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Schmuddelkind

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Blogeinträge erstellt von Schmuddelkind

  1. Schmuddelkind
    Oh Babsi,
     
    sie hat mir geschrieben. Ich kann ihre Worte voller Versöhnung und freundschaftlicher Verbundenheit nicht ertragen! Und doch habe ich jeden ihrer Buchstaben wie ein Gebet immer und immer wieder vor mir hergesagt und wie unter Fluch litt ich nicht bloß an den Worten, sondern an dem Glauben daran. Ich bin nicht mehr als ein lebendiger Widerspruch.
     
    "Ein guter Mensch" sei ich und immer wieder "ein guter Mensch". Und jedes Mal war es eine liebevolle Beleidigung und jedes Mal war es ein fürchterlicher Beweis der Nähe.
     
  2. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    wie ich mich fühle ist eine Frage, die voraussetzt, dass ich mich fühle. Jeder Atemzug ist ein Nachruf auf den Tod, den ich verpasste. Jedoch habe ich mich mit dem Leben abgefunden; besser gesagt: ich habe mich damit abgefunden, mich nicht damit abfinden zu können. Heute war ich für etwa drei Stunden in Wilhelmsbad und zu beobachten, wie die Enten sich um meine Brotkrumen stritten, verschaffte mir wohltuende Ablenkung. Dennoch, es ist nur Ablenkung! Es ist nur das, was die Welt sein könnte, wenn ich nicht wäre, wer ich bin.
     
    Vermutlich war die Szene daher so ansprechend, weil sie sich nicht um mich drehte, fast als gäbe es mich nicht. Da waren nur die Enten, ihr Hunger und das Brot. Könnte ich doch die Welt immerzu derart unbeteiligt betrachten! Dieser Tage bin ich stets im Mittelpunkt meiner Welt. Ich bin der unbedeutende Endzweck einer traurigen Welt und diese Bürde ist schwer zu tragen, doch noch schwerer abzulegen.
  3. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    heute hat sie's mir wieder geschrieben: "Ich vermisse dich!". Es ist, ich verstehe es, das Unschuldigste und Liebste, das ein Geschöpf äußern kann, indem sie es schreibt, voller natürlicher und herzlicher Hinneigung, der reinste Ausdruck eines gutmütigen Wesens. Aber es ist ein Verbrechen vor der Verletzlichkeit einer zarten Natur, wenn sie es mir schreibt. Was hat sie für ein Recht, mich zu vermissen, wenn ich kein Recht habe, etwas daran zu ändern? Und in dem Augenblicke, in dem ich das niederschreibe, schäme ich mich dafür: Wer bin ich, sie für ihre Gefühle zu schelten und sie gleichzeitig ganz in meinem innersten Empfinden einzuschließen?
    Ich weiß nicht mehr, was ich glauben und was ich meinen soll.
     
  4. Schmuddelkind
    Und dennoch Babsi,
     
    ich bleibe dabei: wie könnte ich einer regelmäßigen Beschäftigung nachgehen, wenn ich bereits in der Ruhe so rastlos bin? Aber sprechen wir nicht mehr davon!
    Dein aufrichtiges Interesse an meinen Gedichten ist rührend und soll nicht unbefriedigt bleiben; darum hier meine neuste Arbeit:

    Mein Grab
     
    Ich habe mir ein hübsches Grab bestellt,
    wo ich zur Nacht, wenn ich nicht schlafen kann
    auf feuchter Erde meine Ruhe finde.
     
    Dann sage ich zum Scherz: "Adieu, oh Welt!
    Nun reich mir dar dein mageres Gebinde!"
    und fang ganz bitterlich zu weinen an.

    Indessen verwirren sich alle Seins-Umstände zusehends zu einem undurchsichtigen Geflecht, das keinen klaren Gedanken mehr zulässt. Es sind alles einfache, harmlose Worte, die mich erreichen und dennoch fällt es mir so schwer, eine Bedeutung zu erkennen. Bin ich der Welt schon so weit entflogen? Ich habe ihr von Lindas jüngstem Brief erzählt, in dem sie erneut versucht hat, mich zu einer Rückkehr zu ihr zu bewegen. Sanny meinte dazu: "Dich vergisst man eben nicht so schnell. Das hat sein Gutes und sein Schlechtes."
     
