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Schmuddelkind

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Blogeinträge erstellt von Schmuddelkind

  1. Schmuddelkind
    Oh Babsi,
     
    wenn die Ruhe der Nacht in meine Seele einkehrt, wenn es so still ist, dass ich meinen Herzschlag hören kann wie eine ureigene Fühlung eines zu ahnenden Weltgeistes, müsste ich doch augenblicklich aufhören zu verlangen. Doch ihre Stimme erfüllt bald die Stille und mein ganzes Leben ist ihr zugedacht. Ich kann dies nicht einfach verklingen lassen. Ich muss sie sehen!
  2. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    wie unzureichend bin ich mir selbst, da mir fehlt, was mir am meisten wert ist und ich schäme mich ob meiner Eitelkeit, dennoch nach Ausdruck zu suchen. Als wir gestern telefoniert haben, war Sanny - oh wieso zwinge ich mich selbst zu der Erinnerung - so traurig, die unerfüllte Sehnsucht nach Nähe wiederzugeben. Ihre Stimme, beinahe stumm, trug Züge einer verzweifelten Sinnsuche in einem tragischen Geschehen, dem wir unsere Teilnahme nicht versagen können. Und ich... ich konnte meine Tränen nicht länger zurückhalten. Zu treffend drückte sie die Essenz meiner inneren Unruhe aus, als sie seufzte: "Komm zurück!", da ich doch, kaum zu Hause angekommen, vom Willen ganz durchdrungen war, wieder abzureisen.
     
    Der Tag erscheint mir wie eine heitere Melodie, in der meine Seele voller Vorfreude auf den Schlussakkord aufgeht, der jedoch ausbleibt, so dass mein Bewusstsein zu einem leidvollen Warten verkommt, wenn ich in den Momenten an sie denke, in denen ich erkenne, dass Denken nicht genug ist. Wie soll ich nun mehr sein, als eine ungenaue Frage nach mir selbst, auf deren Antwort ich noch so lange warten muss?
     
  3. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ich habe nun schon so viele Male angesetzt, dir alles genau und wohlgeordnet zu beschreiben, aber die letzten Tage und Nächte sind zu einem wundervollen Gesamteindruck verschwommen, der keine Zuordnung mehr gestattet. Ich kann dir bestenfalls eine Ahnung dieses Eindrucks geben, indem ich dir Szenen schildere, die mich seither gefangen halten. Eines weiß ich jedenfalls noch sehr genau - dass ich mit meiner Sanny die glücklichsten fünf Tage meines Lebens verbracht habe und ich kann mit guten Gründen daran zweifeln, ob in der Welt der Menschen überhaupt größeres Glück zu erlangen ist.
     
    Alles war voller Freiheit, Schönheit und Leichtigkeit. Wie ich mich in ihrer Wohnung so heimisch gefühlt habe, wo die beiden Katzen ungezähmt um uns herumtollten und das helle Grün ihres Zimmers und die liebevoll gepflegten Pflanzen auf dem hübschen Holztischchen in der Raummitte eine heitere Natürlichkeit ausstrahlten, als verlöre sich irgendwo bei dem großen Fenster die Grenze zu dem dicht bewachsenen Wald davor oder als greife der Wald in das Zimmer hinein! Da umfing mich so eine tief empfundene Ruhe, die im Kontrast zu den Spielereien der Katzen - wie sie einander fingen und um alle Möbel herum rannten und die Kleinere auf den Sessel neben mir sprang, um eine Streicheleinheit von mir zu erzwingen - umso friedlicher erlebt wurde.
     
    Babsi, sie ist das hinreißendste Geschöpf, das man sich vorstellen kann! Das sehe ich jetzt noch viel klarer, obschon ich es doch vorher wusste. Als ich sie zum ersten Mal sah, in ihrem weißen, sommerlichen Kleidchen, ihrem langen, ungezähmten dunklen Haar, ihrem lebhaften Lächeln, meinen Namen als Ausdruck von Seligkeit rufend, ach, mir war so wohl! Zur Begrüßung haben wir uns lange und herzlich umarmt wie zwei Liebende, die einander nach Jahren zum ersten Mal wieder sehen. So oft musste ich mich selbst daran erinnern, dass wir uns vorher noch nie getroffen hatten, was mir angesichts dieser angenehmen Vertrautheit schwer fiel. Wir lachten viel und - oh Babsi, wenn sie lacht... da hatte ich den allergrößten Anreiz, meine Späße zu machen, für die sie einen Sinn hat.
     
    Als wir bei herrlichstem Maiwetter einen Spaziergang machten, da hat sie auf einmal mit freudigem Blick den Arm Richtung Wald ausgestreckt und voller Entschlossenheit ausgerufen: "Querfeldein!", als fänden die unzähligen Reize der reichen Natur umher durch sie ihren Ausdruck. Ich habe noch gelacht, da gingen wir bereits durch das Gebüsch. Bald hatten wir keine Ahnung mehr, wo wir waren, doch als ich inmitten des dichten Strauchwerks ihre Hand hielt, da kümmerte uns das nicht mehr, wussten wir uns doch in gediegener Sicherheit. Ich war erfüllt von einer unbestimmten Dankbarkeit, so dass die Anregung, sie zu küssen mit zutunlicher Macht über mich kam, ohne einen Beweggrund oder eine Absicht dazu nennen zu können. Oh, dass der Mensch immer nach Absichten fragt! Sind Absichten nicht nachträgliche Rechtfertigungen vor den Erwartungen herrenloser fremder Mächte, vor denen wir unsere Gefühle zu verbergen suchen? Dieser Kuss war eine gegenseitige Offenbarung der menschlichen Ursprünglichkeit, in welcher sich meine Leibhaftigkeit aufzulösen schien! Ich habe keine Erinnerung daran, aber ich weiß, dass wir irgendwann wohl doch noch nach Hause gefunden haben müssen.
     
    Es war mir alles in allem so, als ob wir keine ähnlichen Empfindungen hatten. Nein! Wir nahmen teil an derselben Unmittelbarkeit einer wesenlosen Naturerscheinung, so dass alles, was wir taten ganz und gar den Gedanken und Empfindungen des Anderen preisgegeben war. Davon könnte ich dir hunderte Beispiele geben, wovon mir folgende Begebenheit am eindringlichsten in Erinnerung geblieben ist: An einem wolkenverhangenen Nachmittag zog es uns zu den Gärten der Welt am Rande der Stadt, wo die exotischen Gartenkünste aus aller Welt zu bestaunen waren. Beide hatten wir ein genaues Auge für dieselben Wesenszüge der fremden, bunten Blüten. Doch als wir auf unserem Weg einen Spielplatz erblickten, da konnte keiner von uns mehr seine Vorfreude verbergen - ich schreibe bewusst Vorfreude, da es in der Klarheit des Moments keinen Zweifel am weiteren Hergang gab - wir stießen zugleich ein kindlich anmutendes "Karussell!" aus und eilten dorthin, um uns dem geschwinden und unschuldigen Spaß hinzugeben. In ihren Augen konnte ich sehen, wie rein ihre Freude über dieses simple Geschehen war und wie bin ich begeistert, dass sich ein solch feiner Verstand eine derartige Offenheit für das reine Erleben erhalten hat.
     
