahrscheinlichkeit, wir diese Welt und uns nicht zugrunde richten. Auch als Atheistin kann ich oder besser, muss ich auf ein - Wunder hoffen. Zwar mit anderem 'Glaubenshintergrund', aber das ist nahezu alles, was bleibt ... denn Tatsachen lassen sich zwar wegschieben, verdrängen oder ausblenden, aber sie existieren trotzdem, sie sind die - Realität.
LG,
Anonyma
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Hallo Sternwanderer,
so wird es wohl einmal der Mutter Erde ergehen - fürchte ich - es stellt sich nur die Frage: Wird sie um uns Menschenkinder weinen, auch wenn ihre Tränen längst versteinert? Es geht ihr doch viel besser ohne uns!
Ich denke ja, denn - Mutter Erde ist kein Mensch, nicht wahr? Mir ging beim Lesen deiner Worte hier durch den Sinn: Ob der letzte Mensch wohl um die Welt weinen würde - oder über sein eigenes 'Schicksal'?
Wie schon von Berthold erwähnt, scheint es Anfangs um ein Frühlingsgedicht zu gehen, dass sich langsam aber sicher als ein menschenkritisches Werk herauskristallisiert - ihn anpranger,t um der Frevel die er der Erde antut. Recht gebe ich dir zu deinen Zeilen, die sich langsam aber sicher in ihrem Worttempo steigern, bis man herzklopfend an der Schlussstrophe ankommt und feststellen muss: Aus die Maus -
Ein Dankeschön extra von mir, denn diese 'Steigerung des Tempos' war von mir so beabsichtigt und scheint auch zu 'funktionieren', wie mir deine Rückmeldung sagt.
Ja, während sich das 'menschenkritische' langsam herauskristallisiert wächst das Tempo. Was die Realität ist.
(Dennoch, wie ich bereits in meiner Antwort an Berthold schrieb, muss ich die 'Lorbeeren' mit der Stabat-Mater-Strophe 'teilen'.)
Auch dir danke ich herzlich für deinen Kommentar!
LG,
Anonyma
Hallo Lichtsammlerin,
dein Kommentar traf ein, während ich noch an den Antworten zu den vorherigen schrieb, hat sich also 'überschnitten'.
du zeichnest hier vielschichtige Facetten unserer Welt, wie sie ist und wie sie werden könnte..
Ja, werden könnte - noch ist es ein könnte. Aber, an manchen Tagen, da gelingt es mir fast nicht mehr, dagegen 'anzugehen', gegen den Gedanken, ob es nicht bereits ein 'wird' ist. Es 'bewegt' sich einfach nichts bei uns Menschen. Eine Schreckensnachricht, eine Katastrophe löst die andere ab - aber es 'tut sich nichts'. Die 'Menschenwelt' bleibt stur, starr und steif auf der Stelle stehen. Es geht nicht darum, ob in China mehr und mehr Menschen sterben, weil das Gesundheitssystem hoffnungslos überlastet ist - es geht um Wirtschaftsinteressen. Es geht nicht um brennende Wälder in Australien - es geht um menschliche Häuser in 'Gefahrengebieten', um landwirtschaftliche Betriebe. Es geht nicht um Naturschutz, sondern um den Profit durch Tourismus. Es geht nicht um Lebensqualität, sondern um Lebensquantität - Leben muss selbst dann gewaltsam, auf Biegen und Brechen verlängert werden, auch wenn es nur noch grausames Leiden ist. Es geht nicht um Flüchtlinge, wenn die Regierung jetzt, aktuell, einen neuen Kampfjet entwickeln lässt. Es geht nicht um Frieden, wenn mit Krieg Unsummen verdient werden. Es geht nicht um alternative Energien, sondern um Arbeitsplätze, denn es geht um Wahlen. Und, und, und ... endlos. Nichts ändert sich, gar nichts. Seit einhundert- vielleicht, laut manchen Forschern, seit zweihunderttausend Jahren steht der Mensch auf der Stelle und bewegt sich, 'entwickelt' sich, keinen Millimeter. Nur die Technologie, die kam dazu - viel mehr zerstören und viel mehr töten in viel kürzerer Zeit. Immer mehr, immer schneller.