    Oh, wie mich jede ihrer liebevollen Annäherungen ins tiefste Mark trifft! Warum tut es derart weh, bedeutsam zu sein? Fühlte ich mich nicht freier und gesünder, hätte sie mich längst vergessen? Oder ist dies ein Hinweis darauf, dass ich wieder hoffen darf? Ach, mein Mund wird mir trocken und und mein Atem brennt, wenn ich daran denke, weitere Wochen hoffen zu dürfen, bangen zu müssen, sich der Sehnsucht und der Angst ganz hinzugeben und keinen Gedanken mehr zuzulassen, der nicht eher oder später zu ihr führt. Ob ich dazu noch die Kraft habe? Ob es nicht am Ende vergebens sein wird? Ist am Ende nicht alles vergebens?
     
    Ich weiß nicht, ob dies alles noch meine Angelegenheit ist, dieses Leben, das ich nicht verstehe. Immer weiter schleicht sich in den Wirren aus Glück und Unglück jeder Bezug zu mir selbst davon. Wie mächtig schätzt sich der Mensch, der Verstand hat und wie ohnmächtig ist er doch in dem Moment, in dem er zittert!
     
  5. Schmuddelkind
    Babsi,
     
    ich schreibe dir zitternd vor Angst. Heute ist Lindas Geburtstag, woran ich gewiss keinen Gedanken verschwendet hätte, hätte sie sich nicht mit so viel Gewalt in meinen Tag gedrängt. Sie klingelte bei mir und ich sah sie durch das Guckloch in meiner Tür. Zunächst hielt ich es für die beste Idee, mich still hinzusetzen, so zu tun, als wäre ich nicht da und zu warten, bis der Spuk vorüber gehen würde. Aber wie lange hätte ich regungslos bleiben müssen?

    Als sie nach einer Weile noch immer klingelte und klopfte und mich anflehte, ihr die Tür aufzumachen, damit sie mir erklären könne, was ich gar nicht hören möchte, ging ich wieder in Richtung der Tür und rief: "Verschwinde!" Dies konnte sie, auch nach wiederholter Aufforderung, nicht akzeptieren und blieb still vor meiner Tür stehen, hielt mich für Stunden in meiner Wohnung gefangen. Hin und wieder ging ich zur Tür, schaute durch das Guckloch und sah den Wahnsinn in ihren Augen, den sie für Liebe hielt. Noch nie fühlte ich mich so hilflos und bedroht. Gerade erst ist sie gegangen und ich zittere vor Angst.
  6. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    es ist nun schon über eine Woche vergangen, seitdem ich sie angeschrieben habe und noch immer kein Wort von ihr. Doch ich kann es ihr nicht verdenken, nach all meinen verzweifelten Ausbrüchen in alle Richtungen, in denen doch auch ein Wunsch des Vergessens geäußert wurde. Ich schrieb ihr, dass es mir Leid tue, was ich darüber in der geistigen Getrübtheit meinte, erkundigte mich nach ihrer Großmutter und ließ erkennen, wie wichtig mir der Austausch mit ihr nach wie vor sei. Ihr Schweigen war ein heftiges Beben, das alles um mich herum und in mir erschütterte. Obgleich ich ahnte, dass ich ihr Ruhe hätte einräumen müssen, schrieb ich ihr noch einige Male, vergeblich, wie du dir sicher denken kannst. Wie kann ein Mensch die Freiheit eines Anderen ertragen, die ihm doch alles nimmt, was Freiheit erst wertvoll macht?
     
    Noch nie, seit wir uns kennen, habe ich derart lange ohne einen Gedanken von ihr überlebt. Überhaupt kann ich mich an keinen Tag erinnern, an dem wir nicht den mindesten Kontakt hatten und die Möglichkeit eines Tages ohne sie - dies war eine in ihrer Selbstverständlichkeit nie gedachte Gewissheit - hätte mir absurd erscheinen müssen. Das Leben hat eine nie erdachte Seichtheit und die Zeit eine undurchdringliche Verschlossenheit. Mir ist, als habe man mir das Wesentliche genommen.
     
    Es ist die größte Ungerechtigkeit von allen, dass es keinen anderen Umgang unter den Menschen geben kann, als sie an ihren Worten und Taten zu messen, die doch so wenig von dem wahren Gefühl vermitteln, welches sich in unserer Unbeständigkeit nur schwerlich einfangen lässt.
  7. Schmuddelkind
    Ach Babsi,
     
    der Unmittelbarkeit ihres alles erfassenden Wesens ausgeliefert - das könnte ich nicht ertragen, auch wenn ich mich noch so sehr nach ihrer Stimme sehne wie nach den naiven Tagen, als das Schicksal unmerklich seinen Lauf nahm. Aber wir schreiben einander und geben mit größtem Bemühen vor, es wäre nichts geschehen. 