    Eines Abends, wir lagen nebeneinander auf ihrem kreisrunden Bett, ergab es sich, dass wir Gedichte rezitierten, Heine, Eichendorff und viele Andere, die uns so faszinierten. Als ich Eichendorffs "Abendlich schon rauscht der Wald" zum Besten gab und kam an die wunderschönen letzten Verse "Hier in Waldes stiller Klause, Herz, geh endlich auch zur Ruh", da entfuhr ihr ein neckisches, leicht schelmisches "Zur Ruh?! Wieso denn zur Ruh? Ich will raufen!". Ehe ich mir einen Reim darauf machen konnte, rang sie mich wild zu Boden und lachte laut und herzlich dazu. Darauf hielt sie mich mit Armen und Beinen gefangen, während ich mich mit raschen Bewegungen herauszuwinden versuchte; so ergab sich ein ständiges Kämpfen um eine nicht festgelegte Stellung nach unbekannten Regeln, ein Herumwälzen vom Bett auf den Boden und wieder zurück, ein heftiges Liebesraufen. Und je mehr es am Spielerischen verlor, umso mehr gewann es an Nähe, bis wir nichts weiter waren als zwei Stimmen derselben wunderschönen Melodie, die ein zärtliches, aber in Anbetracht des uns Beide führenden eingänglichen Rhythmus' beinahe überflüssiges "ich liebe dich" ausstießen.
     
    Oh, wie ist es so erfüllend, seine Muse zu lieben! Ich lag auf dem Bett und schrieb:
     
    Du Brunnen meiner tausend Sinne,
    du Anregung in allen Dingen!
    Ganz tief will ich in dir versinken
    und in dem Rhythmus leichter Minne
    schwere Atemnot bezwingen
    und endlich ganz in dir ertrinken.
     
    Sogleich griff sie nach ihrer Gitarre, spielte und sang für mich, sang mein Gedicht mit der kräftigsten Stimme, mit der man ein Liebeslied zärtlich singen kann. Ach, wie ihre zauberhafte Stimme mir ganz tief in Mark und Bein geht und an jeder Stelle meines Körpers heilige Spuren hinterlässt! Der Mensch kann von Schönheit nichts wissen, der diesem Moment nicht beiwohnte.
     
    Voller Mut blicken wir nun einer verheißungsvollen Zukunft entgegen, auch wenn die Situation gewiss nicht einfach ist. Wir sponnen unsere Gedanken, äußerten Ideen, sie könne vielleicht nach Frankfurt ziehen oder ich eröffne in Berlin einen Buchladen oder wir ziehen gemeinsam aufs Land und halten uns einen Hof. Dies sind gewiss alles keine Dinge, die wir in naher Zukunft verrichten werden und den meisten in unserer Lage würde da Angst und Bange, aber dass wir völlig ungezwungen darüber sinnieren konnten, ohne einen Zwang oder Druck zu verspüren, bezeugt unser gegenseitiges Vertrauen. Nichts ist versprochen, doch alles ist möglich und das ist eine süße Gewissheit.
     
    Als ich mich auf den Heimweg machte, da war mir so unwohl, als zöge ich von zu Hause aus. Eine Kraft, so stark, dass jedes Leugnen, jeder Verweis auf die Unsinnigkeit metaphysischer Bilder keine Macht mehr hatte, hielt einen wesentlichen Teil meinserselbst zurück, während mein Körper durch die wildwuchernden Wälder Brandenburgs reiste und sich bald zwischen den grünen Hügeln Thüringens wiederfand. Mich erreichte zum ersten Mal eine Ahnung, wie schön dieses Deutschland sein muss, das mir doch so fremd ist. Aber diese Schönheit kann die Sehnsucht nach Heimat nicht befriedigen, die ich endlich in Berlin fand.
     
  4. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ihr Foto erfüllte mich heute über den ganzen Tag mit beschwingter Heiterkeit. Wie bin ich ihr dankbar, dass ich an solch einem trüben Tag so viel Schönheit sehen darf! Ich weiß nicht, soll ich ihre Augen mit dem leuchtenden Blau des seichten Meeres an einem hellen Sandstrand vergleichen oder das Meer mit ihren Augen? Doch warum überhaupt vergleichen? Warum alte und benutzte Worte gebrauchen für einen wonniglichen Eindruck, der so spontan in meinem Geiste entsteht und mein ganzes Wesen auf eine Weise einnimmt, die mit jedem Wort an Kraft verlöre.
     
    Sind Begriffe nicht in Wirklichkeit Unbegriffe, die unfähig, den Zauber in den Dingen einzufangen, den Menschen vom wahren Begriff, vom Begreifen des reinen Gefühls abbringen? Nichts wäre über sie oder mich oder uns gesagt, suchte ich nach einem Wort für unsere Beziehung, sagte ich, sie sei eine Brieffreundin, eine Freundin, meine Angebetete. Ach, wie sind all diese Worte so falsch! Und wie sind die unzähligen sentimentalen Seufzer so wahr und vielsagend, die mir entfahren, wenn sie etwas äußert wie: "Warum bist du nur so weit weg?" Seufzer, die lange entstehen, ehe ich einen Begriff oder irgendeinen Gedanken dazu habe, als unterstünden meine Lippen und meine Stimme in dem Augenblicke ganz ihrer Macht.
     
    Mein hilfloses Gestammel vor der Herzlichkeit und Wärme ihres Ausdrucks ist so viel weiser als jedes Sinnieren darüber, wer sie für mich ist oder sein könnte.
     
  5. Schmuddelkind
    Es gibt gute Nachrichten! Endlich konnte ich den Antrag auf Corona-Soforthilfe für Freiberufler ausfüllen. Nein, der Antrag wurde noch nicht bewilligt. Nein, er wurde noch nicht einmal geprüft. Ich hatte auch bis dahin noch keinen Kontakt zu einem Verantwortlichen - weder persönlich, noch telefonisch, noch schriftlich. Aber mir wurde endlich erlaubt, den Antrag auszufüllen. Juhuu!
     
    Warum ich mich darüber so freue, bedarf sicherlich Einiges an Erklärung. Seit letzten Freitag um 12 Uhr war es möglich, diesen Antrag online - und nur online - auszufüllen, verbunden mit dem Versprechen: "Wir lassen niemanden im Stich." Punkt zwölf klickte ich auf die Schaltfläche, die mich zum Schotter führen sollte. Punkt zwölf brach die Internetseite völlig überlastet zusammen. Wer konnte auch ahnen, dass halb Berlin gleichzeitig die Hand ausstreckt, wenn es 5.000 Euro zu verschenken gibt?
     
    Ab 13 Uhr war es dann möglich, sich in einer Warteschlange einzureihen. Pünktlich um 13 Uhr reihte ich mich ein - an Platz 56.739. Zwei Stunden später war ich bereits auf Platz 53.244 vorgerückt. Bemerkenswert, dass die Regierung die Digitalisierung auf alle Aspekte behördlicher Vorgänge anwendet. Wenn man keine Nummer ziehen müsste, würde das die Menschen nur irritieren. So fühlt man sich gleich wieder wie beim Amt - nur eben zuhause.
     