Es liest sich nicht flüssig, immer wieder scheinen einzelne Verse HALT zu rufen und mich festzuHALTen, dass ich nicht über ihre Bedeutung hinweg lese.
So spiegelt die Struktur das wahre Leben. Ich betrachte das Leben gerne als einen Fluss, aber seit dem Menschen passt dieses Bild nicht mehr, das Leben fließt nicht mehr, das Getriebe stottert.
Ja, die vielen Zäsuren, denn es war schwierig, dafür zu sorgen, dass das 'Tempo zunimmt' aber der Leser nicht den 'Halt verliert'. Ein Balanceakt, könnte man sagen. Ein Hinweis auf die Frage, wie lange die fragile Balance noch hält, so stark, wie das Leben auf Mutter Erde auf diesem Seil 'schwankt' ...
Die Mondin müsste erschrocken vom Himmel fallen, könnte sie sehen, was wir der Erde antun.
Mutter Erde weint.
Kinder schreien.
Tote schweigen..
Menschlichkeit?
Babys fallen - sowohl aus den Armen ihrer Mütter, als auch im Krieg. Denn ich wollte hier nichts beschönigen, sondern die Realität aufzeigen. Die ist grausam, an ihr ist nichts 'Lyrisches oder Poetisches'. Daher diese direkten Bilder im Gedicht, ohne 'political correctness', ohne Beschönigung oder Beschwichtigung. Ich glaube nämlich, dass wir uns das wirklich nicht mehr leisten können - wir müssen hinsehen, realisieren und dann endlich reagieren. Wir verhalten uns, als ob wir immer mehr und mehr und schneller völlig außer Kontrolle geraten. Der einzelne Mensch hat Verstand, besitzt Vernunft - aber die Menschheit in großen Gruppen (Länder, Staaten) und als 'Ganzes' scheint, im wahrsten Sinne des Wortes, zunehmend 'den Verstand zu verlieren'.
Menschlichkeit? Ja, das ist die Frage - wann gibt es sie endlich
wirklich?
Deine Verse sind nicht angenehm zu lesen, das sollen sie wohl auch nicht.
Ja, damit triffst du den bekannten Nagel auf den Kopf.
Sie zeigen auf und erschüttern das friedlich vorgespielte Weltbild mit bitterer Realität.
Ebenfalls ja. Es ist bitter, dass zuerst über die Toten in Hanau, über die Toten in China, über Müllhalden auf dem Mount Everest (durch Tourismus), über Artensterben, über Kriege etc. berichtet wird, dann *Fingerschnipps* - gefolgt von Sport und der Wettervorhersage. Und von fröhlicher Werbung für nutzlose Produkte, die niemand braucht.
Dabei vermischst du viele wahre (im Sinne von "bereits eingetroffen") Bilder, mit möglichen Szenarien der Zukunft. Was ähnlich großes Unbehagen bei mir auslöst wie die Lektüre 1984 von Orwell.. denn es wird umso deutlicher, dass Mögliches durchaus eintreten kann.
So ungern ich diese Szenarien auch lese, so wichtig finde ich es, sich ihner bewusst zu sein.
Was heute geschieht, wird sich morgen fortsetzen. Und zugleich, da Kausalität nun mal Realität ist, entstehen weitere Szenarien. Möglicherweise - ja und nein. Was ist wahrscheinlicher - dass sich diese Szenarien fortsetzen und neue hinzukommen oder dass wir, die Menschen, wie durch ein wahres Wunder, plötzlich tatsächlich - vernünftig werden? Nun, man hat ja die sprichwörtlichen Pferde schon vor der Apotheke kotzen sehen - ich bewahre mir Hoffnung, weil es zwar extrem unwahrscheinlich, aber nicht
unmöglich ist. Ein winziger Trost, aber auch das Winzigste ist unendlich mehr als nichts.
In diesem Sinne, danke für die unbequemen Worte, hoffen wir, dass Mensch noch zur Besinnung kommt..
Ich danke dir, liebe Lichtsammlerin. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit hoffe ich das auch. Das hoffe ich wirklich.
LG,
Anonyma