    Heute tauschten wir uns über Heines "Das Fräulein stand am Meere" aus und ich zeigte meine Bewunderung darüber, wie er im Moment der tiefsten Bekümmertheit und des sehnsüchtigen Ausgreifens nach der Unendlichkeit ganz lapidar auf den alltäglichen Lauf der Dinge verweist und darauf, dass die Sonne wieder aufgehen werde. Was ich für mich behielt, schrieb sie als sensible Betrachtung aus: "Aber in dem Augenblick gibt es für das Fräulein keinen Lauf der Dinge. Es gibt nur einen endgültigen Sonnenuntergang." Oh, diese Endgültigkeit überschattet mein ganzes Dasein.

    Zumindest bemühe ich mich also, auch ihr zuliebe, nicht mehr darüber zu sprechen. Und doch kann ich nicht anders, als all mein Leid in Poesie einzufassen und sie kann nicht umhin, meine Gedichte zu lesen - das weiß ich. Sie leidet meine Tränen und ich beweine ihre Melancholie. Wieso kann ich es uns beiden nicht einfacher machen? Reicht es nicht aus, wenn einer leidet? Ich bin mir selbst fremd, aber ich würde sonst ersticken. Nun gut, so erhält sie also einen Einblick in meine Wunden und kann doch die Tiefe meines Leidens zum Glück nicht erahnen.
     

    Trauermaske
     
    Geschützt reich ich dir eine letzte Rose,
    eine Trauermaske vorm Gesicht.
    Du siehst nur meine eitle Schwermutspose.
    Meine langen Tränen siehst du nicht.
     
  8. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    heute träumte ich von meiner Verdandi: Die Luft hatte sich durch die vorangegangenen Gewitternächte abgekühlt und leichter Nieselregen kitzelte auf der Haut, als wir durch das hüfthohe Gras gingen, von dem wir mit den Handflächen Tropfen pflückten. Die Bäume meidend, die hin und wieder ihr nasses Haupt schüttelten, wussten wir in dem grünen Meer bald nicht, was unser Weg war. Doch noch tiefer war ich verloren im andächtigen Anblick ihres zarten, hellen Gesichts, in welchem sich eine dunkle Strähne verfangen hatte. Sie blickte freudig nach vorn und hatte keine Regung, die Strähne aus den Augen zu streifen und spätestens da überkam mich die Bewunderung für die Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der sie alle Seins-Umstände annahm. Jede ihrer weichen Bewegungen, jeder feine Gesichtszug, jedes Wort drückte eine wundervolle Erhabenheit über die Zukunft aus.
     
    Als wir an einem See ankamen, ach, wie klar spiegelte sich der Wald darin, der das Gewässer zur Hälfte umschloss und zugleich auf einer Halbinsel von ihm umschlossen war! Da wurde der Regen mit einem Mal heftig und ich entfernte mich ein paar Schritte vom Ufer, um mich unter eine Eiche zu stellen. Indes zog sie ihre Kleidung aus, legte sie auf einen Felsen und sah mich an aus Augen, die so eindringlich eine Antwort einforderten, wie sie zärtlich fragten. Ich wusste nicht, ob ich mehr über die Handlung an sich verblüfft war oder über die Schönheit, die sie enthüllte. Ach, wie der Regen sanft ihre Brust hinab perlte! "Du willst doch da nicht wirklich hinein!?" rief ich ihr zu. "Wieso nicht? Im Wasser regnet es nicht." Ich zögerte einen Moment und rief: "Da hast du wohl recht" und erst jetzt begann ich mich darüber zu wundern, dass ich noch immer so weit von ihr weg war, um rufen zu müssen. So nah wollte ich ihr sein, ihr zu zuflüstern und folgte ihr in den See. 
     
    Dann wachte ich auf und ihre einladende Nähe wich der unendlichen Ferne. Ich ersehne Vergessen, erstrebe das Nichts und senke meine Lider... in ihren suchenden Blick. Ach, in jeder Erinnerung, in jedem Traum, jedem Bild, das mir aus der Fantasie in die Sinne schimmert, finde ich nur sie und Traum und Wirklichkeit trachten einander nach dem Tode.
     
  9. Schmuddelkind
    Nein Babsi,
     
    ich werde ihr nur noch einmal schreiben, um sie zu bitten, mir nicht mehr zu schreiben! Im Austausch mit ihr verliert sich jeglicher Bezug zu mir selbst. Alles steht im Schatten einer anmaßenden Erinnerung und so ist alles, was ich unter diesem Einfluss von mir gebe, eine dekadente Veräußerung meines Wesens.
     