    Im Laufe des Tages erreichte ich immerhin einen Platz zwischen 40.000 und 50.000, als mir mitgeteilt wurde, dass die Bearbeitung nun bis zum Folgetag pausiere und ich den PC mehrere Tage anlassen müsse, um meinen Platz in der Warteschlange nicht zu verlieren. "Mal sehen, ob die Soforthilfe meine erhöhten Stromkosten deckt", dachte ich. Am nächsten Tag - ich befand mich dann bereits auf Platz zweiunddreißigtausend nochwas - kam es, wie es kommen musste: Aus nicht abzugewöhnender Vernunft schaltete ich den PC aus und verlor meinen privilegierten Platz im vorderen Zehntel der Warteschlange.
     
    Gerade so konnte ich den Impuls unterdrücken, meinen PC zu zerschmettern. Leider hat die Behörde über das Wochenende auch ihre Internetpräsenz eingestellt. Ordnung muss sein - auch in der Krise. Also konnte ich mich erst am Montag wieder in die Warteschlange einreihen - Platz 152.384. Als ich mich heute, Mama Merkel im Stillen dankend, der Spitze der Schlange näherte, war ich zum ersten Mal froh, mich in Quarantäne zu befinden. Denn das tagelange Campieren vor dem PC in der Hoffnung auf mir zustehende Leistungen hat auch einen Haken: Wenn man an der Reihe ist, hat man maximal 30 Minuten Zeit, seinen Platz in Anspruch zu nehmen. Man stelle sich mal vor, jemand müsste zu dieser Zeit arbeiten - mitten am Tag! Die armen Trottel!
     
    Für das Ausfüllen des Antrags wurde mir dann eine Stunde Zeit gegeben. Ein Zeitfenster, das mir nicht erlaubte, mich von der Nennung dutzender Paragraphen unter Drohung von Gefängnisstrafe abschrecken zu lassen. Viel zu lange hatte ich gewartet, um einen Freiheitsentzug annähernd so hoch zu gewichten wie die Möglichkeit, Formulare auszufüllen. Da ist es eben von Vorteil, ein Gott zu sein.
     
    Interessanterweise gab es keine einzige konkrete Frage zu meinen wirtschaftlichen Verhältnissen. Was dem am nächsten kam, war lediglich eine Aufforderung, ich solle bestätigen, dass ich Geld brauche. Damit hatte ich dann auch keine Probleme. Wenn es so einfach ist, warum lassen sie die Leute dann ihr Leben ins Internet verlagern? Warum nicht gleich das Geld mithilfe von Drohnen auf die Straße regnen lassen?
     
    Aber so leicht wie man das Geld bekommt, so leicht können sie es einem auch wieder wegnehmen. Eine genaue Bedürftigkeitsprüfung findet ggf. hinterher statt. Naja, wenn der Staat dann irgendwann Geld von mir zurückverlangt, kann er gerne eine Nummer ziehen.
     
    Denn am siebten Tag erschuf ich die Gleichgültigkeit.
  6. Schmuddelkind
    Ich gehöre zu den Menschen, die nicht im Flugzeug oder Bus schlafen können. Dementsprechend müde war ich von dem langen Flug von Frankfurt über London nach Bangalore. So müde, dass ich nicht verstanden habe, was der indische Polizist in der braunen Uniform von mir wollte, der mich direkt nach der Gepäckkontrolle ansprach - ich muss vorwegschicken, dass ich nie einen rechten Zugang zu dem Englisch mit indischem Akzent fand. Ich hatte bereits vorher aufgrund der Schilderungen des Indien-erfahrenen Vaters meiner Freundin gewusst, dass die indischen Behörden bei Europäern gerne überkorrekt sind, um den Eindruck einer fortschrittlichen, durchorganisierten Bürokratie zu erwecken. Also gab ich ihm alle Papiere, die ich bei mir hatte und auch wenn ich nicht erfahren konnte, worum es eigentlich ging, hat er mich nach kurzer Durchsicht durchgewunken. Zu allererst habe ich den ersten Reisescheck eingelöst; denn ohne Geld geht auch in Indien nichts und mit Geld kommt man sehr weit.

    Ein paar Schritte und dann war es endlich so weit - der erste Atemzug in der indischen Nachtluft. Die Nacht erschien mir merkwürdig schwül und was ich im fahlen orangefarbenen Laternen-Licht von Bangalore erkennen konnte, erinnerte mich beklemmender Weise an Frankfurt: hohe Gebäude, breite Straßen, Dreck. Doch allzu lange blieb mir nicht, um mich an die neue Umgebung zu gewöhnen; denn sofort stürmten dutzende Männer auf mich zu, schrien wild durcheinander und kamen mir unangenehm nah. In all dem Wirrwarr konnte ich noch verstehen, dass sie mir helfen wollten, meinen Bestimmungsort zu finden. Ich gab zu verstehen, dass ich zum Inlandsflughafen musste und mit der größten Freundlichkeit erklärte man mir, dass der nur ein paar Meter um die Ecke liege. Ich gab dem Nächststehenden 50 Rupien (ein Euro und ein paar Gequetschte) und machte mich auf den Weg dorthin.

    Es war ein geradezu winziger Flughafen, in militärisch anmutendem Braun gehalten. Als ich auf der harten Metallbank wartete, wurde mir klar, dass ich es schwer haben würde, die vier Stunden bis zum Weiterflug ohne Schlaf auszuhalten - und schlafen wollte ich mit Bedacht auf mein Gepäck nicht. Daher kaufte ich mir am nächstbesten Stand ein undefinierbares Milchshake-ähnliches Kaffee-Getränk. Kurz darauf war es nicht mehr die Müdigkeit, die mich beschäftigte, sondern meine Gastral-Aktivität. "Schnell zur Toilette!", dachte ich, doch als ich da ankam, dachte ich nur "schnell wieder raus!" Ich muss wohl nicht ins Detail gehen, aber es war unschön. Also verbrachte ich die nächsten vier Stunden totmüde und mit Bauchschmerzen, gelangweilt auf einem öden, relativ einsamen Flughafen, bis ich endlich meinen Anschluss-Flug antreten konnte.

    Tatsächlich konnte ich während des Inland-Fluges sofort schlafen und wachte erst wieder mit flauem Magen auf, als das Flugzeug seine Landeschleife drehte. Sicherheitshalber kramte ich schon die Kotztüte hervor, während sich mein Sitznachbar, ein älterer Herr in feinem Dress als Thomas-Christ vorstellte (in Indien ist es durchaus nichts Unübliches das Gespräch direkt mit religiösen Fragen einzuleiten). Wir unterhielten uns also bis zur Landung (etwa eine halbe Stunde lang) über das Christentum, über den Hinduismus und wie die Hindus christliche Traditionen aufgreifen und umgekehrt, während meine Augen immer wieder in Richtung der weit ausgedehnten Kokospalmen-Wälder bei Trivandrum abschweiften, die mir eine Vorahnung von der ursprünglichen Schönheit der Natur Keralas gewährten. Es scheint in Südindien Sitte zu sein, dass man jungen Ausländern versichert, sie würden eines Tages zu bedeutenden Persönlichkeiten ihres Landes; anders kann ich es mir nicht erklären, dass der mir völlig fremde Mann sagte: "You will be President of Germany." Das war noch vor Wulff und Köhler, so dass ich es nicht als Beleidigung aufgefasst habe.

