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Beschreibung eines Abends


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„Worauf läuft das hinaus?“, fragte Kadir. Ja, er hatte es ausgesprochen, diesen vergangenheits-, höchstens gegenwartsorientierten Kommentar. „Wir werden jetzt Abendessen. Decke den Tisch!“ Warum aßen sie nicht aus der Packung? Es würde sowieso nach nichts schmecken. Den ganzen Nachtmittag hatte er am Sofa gesessen, und er hätte etwas kochen können, vielleicht wäre es ihm gelungen und er würde glauben können, er hätte ein Talent. Aber die erste Überwindungskraft, die grundliegendste Hemmungsschwelle wurde größer dadurch, dass er diese ohne jegliche Übung erreichen musste. Er ging in die Küche, öffnete einen Kasten, schloss ihn wieder und wurde im Geschirrspüler fündig.

Durch das Fenster konnte er den Garten der Nachbarn sehen. Kurze, erstickt wirkende Grashalme, drei Schaukeln, die langsam im Wind wippten. Was war in den letzten Tagen passiert? War sie nicht noch da, seine Überzeugung, dass alles sinnlos sei? Dass er zum Leben verdammt war, dass es keine Hoffnung, nichts zu verlieren gab. Dass ihm blieb, sich darüber zu amüsieren, wie die anderen, seine Schwester, Christa, die Person, die im Bus neben ihm saß, die Leute aus den Nachrichten, die glaubten, sie könnten ihre Macht missbrauchen, etwas bewirken, das Bedeutung hätte, wie diese vielen Frauen und Männer sich den Kopf über das zerbrachen, was er vor Jahren eliminiert hatte, wie sie sich Tag für Tag verwehen ließen. Manchmal entschloss der Zufall, ihm etwas zu vergönnen, und dem gab er sich hin. Gerade war das scheinbar anders, die Realität wollte es nicht mehr ertragen, wie er versuchte, sich mit ihr gleichzusetzen, und strafte ihn mit einem Sturm, in dem auch er nicht mehr verharren konnte.

Wann hatte er begonnen, diese Stabilität zu zerstören? Hatte er es schon immer getan, und war er Moment für Moment einer neuen Illusion ausgesetzt? Wahrheit! Als ob er eine solche verstehen könnte! „So groß ist unsere Küche nicht, dass du sie so lange durchsuchen könntest. Wo bleibst du? Unsere Zeit ist kostbar. Oder zumindest meine.“ Christa glaubte an ein Ziel, wenn dieses auch schwer zu erkennen war. Die Abscheu gegenüber den Tätigkeiten des Alltags teilte sie mit Kadir. Sie musste essen, um leben zu können, und könnte sie nicht leben, könnte sie nicht darüber nachdenken, ob sie leben wollte. Es war spät, und ihre abendliche Freizeit, welche sie als Teil ihrer Grundbedürfnisse betrachten musste, da sie nie gewagt hatte, zu testen, was das Gegenteil bewirken würde, stand auf dem Spiel der Anrichtefähigkeiten ihres Freundes.

Die hölzerne Tür am anderen Ende des Zimmers, wie sie schon von dutzenden Menschen geöffnet worden sein musste, gewährte Florian Einlass in den Raum, wo er vom brennenden Licht der Sonne, vor dem er seinen Schreibtisch mit schweren schwarzen Vorgängen zu schützen pflegte, bestrahlt wurde, und Kadir und Christa waren beide eifersüchtig auf diesen erholt aussehenden Jungen, der so selbstständig, so funktionierend wirkte, den sie immer wieder bewerteten wie einen Fremden, obwohl sie ihn seit Jahren kannten. Er war der Gegensatz zum Problemkind Christa gewesen. Mittlerweile könnte es ihre Aufgabe sein, ihn zu erziehen, denn sie hatte mit dem Studieren begonnen, während sich ihr Bruder noch in der Schule plagte, aber diese Aufgabe wollte sie nicht annehmen.

Florian freute sich. Es würde Spaghetti geben, Mikrowellenspaghetti, und er liebte ihren ranzigen Geschmack. Seine Gedanken wirkten auf Außenstehende und manchmal auf ihn selbst ironisch, und doch meinte er es immer ernst, zumindest in dem Moment, in dem sich die Worte, die nie ausgesprochen werden sollten, in seinem Kopf formten. Er blickte in das Gesicht von Kadir, und dieser Blick, das was er als überzeugte Überzeugungslosigkeit darstellte, es konnte nichts als Ungenügsamkeit ausdrücken. Kadir konnte nicht mit dem leben, was ihm gegeben war, würde lieber auf den Kosten anderer Luxus genießen. Man konnte nur ungerecht sein, jagte man nach diesen weltlichen Werten. Und trotzdem freute sich Florian auf das Abendessen. Er jagte nichts, tötete nicht, freute sich nur. Das konnte nicht falsch sein.