  10. Schmuddelkind
    Danke Babsi,
     
    für deine Anteilnahme! Bedrängen wollte ich sie sicherlich nicht mit meiner Ehrlichkeit, aber ich gebe zu, dass ich es billigend in Kauf genommen habe, um nicht im Nebel zu stehen. Weiterhin will ich ihr und mir aber von nun an etwas Ruhe gönnen. Wenn es nicht so schwer wäre! Sie rief mich an und ich, ach... ja, ich wollte es klingeln lassen. Über die ersten vier Klingelzeichen war ich auch erhaben, aber das fünfte hat mich überzeugt, doch den Hörer abzunehmen. Es ist... du kannst dir den Mangel in meiner Seele nicht vorstellen, als ich ihr zu verstehen gab, dass ich zumindest für eine Weile nicht mehr mit ihr telefonieren möchte. Ach, "möchte" - pfui! Welch schlecht gewähltes Wort! Überhaupt sind alle Worte von mir falsch.

    Sie spürte den Schmerz in meiner Stimme. Ihre Seufzer tasteten sich vorsichtig im Dunkeln voran und suchten nach Worten des Trostes. Doch da sie ahnte, dass mir in ihrer Stimme mehr Leid als Linderung zuteil wird, beließ sie es bei einer schüchternen Verabschiedung. Doch keiner von uns war bereit aufzulegen und da es sonst nichts zu sagen gab, das sie oder ich auszusprechen gewagt hätte, schwiegen wir eine Weile unseren Mangel in das Telefon hinein, bis sie schließlich fragte, ob ich wieder einen schönen Spaziergang gemacht habe.

    Ich erwiderte, dass ich an der Pferdekoppel vorbei ging und gerade als ich zum Glauben neigte, man bekomme im Leben nichts geschenkt, entdeckte ich ein Schild mit der Aufschrift: "Pferdemist kostenlos abzugeben." Da musste sie ganz erheitert lachen. So glücklich ich war, sie lachen zu hören, so quälend wurde mir bewusst, wie sehr ich ihr Lachen vermissen werde. Auch fragte sie nach meiner Magisterarbeit und ich gestand, dass diese unter dem schönen Wetter leide und wieder durfte ich sie ganz vergnügt erleben und wieder litt ich an den Widersprüchen, die dies aufwarf. Schließlich verabschiedete sie sich erneut, um sich zu besinnen, doch noch etwas tief Empfundenes zu sagen: "Ich bin so froh, dass es dich gibt. Ich bin immer für dich da." Daraufhin legte ich auf, da ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Und noch unter Tränen schrieb ich dieses Gedicht:
     

    Untröstlich
     
    Wie ist mir wohl, berührst du meine Hand,
    ihr wildes Zittern mit Gefühl zu stillen
    und mir dieser Tage beizustehen!
     
    Du hast des Trostes Anlass wohl gekannt.
    Drum Liebste, lass sie los um Himmels Willen!
    Denn ich werd daran zu Grunde gehen.
     
  11. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    da sich das Osterfest allmählich nähert, fragte sie, wie ich Ostern denn verbringen wolle und sogleich überschlugen sich ihre Worte und sie schien nicht die Macht besessen zu haben, ihren Text zu ändern - oder sie will ganz ehrlich sein oder ich lese wieder zu viel hinein: dass dies doch der Tag habe werden sollen, an welchem wir uns gesehen hätten, dass sie zu Ostern ganz allein sein werde, dass wir einander vielleicht ein anderes Mal besuchen sollten, wie bemerkenswert sie es finde, dass ich trotz allem noch immer an ihrem Wohlergehen interessiert sei und wieviel ihr unsere Freundschaft bedeute und dass ich überhaupt ein ganz besonderer Mensch sei, was sie dazu veranlasst habe, wieder über ihre Entscheidung nachzudenken: "Ich hätte dich überhaupt nicht verdient."
     
    Was soll das alles heißen? Ist dies Trost? Ist dies Folter? Ist dies Bedauern? Verzweiflung? Hoffnung? Und doch erkannte ich mich in den Wirren ihrer Worte wieder. Ach, so viel tröstende Vertrautheit in der Verwirrung! Und doch so viel Schmerz in ihrem Trost! Und Nähe! Ja, Nähe in unserem Leid!
     