    Auf dem Boden Keralas angekommen, hielt ich Ausschau nach meiner Freundin und als ich sie vor dem Gebäude sah, das Meer im Hintergrund, wollte ich ihr am liebsten in die Arme fallen, hatten wir uns doch zwei Monate lang nicht gesehen. Doch das wird in Indien als unhöfliche Zur-Schau-Stellung von Intimität angesehen, so dass ich mich zurückhielt und ihr in etwa in der gleichen Weise die Hand gab wie ihrer Freundin. Wir stiegen sogleich in die wartende Rikscha, wo ich die angenehme Abkühlung genoss, die der Fahrtwind mir bot.
     
    In einer Rikscha sitzt man zu dritt sehr gedrängt auf der Bank in einer kleinen Kabine, die zu den Seiten hin offen ist. Ich hielt mich an meinem großen Rucksack fest, der zwischen meinen Beinen kaum Platz hatte. Der Fahrtwind wehte mir um die Ohren als Bote eines Abenteuers, auf das ich mich sehr freute; jedoch konnte ich davon nicht viel zeigen, da ich am liebsten den Kopf auf meinen Rucksack sackend eingeschlafen wäre. Doch die vielen neuen Eindrücke - die gewöhnungsbedürftige Fahrweise des Rikscha-Fahrers, wie er etwa zwei Rikschas, die nebeneinander fuhren auf dem sandigen Gelände links neben der holprigen Straße überholte, ein anderes Mal rechts über den Mittelstreifen überholte, zwischen einer Rikscha und einem entgegenkommenden LKW hindurch, die Kokospalmen rings umher, zwischen denen sich allerlei dichtes Strauchwerk und gelegentlich eine Familie in einer Hütte eingerichtet hatte, die vielen Ortschaften, die so zerfasert dem Wald eine weite Ausdehnung einräumten, dass ich nie wusste, ob ich mich in der Natur oder der Zivilisation befand, die Gesangs ähnlichen Rufe geschäftstüchtiger Händler - diese Eindrücke haben alle meine Sinne eingenommen, weswegen ich den teils fürsorglichen, teils neugerigen Fragen meiner Begleiterinnen nur dürftig nachkommen konnte. Wir benötigten etwas mehr als eine Stunde für die knapp 50 km nach Varkala - ein Tempo, an das ich mich noch gewöhnen sollte.

    Unser Hotel, ein hübsches blaues Haus im Kolonialstil, lag etwas abseits. Eine Kokospalme stand neben dem Pfad zum Eingang und dahinter erstreckte sich der Wald. Wir fanden uns gleich auf dem Balkon ein, der die beiden Zimmer miteinander verband, die wir bezogen. Da ich einen vorübergehenden Anflug von Wachheit erfuhr, fühlte ich mich konzentriert genug, zu reden und wir aßen die frischeste Mango und unterhielten uns, bis wir bei Sonnenuntergang (gegen 19 Uhr) unter unsere Moskito-Netze schlüpften.
  7. Schmuddelkind
    "Allahu akbar", weckte mich die körnige Lautsprecherstimme vom Minarett der nahe gelegenen Moschee am nächsten Morgen. Selten hat sich Schlaf so gut angefühlt. Wie es meine Art ist, erkundete ich als erstes die Gegend. Die anderen beiden konnte ich dafür begeistern, mich zu begleiten. Durch einen engen, von Palmen gesäumten Pfad kamen wir in den Ort, von wo wir die Straße Richtung Strand entlang gingen. Auf dem Weg sprach mich der Stand eines Kokoshändlers an. Dieser steckte einen Strohhalm in die Nuss, gab sie uns zu trinken und schnitt sie anschließend in einige Stücke, die wir auf dem Weg verzehrten.

    Die touristisch orientierte Strandpromenade, auf der sich zu unserer Rechten Restaurants, Bars, Internetcaés und Ayurveda-Massage-Praxen aneinander reihten, gewährte zu unserer Linken einen freien Blick auf den etwas unruhigen indischen Ozean. Über eine Treppe, die in die feuerrote Felsenwand geschlagen war, die von der Promenade abfiel, gelangten wir zum Strand. Obwohl Inder in aller Regel nicht öffentlich baden (oft gar nicht schwimmen können), waren einige indische Familien zwischen den Touristen zu finden, da sie aus der bereits morgens so drückenden Schwüle geflohen, ein Picknick an der frischen Meeresluft bevorzugten. Nachdem wir uns ein paar Minuten im Wasser abgekühlt hatten, zog ich mir den ersten und einzigen Sonnenbrand meines Lebens zu (nein, die Sonne über Indien ist gewiss nicht mit der italienischen Sonne vergleichbar).

    Es zog uns nun zum Ortskern, wo Rikschas sich zwischen den Fußgängermassen hindurch drängten und den allgegenwärtigen rötlich-braunen Sand aufwirbelten. Varkala ist keine große Stadt. Der halbe Ort musste sich also auf den wenigen Sträßchen versammelt haben, die im Schatten bunter Wohnhäuser zu dem besandeten Platz vor dem Tempel zusammen trafen. Allerlei unterschiedliche Leute: unter den Bäumen auf dem Tempelplatz stand in seinem orangefarbenen Gewand ein Bettelmönch mit stoischer Ruhe, dem wir ein paar Rupien gaben. Exil-Tibeter gingen mit einer Kasse umher. Ein Sikh ging mit einem Moslem, ganz im Gespräch vertieft, so dass er beinahe mit einem Jungen zusammenstieß, der mit seinen Freunden Fangen spielte und daher aus einer kleinen Gasse zwischen zwei Häusern hervor huschte, in der sich ein Rinnsal gebildet hatte. Hier und da gab es Stände, um die herum, angelockt durch die Rufe der Händler, viele Passanten standen. Und ständig gingen Menschen in den Tempel ein und aus.

    Wir befanden, dass es Zeit war, zu Mittag zu essen und betraten eines der älteren Wohnhäuser am Platz. Hinab in einen grauen Keller, vorbei an der Küche, die ungewöhnlich einsehbar war und in der in aller Geruhsamkeit gekocht wurde (wir gehörten zu den ersten Gästen des Tages), nahmen wir auf einer Terasse hinter dem Haus Platz. Von dort erstreckte sich ein etwas größeres, rechteckiges Wasserbecken, in welchem ein paar Frauen ihre Wäsche wuschen. Es waren keine Speisekarten zu finden. Stattdessen gab der Kellner uns zwei vegetarische Gerichte zur Auswahl. Mein Leibgericht war zum Glück darunter: Palak Paneer, also Spinat mit weichem Rahmkäse. Ein Wort zu indischem Essen: durch die reichhaltige Beimischung von Gewürzen ist es wirklich lecker (wohl das beste Essen, das ich kenne), aber auch sehr scharf. Zu jedem Gericht bekommt man so viel Reis und Fladenbrot wie man benötigt und in der Regel ist die Bedienung sehr aufmerksam und füllt ungefragt auf. Man isst, indem man ein Stück Brot mit der reinen, also rechten Hand (mit der linken sollte man das Essen gar nicht berühren, da diese zur Reinigung nach dem Toilettengang gebraucht wird) abreißt und damit Reis und Gemüse aufnimmt. Es gibt also kein Besteck.