Er setzte sich, wie es mittlerweile auch Kadir getan hatte. Gegenüber der beiden Erwachsenen. Der Tisch war halb vollgeräumt, so dass er mithilfe seines Unterarms stapelweise Papier, Lebensmittel und leere Verpackungen beiseite schieben musste. Vielleicht war es nicht gut, dass gerade diese vier Personen in einem Haus lebten. Alle waren sie ungewöhnlich stark fokussiert auf etwas Größeres, vielleicht philosophisch veranlagt, und wie die Wohnung aussah, in der sie ihre Pläne ausarbeiteten oder dahinvegetierten, kümmerte niemanden. So hatten sie einen Grund, bei dem sich alle einig sein konnten, keine anderen Leute einzuladen. Sie mochten es alle, alleine zu sein. Der Platz neben ihm blieb leer, denn Kiwa blieb im hinteren Zimmer, wahrscheinlich arbeitete sie an ihrer VWA. Sie hatte ihren eigenen Kühlschrank, den sie wöchentlich mit Vorräten, bestehend aus Müslis und kaltem Kaffee, ausstattete.

Christa teilte die klumpigen Nudeln in drei mehr oder weniger gleich große Portionen auf. Weil ihr der Eindruck, den sie auf andere machte, wichtig genug war, dass er nicht egoistisch sein sollte, stellte sie sie in einer Reihe auf und ließ offen, wer sich welche Portion aneignen würde. Florian, der am besten genießen konnte, griff sofort nach dem Teller mit dem wenigsten Essen. Christa blieb die größte Portion, und wo sie einmal vor ihr stand, musste sie sie auch essen. Warum lebte sie mit den seltsamsten Menschen der Welt in einer WG? Sie liebte Kadir. Er faszinierte sie, und er war unglaublich praktisch. Wie glücklich sie sich nach ihrem ersten Treffen geschätzt hatte! Es gab niemanden, der mehr Glück als sie hatte. Und trotzdem ließ das Ziel auf sich warten. Dass Kadir eine Schwester hatte, die noch schweigsamer als er war, die auf Fremde einen noch psychopathischeren Eindruck machte, musste sie akzeptieren, weil sie selbst Florian hatte. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie dieses Haus geerbt, und es war das einzig Vernünftige gewesen, die vier Wohnungssuchenden in diesem alten, noch immer heruntergekommenen Haus zusammenzufassen.

Die Stille war unangenehm, und sie hielt es für notwendig, so zu tun, als würde sie sich darum kümmern, ein Gespräch zu beginnen. Dass Kadir diese Ruhe nicht störte, wusste sie gut, aber bei Florian konnte sie sich nicht sicher sein. Hauptsächlich gibt es um sie selbst. „Wie war es in der Schule?“ Wie sie solche uninteressanten Fragen hasste! Florian war einer von Millionen Schülern, irgendjemand, wen kümmerte diese Bruderschaft, einer von Milliarden Menschen, die sich täglich langweilten und dann auch noch auf das, was zum Glück vergangen war, zurückblicken mussten. Sie zwang ihn dazu. „Wir haben nichts Sinnvolles gelernt.“ „Wie denn das?“ „Warum sollten sie Interesse daran haben, uns etwas beizubringen, das von Bedeutung ist? Wir sind ihnen nicht wichtig! Wir sollen uns nur daran gewöhnen, nicht in die Tiefe zu gehen.“ Es gefiel ihr nicht, wenn er diese Dinge sagte. „Wer sind sie? Du schaffst dir deine eigenen Feinde. Niemand will dir etwas Böses tun. Schau, wenn es dir in der Schule nicht gefällt, musst du dort nicht hingehen. Du kannst sie auch abbrechen. Ich meine es nicht böse. Ich meine es ernst. Du kannst frei entscheiden.“ „Die Schule abbrechen? Und dann werden wie Kadir? Ich glaube, ich brauche diese Abwechslung. Ich kann es genießen. Aber trotzdem läuft irgendetwas grundlegend falsch.“

Florian sagte niemandem außer Kiwa, womit der die vielen Stunden, die er täglich in ihrem gemeinsamen Zimmer verbrachte, füllte. Das Internet war kein guter Einfluss, dachte sich Christa. Er glaubte zu viel von dem, was er las. Es dauerte nicht lange, bis alle aufgegessen hatten, und Florian die Teller einsammelte und in die Küche trug.

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