    Ich übte mich in Zurückhaltung und schrieb lediglich, dass ich zu Ostern ebenfalls allein sein werde und verschwieg ihr meine Gründe und sah, wie ihre Einsamkeit die meinige spiegelt, so wie mein Verlangen ihre Zerrissenheit, ihre Zerrissenheit mein Leid spiegelt. Irgendwo in diesem Spiegelkabinett sah ich mich zu ihr aufbrechen, dass die Welt an mir vorüberrauschte, während ich ihr immer näher kam und alle die Widersprüche der Wirklichkeit, Sehnsucht und Geborgenheit, Unrast und Ruhe, Tag und Nacht und Dunst und Regen, sich in einem Kuss vereinten. Jedoch wusste ich, dass so sinnhaft nur Träume sein können und beließ meine Antwort dabei. Stattdessen schrieb ich ein Gedicht:
     

    Dein Trost 
     
    Dein Trost ist Grund, warum ich leide.
    Drum tröste mich noch öfter, herzlich, wahr!
    Denn wenn wir uns umarmen, beide,
    dann bin ich deinem Busen ach so nah.
     
  12. Schmuddelkind

    Briefe
    Liebe Babsi,
     
    ich möchte dich nur wissen lassen, dass ich mich wohl befinde und hoffe, dass es auch dir gut ergangen ist. Alle Habseligkeiten bin ich losgeworden und kann von Glück sprechen, dass es nicht so viele Dinge gibt, die meinen Tag bestimmen und von mir ablenken. Was ich zu Geld machen konnte, habe ich verkauft und alles andere unbesehen weggeworfen. Nur mein Zelt, eine Matratze, einen Schlafsack, ein paar Klamotten, einen Gaskocher und so viele Lebensmittel, wie ich tragen konnte, nahm ich mit. Und meine drei liebsten Gedichtbände. Soweit ich kann, versuche ich allerdings auch von diesen Dingen frei zu sein: ich sammle Pilze und Breitwegerich und erfahre das Essen immer mehr als etwas sinnhaft mit mir Verbundenes, denn als eine bloße Notwendigkeit.
     
    Aller Orten fand ich eine wohl aus den Augen verlorene Heimat und wollte doch sogleich weiterziehen in dem dämmernden Gespür, dass die Heimat meiner Seele größer ist als nur jener Ort. Im Spessart durchstreifte ich schmerzhafte Erinnerungen und übersah mein ganzes Leben von den Gipfeln. Und als meine Gedanken ganz weit hinter dem Horizont in der reinen Freude des Seins angekommen waren, die meine Kindheit bestimmten, fand ich mich plötzlich im Thüringer Wald wieder und es war wie der erste Herbsttag überhaupt. Alle Erwartungen fielen wie Laub ab und ich durchschritt die Täler wie die Ruhe, die durch alles drang. Als ich durch die kleinen Ortschaften Brandenburgs ging, die mit dem Wald so verwoben sind, dass mir die Grenze zwischen Natur und Kultur vor den Augen verschwamm, kam mir ein Lied über die Lippen, das wohl in den dunklen Fließen geschlummert hatte, da Wehmut, Melancholie und Zuversicht sich in dieser Melodie zu einer gemeinsamen Empfindung auflösten. Da ahnte ich wohl, dass mein Weg mich noch nach Berlin führen würde.
     
    Die Stadt meiner glücklichsten Tage betretend, wähnte ich mich endlich angekommen. Noch weiß ich nicht, was ich hier soll. Doch ich glaube, dass es einen Grund gibt, warum ich hier bin. Das spüre ich sehr klar.
  13. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    verzeih mir, dass ich so selten schreibe! Mir fehlt selbst hierzu meist die Kraft. Ich wage kaum einen Schritt nach draußen, habe schon seit Wochen die Sonne nicht gesehen. Doch mir fehlt sie nicht, ebensowenig wie der August, von dessen Gegenwärtigkeit ich ohne deine hübsch beschmückten Ausführungen nichts gewusst hätte oder die Heimat, die du mir ans Herz legtest. Nein, dieses Herz ist sich selbst genug und es ist der Verschlossenheit vielmehr zugetan als der gefahrvollen Schönheit.
     
    Die Heimat ist eine Erinnerung daran, dass wir von irgendwoher kommen. Daran möchte aber gewiss nur der erinnert werden, der weiß, dass er irgendwo hin will. Darum verstehst du sicher, dass ich dich in nächster Zeit nicht besuchen werde, obgleich mir dein Wort das Klarste und Sinnhafteste ist, das ich zwischen all dem stummen Tumult erkennen kann. Ein Gefühl des Unerwünscht-Seins verbindet sich mit jedem Erleben. Da ist es erträglicher, mich auf Unwesentliches zu beschränken. Wenn diese vier Wände die Grenzen meiner Welt bilden, dann ist die Einsamkeit doch nur der Preis für die Autonomie.
  14. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    zu dem Punkte des Selbsterkennens und der daraus zu schöpfenden Kraft, Vergangenes zu überwinden und neue Liebe zu finden, möchte ich dir etwas sagen: es ist die Möglichkeit, nicht geliebt zu werden, die die Liebe kostbar macht und es ist die Möglichkeit, nicht geliebt zu werden, die mich in diesen flüchtigen Zeiten an der Möglichkeit der Liebe schlechthin zweifeln lässt. Und indem ich dies sage, verschwinde ich. Ich bin nichts ohne den Menschen, der mich versteht, wie ein Buch, das nicht gelesen wird - bedeutungslos und überflüssig, gleich wie ansprechend, wahrhaftig und schön der Inhalt sein möge, den es birgt.
     