    Wir verbrachten noch ein paar Tage in Varkala, bevor wir weiter zogen. Vor allem zwei Dinge sind mir aus jenen Tagen in Erinnerung geblieben:
    1. Ich habe die erste goldene Regel für Indien-Urlauber gelernt: Bestelle niemals in Indien eine Pizza! Die Freundin meiner Freundin hat es am doch recht touristisch ausgerichteten Strand-Restaurant ausprobiert und bekam ein Chapati (Fladenbrot) mit Ketchup.
    2. Wir sind auf Elefanten am Strand entlang geritten. Die Elefantenhaut ist rau und mit borstigen Haaren gespickt, was besonders unangenehm ist, wenn man Sonnenbrand an den Beinen hat. Außerdem ist es eine äußerst wackelige Angelegenheit. Aber ein außergewöhnliches Erlebnis ist es allemal, zumal es uns vergönnt war, in der Ferne Delphine zu beobachten.
  8. Schmuddelkind
    Nachdem der Winter ausgefallen war, schneit es nun zum Frühlingsbeginn. Die Menschen auf der Straße verziehen das Gesicht darüber in erkennbarer Empörung, fast so, als glaubten sie, ihr Gesichtsausdruck könnte irgendetwas an der Willkür höherer Mächte ändern.
     
    Hier drinnen ist es mir hingegen völlig egal, ob es schneit, regnet oder stürmt. Ich bin über das Wetter erhaben. Genau genommen bin ich über all eure Belange da unten erhaben. Gesteigerte Grundaggressivität, sinkende Aktienkurse, Hamstereinkäufe, aufgeblähter Organschwarzmarkt - geht mir alles am Arsch vorbei. Ich bin ein Gott und lebe von euch entrückt in meinem absolut ereignislosen Himmel. Huldigt mir und lasst euch von meinem Segen infizieren! Ich führe euch in mein Himmelreich und setze euch die Corona der Absolution auf!
     
    Wahrlich, ich sage euch. Gesegnet seien die Umtriebigen; denn sie werden in Quarantäne ruhen. Gesegnet seien die Hungernden; denn sie brauchen kein Klopapier. Gesegnet seien die Toten; denn sie können nicht sterben.
     
  9. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    du hast sicher recht: die wahre Bedeutung ihrer Worte könnte ich wohl nur erfahren, wenn ich mit ihr spräche. Allein - wie oft kann ein Herz brechen, ehe es zugrunde geht? Stattdessen sitze ich also seit gestern über ihren Brief und deute jedes einzelne Wort. Ich analysiere, kombiniere und fantasiere, doch statt das Undeutliche in einen Sinn zu fügen, werde ich mir selbst ganz undeutlich.
     
    Was hat es zu bedeuten, wenn sie über ihre Entscheidung "nachdenkt"? Heißt es "überdenken"? Oh, für einen Augenblick bin ich der glücklichste Mensch der Welt, ehe der Verstand einwendet: Aber warum schreibt sie, sie hätte mich nicht verdient? Vielleicht bedeutet "nachdenken" also reflektieren und in dieser Reflexion hat sie ihren Frieden mit dem gegenwärtigen Zustand gefunden. Wie kann ich wieder so hochmütig sein und glauben, sie könne es anders sehen? Dennoch drängt sich mir dann aber die Deutung auf, sie wolle mich einladen, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Was soll "verdienen" überhaupt bedeuten? Hat man nicht den Menschen verdient, der sich nach einem sehnt, gerade weil er sich nach einem sehnt? Treffen dort nicht Ursache und Wirkung in einem Punkte zusammen? Ist das nicht das Erfüllende an der Liebe, dass sie keines äußeren Anlasses bedarf, dass sie sich aus sich selbst heraus entfaltet?
     
    Ach, ich drehe mich im Kreise - und wenn ich noch so klug wäre, drehte ich mich nur umso schneller im Kreise. Liebe kann doch nicht in solch komplexen Gedanken gedacht werden. Man kann sie nur geschehen lassen. Wie kann ich mich erdreisten, ihre Gefühle in meine Gedanken zu zwängen? Doch es zerreißt mich - die Ahnungslosigkeit, dieses... ach! Beschränktheit und Unendlichkeit und ich dazwischen! Reift in dir auch zuweilen der Wunsch, dich für einige Zeit aus deinem eigenen Leben zurückzuziehen, um dann wieder einen Blick hinein zu wagen und festzustellen, ob es inzwischen richtig erscheint, wieder du selbst zu sein?
     
  10. Schmuddelkind
    Ob diese Tiefe meiner Empfindungen auf Gegenseitigkeit beruht oder ob sie diese zumindest erwirken mag, ist in der Tat eine Frage, die ich gerne beantwortet finden möchte. Ich kann dir darauf nur Albernes sagen: Wenn ich meine Gedanken nicht zu Ende denke, nicht einmal bis zum ersten Punkt, um mich in ihren Gedanken zu verlieren, ganz nah, ganz tief, wenn ich sie wie ein Gedicht lese, wenn ihr Schweigen unerträglich laut in mir wird und ich sie anrufe wie in einem Gebet, um ihre Stimme zu hören, so kann ich mir jedenfalls darauf keinen anderen Reim machen als dass so viel Sehnsucht nicht von einem einzigen Menschen allein empfunden werden kann - fast als müsse sie diese Sehnsucht teilen, wenn in dieser Welt etwas Sinnhaftes sein soll.

    Wärst du bei mir
    Wärst du bei mir an meiner Brust,
    verlör ich keine Träne und kein Wort
    darüber, wie es wär, wärst du jetzt fort,
    als hätt ich davon nie gewusst.
  11. Schmuddelkind
    Mit dem Aufwachen dürstete mir nach spiritueller Versenkung. Daher habe ich den ganzen Tag dafür genutzt, jede einzelne Internetseite zu durchforsten. Mein Fazit: drei Sterne. Mir ist übrigens aufgefallen, dass das Internet voll von Verschwörungstheorien ist. Ich denke, die Regierung verbreitet über das Internet sämtliche Verschwörungstheorien, um die Menschen gegen Fakten zu immunisieren, bis unsere Gehirne für die totale Staatspropaganda empfänglich sind und wir zu willenlosen Ausführorganen eines Genosuizids werden, der von jener geheimen Sekte von langer Hand geplant wurde, die sämtliche Schlüsselpositionen in Politik, Wirtschaft und Kultur innehat. Wer mir widerspricht, gehört zu denen.
  12. Schmuddelkind
    In einem Anfall spontaner Rebellion gegen die Langeweile habe ich heute in den sozialen Netzwerken gepostet, dass Forscher herausgefunden hätten, der Corona-Virus werde durch Blickkontakt übertragen. Man könne sich vor einer Infektion schützen, indem man mit geschlossenen Augen durch die Welt gehe.
     
