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  • Daniel Walczak
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Wir alle waren schonmal besorgt. Mal bewusst, wenn wir einen Freund anrufen, von dem wir lange nichts gehört haben und von dem wir wissen, dass er sehr krank ist. Und mal unbewusst, wenn wir ein unbehagliches Gefühl entwickeln, während wir auf jemanden warten. Wir wissen nicht so recht, woher es kommt, doch unser Herz weiß zumeist mehr als unser Verstand.

Wir würden es nie aussprechen, doch jedes Mal, wenn wir uns als Kind wundern, warum die Eltern denn nicht schon vom Einkaufen zurück sind, stellt sich unser Herz für einen kurzen Moment vor, sie würden nie wiederkehren. Es reichte eine Sekunde der Unachtsamkeit, ein LKW-Fahrer, der sich am Morgen ein Bier zu viel genehmigt hatte und wir würden unsere geliebten Eltern nie wieder sehen. Wir sind täglich nur Bruchteile von Sekunden davon entfernt, schon bald am Grabe unseres besten Freundes, unserer Mutter, unseres Kindes zu stehen. Und wir wollen das nicht wahrhaben. Wir wollen das nicht wissen.

Doch unser Herz weiß es und es versucht uns mit jedem Schlag diese unumstößliche Wahrheit ins Bewusstsein zu rufen, wenn wir mal wieder fünf Minuten zu lange auf einen Bekannten warten, der irgendwo in einem Stau steht, an dessen Spitze gerade jemand für immer seine Augen schließt. Wir wissen, dass er es hätte sein können und gleichzeitig wissen wir es nicht. Wir wissen bei jedem Bericht über einen Anschlagsmord, dass wir es hätten sein können, und gleichzeitig wissen wir es nicht. Weil wir es nicht sein dürfen.

Als ich an jenem Samstagmorgen mit Schlafsand in den Augen verträumt die Treppe hinuntertrabte, traf ich meine Eltern nicht im Erdgeschoss an. Auch im Garten war keine Spur von ihnen und nach einem Blick auf unsere Auffahrt wurde mir klar, dass sie einkaufen waren. Das taten sie jeden Samstagmorgen, meistens von neun Uhr bis halb elf, je nachdem, wohin sie mussten. An besagtem Morgen, so verriet mir die große Wanduhr neben der Küchentür, betrat ich um zwölf Uhr sieben unseren Flur.

Mein Handy befand sich noch auf dem Nachttisch und ich lief – eher verwundert als panisch – die Treppe zurück nach oben. In meinem Zimmer angekommen, stellte ich fest, dass die einzige Nachricht, die mir angezeigt wurde, von Louis war, der sich bei mir nach den Hausaufgaben für kommenden Montag erkundigte. Der Versuch, meine Mutter telefonisch zu kontaktieren, brachte mir nur eine einseitige Unterhaltung mit ihrem Anrufbeantworter ein, der in gewohnt mechanischen Tonfall zum Ausdruck brachte, sie sei zurzeit leider nicht erreichbar. Langsam legte ich das Handy zurück auf meinen Nachttisch und starrte – immer noch verträumt, zugleich jedoch zunehmend beunruhigt– ins Leere.

Normalerweise wäre ich längst von meinen Eltern geweckt worden, die mich dazu bewegen wollten, gemeinsam mit ihnen die Einkäufe aus dem Auto zu tragen. Doch an diesem Tag war ich von ganz alleine aufgewacht. Mein Magen knurrte, es war Mittag und ich hatte noch nichts gefrühstückt. Ein Blick in den Kühlschrank verriet mir, dass ich damit auch noch warten musste, bis meine Eltern wieder da waren. Und in diesem Moment wusste mein Herz, was mein dreizehnjähriger Verstand noch nicht wusste. Dass es keineswegs selbstverständlich war, dass ich sie überhaupt jemals wiedersehen würde. Es könnte sonst was passiert sein, ein platter Reifen oder ein Stau auf der Landstraße wegen eines Unfalls. Doch warum sollte jemand anderes in den Unfall verwickelt sein als meine Eltern? Woher nahm mein Verstand die Arroganz, die mein Herz längst abgelegt hatte, und ging davon aus, dass sie aufgrund eines zerbeulten Autos zu spät kamen, bei dem es sich nicht um unseren Ford Kuga handelte?