    Doch ich muss dich fragen: wie kann man denn irgendeinem Menschen noch glauben, der in der intimstmöglichen leiblichen und in jeder Körperregung ausgedrückten empfundenen Nähe, mehr noch mit den, das größte Glück spiegelnden Augen als mit den sehnsüchtig verlangenden Lippen sagt: "Ich liebe dich"? Ja, vielleicht kann man dem Menschen glauben, der so etwas sagt, vielleicht kann man einigen Menschen so viel Ehrgefühl nicht absprechen, dass man ihnen diejenige aufrichtige Empfindung zugestehen muss, die solchen Wahn heraufbeschwört und was meine Sanny betrifft, so kann ich jedenfalls nichts Gegenteiliges sagen. Doch ist es dann nicht der geteilte Glaube an etwas, das man für sich geschaffen hat, um gemeinsam daran zu glauben? Kannst du mir zwei Menschen nennen, die unter der Liebe exakt das Gleiche verstehen? Und jede kleinste Unstimmigkeit in den Auffassungen, so unbedeutend sie zu Beginn sein mag, verdeutlicht mit der Zeit den Irrglauben vor dem Hintergrunde unveränderlicher, nicht weg zu glaubender Realitäten, so dass der geringste Zweifel an der Liebe des Anderen die eigene Liebe derart plötzlich, radikal und nachhaltig auslöscht, dass nur der größtmögliche Abstand zu dem einstmals intimsten Schatz den Frieden mit sich selbst wieder herstellen kann.
     
    Der größtmögliche Abstand - für mich kann es ihn nicht geben; denn ich liebe sie noch immer, ungeachtet all meiner Ausführungen. Nein, ich kann mich nicht überzeugen! Ich bin mit mir in Krieg und kann nicht eher Frieden finden, bis ausgefochten ist.
  15. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    wie schwer sich nun alles über mich legt! Über "mich" - ach, was bedeutet das noch? Was soll das noch bedeuten, da mir mehr genommen wurde als gegeben? Ist es nicht ein merkwürdiger Umstand, dass ich wohl nicht in solch ein Elend sänke, hätte ich sie nie gekannt, obgleich ich doch, ob so oder so dasselbe bei mir hätte. Das weiß ich mit dem Verstande, doch kann es mit sonst nichts begreifen, da ich nicht derselbe bin, da ich nicht einmal das bin, was ich mit viel Fantasie in wachen Momenten von mir hätte erdenken können, um mich einen wertlosen Menschen zu schimpfen.
     
    Wie kann ein Mensch so wenig von sich selbst sein? Und wie kann er davon noch so klar wissen? Einem von beiden muss ich wohl Remedur verschaffen. Sag bitte noch niemandem davon! Mir wäre es unangenehm. Ich kann sie doch alle schon spotten hören und ich weiß, dass sie es nicht böse meinen und in ihrem Unbegriff dessen, was wichtig ist, überzeugt sind, mir Gutes zu tun, aber ich könnte es nicht ertragen.
     
  16. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    man könnte glauben, es sei gut, dass die Zeit vergeht. Du weißt, Babsi, was der Volksmund über die Zeit und die Wunden zu sagen weiß. Aber es ist Unsinn, der nur deshalb aller Orten zu hören ist, weil diejenigen, die unter unheilbaren Wunden leiden vor Schmerz und Resignation stumm geworden sind; in ähnlicher Weise verbreitet sich übrigens allerlei Unsinn in der Welt. Oft ist die Zeit in solchen Fällen eine zweite Wunde, da sie dem Gefühl der Unerträglichkeit das kalte Diktat, diese selbst zu ertragen zur Seite stellt. Dass ich das kostbarste Privileg verloren habe, kann ich jedenfalls, selbst wenn ich mich eines wunderlichen Tages nicht mehr daran erinnern sollte, in meiner unerfüllten Seele spüren.
     
