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Johannes und Margarete


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Johannes und Margarete

 

Sie nannten sie sich Joe und Marge, als sie sich bei einem Rockfestival kennen lernten und sofort ineinander verliebten. Amüsant fanden sie es, dass er als Kind Hänsel und sie Gretel gerufen worden war. Dabei hießen sie eigentlich Johannes und Margarete. Sie bekamen einen Sohn, der bei den Großeltern aufwuchs, während sie die Welt bereisten auf der Suche nach dem einfachen, freien Leben in einer Kommune. In Thailand blieben sie hängen, und nach einem jahrzehntelangen Hippieleben dort kehrten sie erstmals wieder in ihre ursprüngliche Heimat zurück. Jetzt waren sie alt, krank, hilfebedürftig und mittellos. Ihr Sohn und dessen Frau holten sie am Flughafen ab und quartierten sie bei sich in ihrem kleinen Haus ein, das sie sich mit Fleiß und Sparsamkeit hatten leisten können. Der Unterhalt und die Pflege der Eltern belasteten sie sehr.

 

Wenig später wurde die Schwiegertochter auch noch arbeitslos. Die Kinder mussten eine Entscheidung treffen.

"Unser Geld reicht nicht. Wir müssen deine Eltern loswerden, sonst sind wir bald pleite", sagte die Frau eines Abends zu ihrem Mann.

"Ich weiß nicht, ob ich das übers Herz bringe", antwortete der Mann.

"Aber du kennst sie doch kaum, so lange wie sie weg waren. Willst du wegen ihnen das Haus verlieren und unter einer Brücke schlafen?"

"Na gut, ich denke mir etwas aus."

Der Sohn buchte für sich, seine Frau und die Eltern eine Reise nach Afrika mit Safari in ein Gorilla-Reservat. Während alle gebannt die Tiere beobachteten, lockten der Sohn und seine Frau die alten Leute in ein Dickicht und ließen sie dort allein zurück. Erst viel später, als die Reisegruppe längst wieder im Hotel war, fiel ihr Fehlen auf. Vergeblich suchte man am folgenden Tag nach ihnen. Am Morgen darauf standen sie auf einmal vor dem Hotel. Eine freundliche Gorilladame hatte sich ihrer angenommen und sie zur nächsten Straße geleitet, wo sie von einem Ranger gefunden wurden.

 

Die Ersparnisse der Kinder schrumpften weiterhin zusehends.

"Wir müssen es noch einmal versuchen", forderte die Schwiegertochter. "Was nützt es, zu viert unterzugehen, wenn wir uns zu zweit über Wasser halten könnten?"

Schweren Herzens stimmte der Sohn zu. Diesmal ging die Reise mit dem Schiff in den Urwald am Amazonas. Sie buchten eine Bootsfahrt in einen entlegenen Arm des Flusses. Wieder führten sie in einem günstigen Augenblick die alten Eltern weg vom Fluss in den Dschungel, drehten sich schnell um und überließen sie orientierungslos ihrem Schicksal. Während die Reisegruppe zum Schiff zurückkehrte, mussten sich Joe und Marge ängstlich die fremdartigen Geräusche anhören, die von allen Seiten aus dem Dschungel drangen. Anfangs glaubten sie, dass sie gleich wieder abgeholt würden. Als dann aber innerhalb von Minuten die Nacht hereinbrach und die Geräusche immer bedrohlicher klangen, wurde ihnen sehr mulmig zumute und sie hielten sich gegenseitig eng umschlungen, um sich geschützt zu fühlen.

 

Am Morgen nach der schlaflosen Nacht stand plötzlich ein halbnackter Mann mit rot bemaltem Gesicht und einer Art aus Blättern und Federn gefertigter Krone vor ihnen. Seine Sprache verstanden sie nicht, deuteten seine Gesten aber so, dass sie ihm folgen sollten. Er war der Schamane eines im Urwald lebenden Stammes, der wegen gehäufter Misserfolge bei der Behandlung von Krankheiten und Verletzungen verstoßen worden war. Um zum Stamm zurückkehren zu dürfen, musste er dem großen Brillenkaiman, den der Stamm verehrte, ein Menschenopfer bringen. Der Schamane führte die beiden Alten an den Fluss und blies durch seine zusammengelegten Hände, wodurch ein schauriger Ton erklang. Aus der Wasseroberfläche erhoben sich der Rückenpanzer des riesigen Kaimans und der obere Teil seines Kopfes mit den kalt starrenden Augen.

Der Kaiman schwamm heran, öffnete sein großes Maul und ließ die Zahnreihen blitzen. Der Schamane wollte gerade mit Anlauf Joe als Fraß für den Kaiman ins Wasser stoßen, als der am Ufer ausrutschte und hinstürzte. Der Schamane konnte seinen Schwung nicht bremsen, stolperte über Joes Beine und fiel direkt in das weit aufgerissene Maul des Kaimans. Der Brillenkaiman hielt mit seinen kräftigen Kiefern den Schamanen fest, bäumte sich kurz auf und verschwand dann mit seinem Opfer im Fluss.

Joe rappelte sich mit Marges Hilfe auf. Ungläubig und entsetzt blickten sie dorthin, wo eben der Kaiman abgetaucht war. Joe hatte beim Sturz im Sand einen schimmernden Stein gefunden. Er hielt ihn für seinen Glücksbringer und steckte ihn in die Tasche. Mit ein paar Beeren und etwas Regenwasser überstanden sie den Tag und die folgende Nacht.

 

Am nächsten Morgen tauchte plötzlich wieder der Kaiman am Ufer auf. Diesmal blieb sein Maul zu und sein Blick erschien Joe und Marge eher friedlich zu sein. Offenbar war sein Hunger nach dem fetten Happen am Tag davor für eine Weile gestillt. Was war das? Winkte er mit dem Schwanz und mit dem Kopf? Es sah aus, als forderte er die beiden Alten auf, sich auf seinen Rücken zu setzen. Nun hatten sie schon längst alle Hoffnung aufgegeben, und so riskierten sie es, auf den Kaiman zu steigen. Was blieb ihnen übrig? In rasanter Fahrt, so dass sie Mühe hatten, sich festzuhalten, schwamm er mit ihnen flussabwärts, bis sie zu einer Ansiedlung kamen. Dort ließ er sie absteigen. Wollte er sich vielleicht für das reichliche Mahl erkenntlich zeigen, das sie ihm unabsichtlich verschafft hatten?

Danach dauerte es nicht mehr lange, bis Joe und Marge auf das Schiff gebracht wurden. Ihr Sohn war froh, das sie nicht umgekommen waren, und versprach, so lange wie nötig für sie zu sorgen. Als die Schwiegertochter das hörte, sprang sie von Bord und ertrank, bevor sich ein Schwarm Piranhas über sie hermachte. Der glänzende Stein, den Joe gefunden hatte, erwies sich tatsächlich als Glücksbringer, es war ein wertvoller Diamant. So hatten Johannes und Margarete für den Rest ihres Lebens keine Geldsorgen mehr und lebten noch viele Jahre in einem vornehmen Pflegeheim.

 

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