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18.3.2012


Schmuddelkind

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Liebe Babsi,

 

vor einigen Tagen entdeckte ich die grünen Berge des Spessarts bei Gelnhausen für mich. Ganz war ich in der gewaltigen Erscheinung verloren, die ein Mensch nicht zu erträumen vermag und ich wollte nicht länger in ohnmächtiger Bewunderung verharren. Mit jedem Schritt, mit dem ich mich seiner würdig erwies, offenbarte der Berg mir eine neue Seite seiner Selbst, vertraute mir ein Geheimnis an. Mit jedem Schritt spürte ich mehr meines Körpers und ahnte, dass ich am Gipfel bei mir selbst ankommen würde. Als ich über die letzte Anhöhe stieg und der Boden sogleich dem Himmel wich, stand ich mit offenem Munde da, ungläubig, wie klein alles ist, wie klein ich gewesen.


Die unbeherrschte Weite stand mir offen und entzog sich doch meinem Begreifen und ein schmerzhafter Schrei stieg meine Kehle empor und ist doch stumm geblieben. Sie war der Horizont - unerreichbar! Und wenn ich versucht hätte, ihn zu berühren, mich weit nach vorn auszustrecken, wäre ich den Berg hinabgestürzt und der Horizont wäre aus meiner Sicht entschwunden. Ich muss einsehen, dass das Glück sich nur aus der Ferne zeigt und wenn man versucht, es in sein Leben einzuschließen, rückt es nur weiter in die Ferne. Und doch - wie soll man derart unerfüllt vor sich auf den Boden blicken und sehen, dass man steht, wenn einem vor dieser ungekannten Aussicht zu schweben zumute ist? Und so sehr diese Erfahrung mich quält - immer wieder suche ich sie seither auf, wie im Wahn.


Als ich mich heute zum ersten Mal wieder der Welt der Schriftsteller zeigte, durfte ich einige Briefe von ihr lesen - alles kurze, fragende Texte ("Wo bist du denn, du Lieber?" "Ich hoffe, es geht dir gut!" und dergleichen) und sogleich schrieb sie mir erneut: "Du bist wieder da! Es war ganz schön leer ohne dich." Ob ich sie meide oder ob ich aus unglückseliger Distanz an ihrem Leben teilhabe - immerzu fehlt mir etwas. 


In ihrer Wortwahl, in der Kürze ihrer Sätze, die mehr zu verbergen als zu offenbaren suchten, konnte ich eine ungenannte Sorge erkennen. Leidet sie etwa an der Ungewissheit, in der sie unsere Freundschaft wiederfindet? Wenn wir miteinander gesprochen hätten, hätte es mir die Sprache verschlagen, sie so in Sorge zu erleben. Gerne hätte ich sie getröstet und konnte doch nur Unzureichendes schreiben. Wie soll man jemanden in Zuversicht wiegen, wenn man selbst Trost braucht, in der Gewissheit, dass nichts wieder gut werden könne? Ich beschloss all dem keinen Grund zuzugestehen, in der Hoffnung, das Grundlose könne nicht fortbestehen.

 


Perpetuum mobile

 

Scheinbar ohne einen Grund
ach, haben deine Wangen
deine Tränen, dick und rund
behutsam aufgefangen.

 

Gefangen darin schaut ein Mann
zu mir und leidet stumm
und fängt sogleich zu weinen an
und weiß nicht recht, warum.
 

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