    Manchmal versuche ich mich darüber hinweg zu trösten, indem ich mir in all den schönen Bildern einer dahin geschiedenen Seligkeit vergegenwärtige, dass ein erhabener Geist von mir Besitz ergriffen und eine einzigartige, nicht wiederholbare Entität sich nur mir allein offenbart hatte und dass es mich mit Dankbarkeit und Sinn erfüllen sollte. Doch wie ist es mit den Geistern? Wenn ich näher an mich heranfühle, dann weiß ich, dass selbst die wahrhaftigste, glücklichste Erscheinung, dass, nur um den Abstrakta zu entkommen, etwa das Genie eines Shakespeares, das seiner Zeit wie ein befreiender Atem die ganze Menschheit erfüllte, zu einer anderen Zeit wertlos sein muss.
  17. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ich habe ihr einige der Gedichte vorgelesen, die ich in deinem Büchlein gefunden habe. Und als ich aus de la Motte Fouqués "Waldessprache" las, wo die Klänge der Natur scheu verstummen, sobald Worte sie wiedergeben wollen, da enteilten ihr zu manchen Versen diejenigen Seufzer, die ich gerade noch zügeln konnte. Daraufhin trug sie mir Ludwig Uhlands "Einkehr" vor, worin die tiefste Dankbarkeit der Natur gegenüber ausgedrückt wird. Ihre Großmutter hat es ihr immer aufgesagt, um sie in den Schlaf zu wiegen. Überhaupt muss ihre Großmutter ein ganz besonderer Mensch sein. Sie war immer für Sanny da, auch als der Rest der Familie auseinanderbrach und Sanny sich in einem Strudel wiederfand - da war die Großmutter ihr die Ruhe hinter allen Wirren.
  18. Schmuddelkind
    Ach Babsi,
     
    schon hält der Ruf der Unendlichkeit jede kleinste meiner Regungen in ihrem Bann und nur in unserem gemeinsamen Ausgreifen nach der Ferne finde ich Trost. Als wir inmitten unserer Träumereien versunken waren, wie es wohl sei, wenn wir einander begegnen und gerade als ich ihr in Worte zu fassen versuchte, wie oft mein Geist weit nach ihr ausschweife, entfuhr ihr plötzlich: "Oh, der Vollmond! Siehst du ihn auch?" 

    Also lehnte ich mich weit aus dem Dachfenster, die Füße in der Dachschräge eingehakt, um den Mond hinter dem Dach hervorschimmern zu sehen. Oh, dass wir denselben Mond sehen und sich vor seinem friedvollen Angesicht unsere beiden Welten zu einem einzigen Bild fügen! Keine Minute ließ mich dieser Mond heute Nacht schlafen.
     
  19. Schmuddelkind

    Briefe
    Danke Babsi,
     
    tausend Dank! Doch ich kann ein Angebot nicht annehmen, das du bereuen wirst. Ich weiß, ein Mensch braucht einen Platz, wo er sein kann, aber ich kann meine Gesellschaft kaum jemandem zumuten, schon gar nicht dir, die du mir so viel wert bist.
  20. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    heute war sie nicht erreichbar. Nur dass sie morgen wieder Zeit für mich habe und dass ich nicht traurig sein solle, schrieb sie mir. Dieser Tag fühlte sich wie vergeudet an, der Bedeutungslosigkeit hingegeben. Im Waldesrauschen hörte ich ihren Atem meinen Gedanken entgegen zittern und in meinem Seufzen verstummen. Und ich kehrte ein in die Zärtlichkeit ihrer Neugier und ihre arglose Weisheit und ihre tief schöpfende Fröhlichkeit in so vielen Worten und bloß Laut gebliebenen Gedanken, dass ich die unzureichende Gegenwart nicht ertragen konnte. Gerne wüsste ich, wie es ihr geht. Doch leider... leider weiß ich nichts.

    Wie kann man einen Menschen derart vermissen, den man nie zuvor gesehen hat? So manchen Tag schon habe ich mich nach Begebenheiten zurückgesehnt, die lange vor meiner Zeit geschehen waren - wie jemand, der sich wehmütig an seine Jugend erinnert - an Zeiten, da man sich eines Wandels teilhaftig fühlen konnte. Doch nie war diese Sehnsucht so lebhaft wie jetzt und nie war sie so begründet wie in ihr.
     
  21. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    wenn du wüsstest, wie unbedeutend mir der Gedanke an Bedeutung und Sinn ist, du spartest dir hoffentlich die Mühe. Und mag das Leben auch schön sein, in dem Sinne, wie du es geschildert hast, dass es kein Leid gäbe, das als Grund hinreiche, auf so viel Schönheit zu verzichten, an der ich - da stimme ich dir seufzend zu - wie ein Künstler als Schöpfer und Bewunderer teilnahm, so kann ich dir nur erwidern: Welche Bedeutung hat die Aussicht auf Schönheit und Wonne im Augenblick des bewussten Scheiterns?
     
