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Man sagt, die Alten hätten versucht der Stadt zu entkommen und dass sie wieder zurück wollten.  Doch es sei ihnen nicht gelungen. Die Stadt habe sie vergessen gemacht und so seien sie geblieben wie Wunden auf einem Körper, verblichen zu Narbengewebe, eigentlich unnötig, eigentlich falsch.

 

„Du und ich sind aufgewacht aus einem Traum“, sagtest du immer wieder zu mir, wenn wir uns an der Lichtung bei den Tannen getroffen haben. Wir haben viel geflüstert in dieser Zeit, denn wir wußten, dass die Häuser Ohren haben, die Türen Augen, dass die ganze Stadt, wenn die Sonne untergeht, wie ein gewaltiger Nachtmann die Straßen durchschreitet, unsichtbar für die Städter aber nicht für die Katzen und die Ratten, die ihn fürchten.

 

Wenn die Sonne untergeht erwacht die Stadt zu unheiligem Leben und ihre bösen Augen durchfunkeln das Zwielicht, das nur die Katzen und die Ratten sehen können.  Und die Sterbenden. Und wenn die Menschen schlafen, dann kommt die Stadt und macht sie alle vergessen und der Nachtmann geht um. Doch wir haben es auch gesehen, du und ich. Wir sind erwacht und wir haben es gesehen, haben die Augen auf unserem Rücken herumtasten gespürt, die langen, gräßlichen Finger der Bürgersteige, die dunklen Zungen der Brücken zischen gehört und den Sog des Marktplatzes  gespürt, der gefährlich ist und wie ein Schlund kreist.

 

Du hast es zuerst gemerkt. Du hast dich zuerst gefragt, warum die Alten die Stadt nicht verlassen haben.

 

„Weil sie es nicht konnten“ hast du mir ins Ohr geflüstert und die Härchen an meinen Armen und an meinem Nacken haben sich aufgestellt, denn der Klang in deinem Geflüster war so voller Angst, voller Grauen, dass er mich ganz gepackt und auch mir Todesangst gemacht hat.

 

„Wir werden beobachtet“ hast du geflüstert: „Lass dir nichts anmerken. Geh ruhig weiter, als schreite dort hinter uns nicht der der Nachtmann mit seiner schwarzen Laterne und dem Kübel voll schwarzer Milch, sondern nur der Schatten unserer eigenen Gestalten:  „Hörst du den Kübel quietschen?“ Hast du mich gefragt: „Das ist der Kübel des Nachtmanns und er ist voller schwarzer Milch. Er wird uns zwingen davon zu trinken und unsere Gesichter werden erlöschen. Aber ich will nicht erlöschen.“

 

Im Schlaf kichern die bösen Gaslichter der Stadtlaternen und geistern wie Pilzsporen durch die Straßen,  in die Fenster und in die Betten und machen die Alten vergessen wer sie sind, wer sie waren und woher sie kamen und der Schläfer nistet in ihren Gedanken.

 

Doch die Bäume haben uns beschützt! Sie haben ihre Kronen gestreckt uns unter ihren Kronen versteckt  und mit ihren Blättern die  bösen Lichter verschluckt!

 

Nacht für Nacht rascheln sie geheimnisvoll, wenn wir unter ihren Waldnachtschilden fliehen zu der Lichtung bei den Tannen, wo die Stadt uns nicht mehr sehen kann, wo der Nachtmann nicht umgeht. Dort sitzen wir und erwachen in eine Welt, die schrecklich ist, die uns Angst macht, weil sie uns benutzt. Sinnlos, grundlos.  Wir aber wollen frei sein, entlang den Adern der Bäume uns in das Grün tasten, das lebendige Grün, das Grün der Hoffnung und des Lebens.