Die Antwort auf diese Frage war leicht – es durfte sich nicht um unseren Ford Kuga handeln. Unser Ford Kuga stand jeden Morgen in der Auffahrt und dann wieder nachmittags, wenn mein Dad von der Arbeit zurückkehrte. Das war schon immer so und es musste auch immer so bleiben – da konnte er nicht ausgebrannt in irgendeinem Graben liegen. Das ergab keinen Sinn. Meine Mutter nutzte den Wagen nur für kurze Fahrten und auch sie konnte ausreichend gut Autofahren, um stets heil zuhause anzukommen.

Ich hätte meine Besorgnis gar nicht bemerkt, wenn nicht mein Herz begonnen hätte, schneller zu schlagen als gewöhnlich. Das Herz wusste Dinge immer als Erstes. Es wusste, dass eine Beziehung vorbei war, Jahre bevor der Verstand das akzeptierte. Und es ahnte, dass ein geliebter Mensch – oder zwei geliebte Menschen – für immer fort waren, bevor man überhaupt darüber nachzudenken wagte.

Ich stillte meinen Hunger an diesem Morgen, Verzeihung, Mittag, mit einer trockenen Schwarzbrotscheibe ohne Aufschnitt. Die Leberwurst, die ich sonst so gerne auf mein Brot schmierte, lag vermutlich noch in einer Kühltasche im Kofferraum, irgendwo im Stau auf der Zufahrtsstraße in unsere Stadt. Oder verstreut neben einem zerbrochenen Glas Gurken, verbogenem Blech und Leichenteilen in einem Graben wenige Meter davon entfernt. Wer wusste das schon?

Nach einer Weile schaute ich erneut auf mein Handy, entdeckte jedoch keine weiteren Nachrichten, abgesehen vom Hinweis, ich hätte wieder fünf volle Leben in Candy Crush – welch eine ironische Fügung. In diesem Moment begann mein Verstand, über das Offensichtliche nachzudenken.
Sie hätten geschrieben, sagte ich mir immer wieder, sie hätten geschrieben. Völlig gleich, was passiert war, aber sie hätten geschrieben, wo sie waren und wie lange sie brauchten.

Als ich bis dreizehn Uhr immer noch nichts von ihnen gehört hatte, überlegte ich, was ich tun könne. Die Polizei rufen? An den Computer meines Vaters gehen, um herauszufinden, ob in unserer Stadt etwas passiert war? Auf meinem Handy hatte ich kein Internet und auch an den PC durfte ich nur, wenn ich um Erlaubnis bat.

Gerade als ich die Tür zum Arbeitszimmer öffnete, hörte ich Schlüssel im Flur klingeln. Es war der Schlüssel meiner Mutter, die sich genervt mit meinem Vater über die jüngsten Geschehnisse unterhielt. Was passiert war? Mein Dad hatte sein Handy vergessen, das meiner Mutter war leer und nachdem sie wegen Überschreitung der erlaubten Parkzeit abgeschleppt worden waren, mussten sie die gut sechs Kilometer nach Hause laufen.

All dies lies meinen Verstand aufatmen, doch mein Herz spürte in all dem noch eine weitere, verborgene Wahrheit. Meine Eltern verspäteten sich aufgrund einer sehr unglücklichen und unwahrscheinlichen Verkettung von Umständen. War es viel unwahrscheinlicher, dass sie am nächsten Samstag wirklich nicht mehr wiederkehren würden? Mein Herz wusste, dass es das nicht war. Doch mein Verstand durfte das nicht wissen.​
 
  • Daniel Walczak
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