    Gestern Abend betrachtete ich eine knappe Stunde lang die Uhr in jeweiliger gelangweilter und nahezu selbstbestätigender Erwartung, dass der Sekundenzeiger sich rege, bis ich fast glaubte, ich brächte die Zeit voran. Selbst in dieser hochmütigen Selbsttäuschung konnte ich nur einen profanen, nichtssagenden Prozess darin erkennen, der doch allen Bedeutungen innewohnt. Und wenn ich mich schüttelte, um wieder zu Sinnen zu kommen und mir klar wurde, dass ich wie wir alle nur ein Betrachter dieses Prozesses bin, der doch allen unseren Betrachtungen und Handlungen zugrunde liegt... mir wurde in nie gekannter Klarheit deutlich, wie unwichtig doch alles ist. Die Dinge sind nur wichtig, weil wir ihnen einen Sinn geben und wir sind nur wichtig, weil wir die Dinge betrachten können. Ist es nicht ein idiotischer Zirkelschluss, der uns so lange am Leben hält und uns vielleicht glauben lässt, es sei mehr als das Warten auf den Tod?
     
  22. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    in mir reift der Wunsch, sie wiederzusehen. Es ist unmöglich und es ist töricht. Wenn ich vor ihr stünde, in der unendlichen Tiefe ihrer blauen Augen versänke und ganz in dem Raum einginge, der von ihrer warmen Stimme durchdrungen ist, wie könnte ich da auch nur einen Gedanken an die Seelenlosigkeit dieses Erlebnisses aushalten? Trotzdem drängt es mich danach wie ehedem.
     
  23. Schmuddelkind
    Oh Babsi,
     
    wie reich bin ich! Eben hat sie mit "deine Sanny" geschlossen. Meine Sanny - es gibt, ich bin mir sicher, jenseits meiner Sinne keine Entsprechung für die wohlige Verzückung und das erregte Zittern meiner Seele angesichts dieser wundervollen Worte.
     
  24. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    du verzeihst mir gewiss, dass ich schmunzeln musste angesichts deiner Ratschläge, wie ich sie erobern solle. Doch ich will sie nicht erobern, will nicht überzeugen, nicht taktieren. Keine Pläne! Wenn sich ihre natürliche Zuneigung zu mir im natürlichen Ausdruck meines Seins spiegelt, dann, nur dann kann ich erlöst werden. Mäßigung - ist das nicht eine Lüge vor dem eigenen Herzen? Ein Betrug, den der Verstand wider die eigene Seele führt?
     
    Ich bin in all dem Schönen so sehr versunken, dass mir das Wahre beinahe unwichtig wird. Wie sie mir gestern ganz und gar unbedeutende Buchstabenfolgen schrieb, so dass ich es mit ähnlichem Unsinn erwiderte und sich daraus ein Dialog entwickelte, den niemand nachvollziehen könnte, jedoch getragen von einem gemeinsamen Geist, als ob wir die einzigen beiden Menschen auf der Welt wären, die diese Sprache verstünden, da wusste ich nicht, ob ich sie wegen ihres Eigensinns oder ihren Eigensinn ihretwillen so gern habe. Doch mich beschäftigte das nicht weiter, weil ich ganz in dem überwältigenden Gefühl verloren war, Teil eines wundervollen Zaubers zu sein, der alle Züge meines Daseins, von der Anschauung der Natur bis hinunter zu den kleinsten Regungen meiner Mimik vor der Heiterkeit ihrer Worte belebt.
     
  25. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    noch blüht nichts, doch wie der Frühling bereits die Begehrlichkeiten der Natur umreißt, so ist auch mein Schicksal ganz in ihren Befindlichkeiten eingeschrieben. Ich bin der glücklichste Mensch, da ich einen Grund habe zu warten und ich bin der leidvollste Kummer selbst, da ich warte. Gerne wäre ich so anmaßend, ihre Ankunft eher einzufordern - ohne Recht, aber mit Liebe.

    Nur der Wald versteht mich. Überall raschelt es im Strauchwerk und ich bleibe stehen und sehe mich um, doch finde nur wieder mich, wie ich suche. Dann allerdings höre ich, wie der Wind sanft durch die Wipfel streift. Also schließe ich meine Augen und spüre den Frühling mir durch's Haar fahren und ich bin ein Baum, gleichsam der nächste Baum, der den Wind in sich aufnimmt, bald der ganze Wald, der all die unbändigen Regungen in ein geruhsames Ganzes fügt.
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