    Noch ehe ich mein "April, April!" darunter setzen konnte, wurde meine Fantasie zur Realität der Sicherheitsdürstigen. Auf Youtube sah ich Online-Tutorials, wie man sich mit geschlossenen Augen im Raum orientieren könne. In den Foren bildeten sich zwei Lager. Lager A: "Blickkontakt ist ein soziales Grundbedürfnis. Das lasse ich mir durch kein Virus der Welt verbieten. Macht endlich die Augen auf!" Lager B: "Wenn es nur darum ginge, den eigenen Tod zu bevorzugen, sei dir das zugestanden. Aber Blickkontakt ist eben verantwortungslos und sollte schnellstmöglich verboten werden." 
     
    Bundespressesprecher Seibert erklärte in einer Pressekonferenz: "Zwar tappt man, was die Erforschung des Virus angeht, noch im Dunkeln und sichere Erkenntnisse über die Verbreitung des Virus sind derzeit noch nicht zu erwarten. Allerdings ist die Bundesregierung nach Rücksprache mit führenden Virologen zu dem Schluss gekommen, dass eine Übertragung des Virus durch die Augen nicht zu erwarten sei." Zu diesem Zeitpunkt wurde schon der erste Fall von panischer Selbstblendung berichtet.
     
    Dummheit ist viraler als jeder Virus.
  13. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ihre Zeichnung an meiner Wand spendet mir wertvollen Trost. Wie die beiden Wölfe inmitten der romantischen Landschaft so sehnsüchtig in die Ferne blicken... ach, in allem, was sie tut, in jedem Detail ihrer Kunst, in jedem Wort, womit sie unserem Dasein so viel Leichtigkeit und Sinn verleiht, in der Unbekümmertheit ihrer Gesten ist eine unerdenklich erfüllende Freiheit erlebbar. Im Geiste dieser Freiheit könnte ich auf so Vieles verzichten, fast als sei ich über das Atmen erhaben.
     
    Doch, und es mag dir wie Wahn erscheinen, mir dürstet nach so viel mehr, denn ich leide an einem ungefähren Mangel. Immerzu verzehre ich mich nach einem Wort von ihr und wenn ich sie reden höre, obgleich ich eine nie gekannte Seligkeit erfahre, will der lebendige Wunsch nach mehr nicht weichen. Was ist dieses "Mehr"? Es ist jedenfalls kein Mehr an Worten und fast glaube ich, dass es kein Wunsch ist, den ein Mensch einem erfüllen kann. Woher kommt nur diese unergründliche Sehnsucht?
     
  14. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ich bin ein entzweiter Mann! Gestern hatte sie Geburtstag. Wie wild schlug mir mein Herz vor Freude und Aufregung, als sie mir schrieb, sie wünsche sich kein Geschenk sehnlicher, als dass ich sie anriefe! Und doch, wie war es mir zugleich so schwer! Wie kann mir diese wunderschöne Stimme, die mir so viel wert ist, eine Strafe für mein Verlangen sein? Die schlimmsten Fehler, die wir machen, sind unvermeidlich. Kann ein Mensch sich einen anderen Menschen aussuchen? Nein, er wird hingezogen oder abgestoßen oder treibt träge davon. Und doch fällt dies alles mit unerträglicher Wucht auf uns zurück.
     
    Ich habe sie angerufen; denn ich konnte nicht anders. Ich will nur sie! Ich sehe es ganz klar, ohne einen Gedanken davon denken zu müssen. Da erschlug mich wieder die ganze Schwerelosigkeit ihres freimütigen Wesens, das mich doch tragen sollte, das mich befreien sollte: "Wir haben schon so lange nicht mehr telefoniert. Ich hab dich vermisst!". Wie sie diese bedeutsamen Worte mit einer solchen Selbstverständlichkeit, Reinheit und Leichtigkeit sagen konnte... Da hatte ich Mühe meine Unrast zu verbergen und musste aufpassen, dass sich mein Atem nicht überschlug. Was ist das für ein Leben, dass ich auf meinen Atem achte, wenn ich mit ihr spreche? Und was wäre das für ein Leben, nicht mit ihr zu sprechen?
     
    Welch eine Wonne und welch eine Folter, wieder so viel Sinn und so viel fromme Andacht vor dem Menschsein in all den natürlichen, kleinen Bewegungen ihrer Stimme und all den noch so profanen Äußerungen über ihren Geburtstag, ihre Familie und ihre Arbeit zu vernehmen! Eine unbeschreibliche Regung durchfuhr meine Seele, als sie davon schwärmte, mit mir ein Glas Wein zu trinken. Manchmal denke ich, wenn ich es ausdrücken könnte, dass... alles, ach! Wenn es Worte dafür gäbe, dann müsste sie es verstehen und dann hätte sie ein Einsehen und ein Mitempfinden. Dann bilde ich mir ein, könnte sie nicht anders, als meine Gefühle zu teilen.
     
    Sie fuhr fort: "Aber leider bist du so weit weg, du Lieber." und ihre Stimme füllte sich mit einer Wehmut, die man nicht darstellen kann, wenn man sie nicht empfindet. Aber was sind Raum und Zeit als bloße Vorstellungen, Entsprechungen unserer Angst? Und was sind sie wert, wenn man keine Angst mehr hat, nicht einmal vor dem Tod? Ich wünschte, ich wär so weit!
     
  15. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ich bin ganz beseelt von der Aussicht, sie bald in meine Arme schließen zu können! Das ist der Gedanke, mit dem ich morgens aufstehe und das ist der Gedanke, mit dem ich abends einschlafe und es ist der Gedanke, der mir immer wieder den Tag sinnvoll erscheinen lässt, an dem ich meine sonst so bescheidene Existenz voranschleppe. 
     
    Wie viele Male habe ich gestern während meiner Route durch den wunderschönen Spessart die malerische Landschaft gar nicht gesehen, da ich nur den wohlgeformten Sinn ihrer Worte bei mir hatte und wie oft half mir der herrliche Anblick der Wiesen und Felder, die auf den rundlichen Hügeln in unerdenklich schönen Farben leuchteten, darüber hinweg, nicht eben ihrer Stimme lauschen zu können! Wie oft konnte ich voller Stolz ins Tal rufen: "Sie liebt mich!"; denn dass sie es tut, das fühle ich so eindringlich, nah und gewiss, wie mir das Herz schlägt, wenn ich an sie denke. Dennoch - so oft kam es mir wie ein Mangel meines eigenen Daseins vor, dass sie nicht bei mir ist! Da bin ich die eine Hälfte einer Umarmung, ein Kuss ins Leere, ein unbekanntes Versprechen. Oh, welch herber Reichtum, aber ein Reichtum ganz bestimmt!
     