 

„Die Stadt lebt von den Städtern“ flüsterst du: „deswegen lässt sie uns nicht gehen! Wir sind ihre Nahrung und ihre Zukunft. Wir gebären für sie ihre gräßlichen Kinder: grausame Saugstellen, fürchterliche Grenzsteine, Mülltonnen mit Mäulern aus Qualm! Wenn wir sie nicht mehr nähren, wird sie verhungern, denn sie ist nicht von dieser Welt. Sie ist nicht um ihrer selbst Willen, nicht um unser Willen. Sie saugt uns aus!“

 

An den Eisenbahnbrücken stehen die Pfeiler der Stadt in der Nacht und lassen in ihren blutroten Spulen, an ihren Kabeln, Ströme entstehen mit denen sie die Menschen lähmen und ihr Gedächtnis überspannen. Die Menschen vergessen wer sie sein wollen, wer sie sind, wer sie waren.

 

Straßenschilder: Jedes Schild trägt ein geheimes Symbol der Unterwerfung, der Hybris und die blanken Augen der Alten sind auf die Schilder gerichtet und die Schilder zwingen sie durch die Straßen wie Strom durch die Spulen. Es knistert und qualmt und schmort in den Köpfen und der Gestank verbrannter Motten, die aus den Laternen fallen, entstellt, schwefelnd, braun und knisternd frisst sich aus den Eintöpfen.

 

Wenn die Sonne untergeht, erwacht die Stadt und sie heftet ihre Augen in den Rücken und den Nacken und saugt sich an dich wie ein Blutwurm. Ein kalter, unirdischer Schleim. Ein nasses Sturmknäuel  in einer windstillen Nacht. Das Schneiden von Eis in die Haut, das Saugen des Egels im Fleisch. Du erinnerst dich nicht, dich je verletzt zu haben aber die Schnitte, die Wunden in deinen Gedanken, in deinen Blicken sind da! Niemand kann sie sehen, denn sie sind nicht sichtbar: Da sind keine Wunden an deinem Kopf, keine Wunden an deinen Augen, aber in Deinen Blicken, in Deinem Schauen, in Deinem ganzen Denken!

 

„Wir sind erwacht“ hast du mir ins Ohr geflüstert: „Die Stadt will uns vergessen machen! Der Nachtmann wird kommen und uns holen. Doch ich will fliehen mit Dir Geliebter. Fliehst du mit mir ?“

So hast du gesprochen aber du hast nur geflüstert, an der Lichtung bei den Tannen, denn du hattest Angst, dass uns der Nachtmann findet und uns säugt an der schwarzen Milch, so wie er die Alten gesäugt hat, vergessen lassen hat.

 

„Wenn die Stadt merkt, dass wir fliehen wollen, wird sie uns löschen Geliebter, unsere Gesichter löschen, unsere Gestalten und Erinnerungen. Aber ich will nicht vergessen! Ich will leben: Identität sein, werden, doch der Teer in meinem Mund dörrt mich aus und vergiftet mich. Er wird auch in deinen Mund brechen, sobald du ihn bemerkst. Einmal wirst auch du ihn bemerken Geliebter, aber dann ist es zu spät, dann bin ich schon Teer und die Alten fahren über mich mit ihren Gedanken aus Stein, ohne Erinnerung an mich, ohne Mitleid mit meiner schwarzen Kruste“

 

Ich habe den Teer in meine Hände geweint, die ohnmächtigen, die schon so lange in Schlamm graben. Jetzt kommen sie mir vor, wie kleine Kinder mit blanken, leeren Augen, die mich nicht mehr anflehen, nur anstarren, nicht einmal vorwurfsvoll, nur leer und Teer steigt auf in ihren Augen.

 

Schon hat sich an meiner Seite eine Blase gebildet, ein pralles Geschwür aus Dunkelheit und Schwärze. Es ist der Teer, der in mich steigt. Es sind die grausamen, frisch geteerten schnurgeraden Straßen der Stadtautobahn. Diese Schwellung, diese Schwärze aufbrechen, ausleeren in einen letzten Alptraum von surrenden Fenstern, stöhnenden Schächten und knurrenden Automaten erbrechen und sie die schwarze Milch des Vergessens saufen lassen bis sich selber nicht mehr erkennt, das sollten wir tun und mit dem ersten Licht des Tages entkommen.

 

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