  16. Schmuddelkind

    Briefe
    Liebe Babsi,
     
    bin ich denn schon so wenig Teil meiner selbst, dass ich die Regungen nicht aufbringen kann, gegen die sich niemand wehren könnte, der ihrem Grunde erliegt? Es war nur eine Frage der Zeit, aber die Zeit erscheint mir verstorben: bis Ende der nächsten Woche muss ich meine Wohnung geräumt haben. Ich sollte mich schämen, aber ich wundere mich nur.
  17. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ich lebe noch, aber meine Tod, wenn ich atme. Ich dachte, mir täte der Abstand zu ihr gut. Aber nichts kann mir als Linderung gereichen, weder ihre Worte, noch ihr Schweigen, weder meine Ruhe, noch der nutzlose Versuch, etwas mit meiner Zeit anzufangen, weder der wehmütige Blick zurück, noch der hoffende Blick nach vorn, der doch mehr von meiner Verzweiflung preisgibt, weder Reue, noch Wut.
     
    Längst bin ich mutlos geworden, grundlos, ja beinahe gegenstandslos. In meiner Existenz kann ich nichts anderes mehr sehen, als die Suche nach einer Rechtfertigung derselben. Wird dann nicht bald die Suche auch hinfällig? Babsi, nenn mir einen Ort, zu dem ich gehen kann oder ein Gift, das ich trinken kann, um ich selbst zu sein!
     
  18. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    als es Mitternacht wurde, schrieb sie mir: "Morgen komme ich zu dir, Liebster!" und all mein Verlangen war mit einem Male so nahe der Erfüllung. Allein zu wissen, dass sie darauf genauso sehnsüchtig wartet wie ich, bringt sie mir bereits so nah, dass das Warten selbst mir als ein Trugbild erscheint. Vielleicht ist es dies, wonach ich mich wirklich sehne - nicht ihre beruhigende Stimme, nicht ihr anregender Körper - nein, das Gefühl, in ihrer Seele ganz aufzugehen, worauf ich in solchen Momenten der Herzen Gleichklang einen Ausblick habe. Schlicht: Ich sehne mich nach Nähe!
     
    Ich bin vor mir selbst erschrocken, als ich mich heute Morgen mit dem Aufschrei "Morgen ist sie hier!" in den Tag befördert habe. Um zur Ruhe zu kommen, machte ich fast den ganzen Tag einen Spaziergang durch den Wald - so lebendig habe ich noch nie die Natur erlebt - bis ich schließlich ganz bei mir angekommen, mich an einem Orte von unbeschreiblicher Stille und ursprünglicher Schönheit wiederfand. Babsi, meine Seele spiegelte sich in der chaotischen, naturwüchsigen Harmonie der Flora, die aus wild in alle Richtungen ausgreifenden Bäumen und grünem Flechtwerk dazwischen ein idyllisches Gemäuer um mich bildete, als sei es zu meinem Schutz, so, als erschüfe ich dies alles aus dem Nichts. Da stand ein Reh, höchstens drei Schritte von mir und blickte vertrauensvoll zu mir und ich wusste, ich könnte zu ihm hin - es fräße mir aus der Hand.
     
    Inzwischen glaube ich immer mehr, dass Schönheit keine Frage von Betrachtung ist, sondern eine Wahrheit, der man auf dem Weg zu sich selbst näher kommt. Je schärfer man versucht, das Schöne vom Unansprechenden zu trennen, umso mehr verliert man den Blick für die wundervollen Dinge, deren Eindruck ganz frisch in einem unvoreingenommenen, offenen Verstande entstehen. Nur wer Mut hat, sich dem ersten Eindruck hinzugeben, wird erkennen, wie reich die Welt doch ist und in stillen Momenten weiß ich, dass dieser ganze Reichtum mir gehört.
     
  19. Schmuddelkind
    "Bloß nicht den Verstand verlieren! Bloß nicht den Verstand verlieren! Bloß nicht den Verstand verlieren!", bete ich mir immer wieder vor, während ich die Dielen zähle. Schmuddi, du bist doch verrückt! Geh lieber mal ans Fenster! Da kommst du auf andere Gedanken.
     
    Der Typ im Kapuzenpulli trägt eine Packung Toilettenpapier - scheiß Angeber! Ansonsten sind die Straßen so leer, dass Berlin auch gut ohne auskommen könnte. Wie eine Stadt ohne Straßen wohl aussehen würde? Das wäre dann wohl ein einziges, riesiges Haus. Dann wäre es auch nicht so schlimm, das Haus nicht verlassen zu können. 
     
    Ach, das ist überhaupt das Blöde an der Quarantäne, dass man nicht mehr rauskommt. Ob es verantwortungslos wäre, ein Inserat zu schreiben? "Biete Aussicht auf Corona-Infektion gegen soziale Interaktion." Wenn der Verrückte freiwillig zu mir kommt... Ist vielleicht gar nicht so verrückt. Lieber jetzt anstecken, als in ein paar Wochen, wenn die Krankenhäuser überlastet sind.
     
    Diese Gedanken sind selbst mir zu absurd und so falle ich wieder zurück in die Langeweile. Es ist so langweilig, ich würde sogar arbeiten gehen, um etwas zu tun. Ich könnte ja mal meine Mutter anrufen... Nein, dafür ist mir nicht langweilig genug. Ach, ich werde einfach wieder die Dielen zählen. Das verliert eigentlich kaum an Reiz.
  20. Schmuddelkind
    Nun Babsi,
     
    ich versuche mich, so gut ich kann, abzulenken. Doch jede Naturschönheit offenbart, wie wenig ich von der wahren Schönheit der Welt sehen kann, wie unvollständig ich ohne ihre Anteilnahme bin. In allen Dingen fehlt sie und dies ist alles, was ich sehe. Jede Handlung, durch die ich mich ausdrücke, drückt zugleich aus, wie sehr ich sie vermisse. Wie gerne würde ich wieder ihrer Stimme lauschen! Ich sehe ein, dass ich es mir nicht gestatten kann. Doch diese Einsicht verschlimmert nur meine Sehnsucht.
     
  21. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    du weißt, dass mir mein Geburtstag recht wenig bedeutet. Umso mehr bedeutet es mir, dass du dennoch daran gedacht hast. Vielen lieben Dank, auch für das Buch, das du mir geschickt hast! So manches Gedicht habe ich darin gefunden, das mir unbekannt war. Besonders hat mich Ludwig Tiecks Glosse (Liebe denkt in süßen Tönen) beschäftigt, denn in der Tat kann Liebe nicht in Worten gedacht werden und indem man sagt "ich liebe dich" wird die Liebe undeutlich, die eben noch in meinen zitternden Lippen klar zu erspüren war. Wenn ich dennoch jemandem mitteilen möchte, was ich für sie empfinde, denn Liebe kann nur schwer gehalten werden, so habe ich doch nur Worte dafür. Muss dann Liebe nicht letztendlich unerfüllt bleiben?

    Aber wenn ich mit ihr rede! Oh Babsi, wenn ich mit ihr rede - gestern hielt sie mich bis Mitternacht und länger am Hörer, um meine erste Gratulantin zu sein - wenn ich mit ihr rede, werden solcherlei Befürchtungen hinfällig. Da verwirren sich all meine Gedanken. Worte versuchen eher kläglich, dies zu überkommen. Aber meine Hinneigung ist so klar, wie ich Sanny sehen kann, wenn ich ihrer Stimme lausche - das kann ich gewiss - und ich bin über Entfernungen, Erwartungen und überhaupt über meinen Geist, ach, über die ganze Welt erhaben. Dies sind mehr als Worte! Ich weiß nicht, was dies ist. Erfüllt sich nicht etwa schon die Liebe in diesen schlichten Hergängen?

    Etwa wenn sie mich zärtlich aber nachdrücklich auffordert, ich solle ihr noch mehr erzählen - "Bitte! Du erzählst so schön" - sodass ich es ihr nicht ausschlagen könnte, wenn ich wollte. Und dann, wenn ich mitten in den inneren und äußeren Erfahrungen während meiner Waldeseinsamkeit angelangt bin, nichts weiter ahnend als den Fortgang meiner Geschichte, unterbricht sie mich plötzlich und da werden mir meine Worte selbst ganz egal, als ich sie singen höre. Erst da erkannte ich, dass es wohl mein Geburtstag sein müsse, hatte ich doch zuvor noch gar nicht daran gedacht. Oh Babsi, als wäre ich gerade in diese Welt geraten, verzückt und neugierig und in heiterer Verwirrung über all die schönen Reize! Und sogleich schickte sie mir ihr Geschenk - ein Bild, das sie nur entweder durch die feinste Beobachtung oder durch die weitschweifigste Fantasie zeichnen konnte:

    Zwei kleine Kinder, die einander mit großen, staunenden Augen anblicken, die Hände ungelenk aber sehnsüchtig zueinander ausgestreckt, mit einem ungehaltenen Lachen, wozu nur eben Kinder imstande sind. Ach, sie haben noch kaum etwas gelernt über diese Welt und schon so viel dessen verstanden, was die meisten von uns vergaßen, während wir "reifer" wurden, also uns Vorsicht und Misstrauen aneigneten. Babsi, einen schöneren Geburtstag hatte ich wohl selbst als Kind nicht erlebt! Habe heute Nacht auch kein Auge zugetan, da ihr Lied und ihr Bild mit meinem Empfinden zu einer untrennbaren geistigen Erscheinung zerflossen. Und dies war mir der schönste Traum.
  22. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ich glaube, zu träumen, so schwärmerisch ist mir zumute! Nie weiß ich, ob ich nun glücklich sterben will oder ewig leben möchte, wenn ich sie um mich habe. Als sei das Leben mit einem kurzen Blick in ihre lachenden Augen getan, als sei nichts mehr zu tun, als die Arme in der Gewissheit eines tragenden, warmen Frühlingswindes weit auszustrecken, über den Belangen der Menschen schwebend, so einfach ist doch alles, wenn ich ihr im Wald verspielt hinterher jage, wie ich es getan habe. Querfeldein rannten wir wie Kinder durch die Brombeerbüsche, vorbei an der nicht eben seichten Senke, die ehemals ein Wasserlauf dort geschaffen haben muss, weniger von den Dingen an sich als vom schöpferischen Eindruck derer Bewegung aufnehmend und kamen am Waldesrand zu stehen, überwältigt vom Anblick der olivgrünen Wiese, die sich zwischen uns und dem Hang in der Abendsonne zu weiten schien. "Oh, wie ist das schön!" meinte sie, im Gegenwärtigen vollkommen aufgegangen, während ich sie in meine Arme nahm. Jene Nacht verbrachten wir auf dem Bergener Hang auf einer Bank, abertausend Sterne über uns, die Lichter der Stadt unter uns, so dass wir nicht wussten, wo der Himmel aufhört.
     
    Es gibt Geschehnisse, da ist es beinah greifbar, dass unsere Handlungen bloße Hervorbringungen derselben sinnerfüllten Monade sind, etwa wenn sie meine Frage bejaht, ehe ich sie auch nur zur Hälfte aussprechen kann oder als ich auf die Trauerweide am Ufer des Sees just in dem Moment zuzurudern begann, als sie mir ins Ohr flüsterte: "Da wollen wir uns verstecken." oder als ich mich im Wilhelmsbader Schlosspark auf die Wiese warf in der fraglosen Gewissheit, sie würde ihren Kopf auf meine Brust legen und ich mich selten wichtiger gefühlt habe, als ihr als Kissen zu dienen. Und es gibt, ach... so viele Wunder an ihr, für die schlichte Dankbarkeit zu empfinden kaum auszureichen scheint, um mein angeregtes Gemüt zur Ruhe zu bringen... wenn ich Ausflugsziele aufzähle in der Hoffnung, etwas davon könnte sie ansprechen, worauf sie nur mit sanftem Wohlwollen reagiert: "Was immer du willst. Hauptsache, du nimmst mich mit!" oder wenn sie mit jedem Einfall, sich unversehens mit einer ganz anderen Sache zu beschäftigen, mich mühelos dafür begeistert, mit jedem unverhofften Kuss, den ich zart im Nacken spüre, wenn ich etwas lese, bis mir die Worte vor den Augen verschwimmen und ich nichts lieber tue als meinen Heine beiseite zu legen, überhaupt mit jeder Offenbarung ihrer plötzlichen Impulse ihriges dazu tut, damit wir beide im Zustande der völligen Hingabe für das wohlige Erleben dahin taumeln, so dass der Abschied wie ein überraschender Wetterumschlag über uns kommt.
     
    Doch bei all dem Vergnügen, muss ich eine Besorgnis erwähnen: So wie in dem Moment, bevor ich sie küsse, all meine Sinne nur dem gewissen, innigen Kuss zugeneigt sind und dem Augenblicke selbst dadurch seinen Zauber geben, ihn jedoch der Gegenwärtigkeit in der Lust auf das Kommende berauben, so geschieht alles, was wir teilen, jede zärtliche Berührung, jedes verständnisvolle Zublinzeln, jede vertraute Heiterkeit in der Erwartung einer noch tieferen Verbundenheit, als befände ich mich in einem Traum und wüsste davon und möchte aufwachen, um sie endlich mit meinen leiblichen Augen zu sehen, ihr wundervolles Wesen, von dem ich nur eine Ahnung haben kann, bei wachem Verstand tief im Inneren begreifen. Ich möchte ihr so nahe sein, dass ich mich durch ihren Herzschlag lebendig fühlen kann! Doch ist eine nähere Betrachtung denn wirklich einem tieferen Verstehen zuträglich? Ist der Wald nicht viel reicher durch seine herrliche Stille und das unplastische Grün, welches einem umgibt, als durch die kleinen Verästelungen, die man mit viel Mühe in den Blättern seiner Bäume genau beschreiben kann? Ich spüre, dass dies umso mehr für die Betrachtung von geliebten Menschen gilt, doch in meinem fortdauernden Begehr, mich zum Ausdruck zu bringen, kann ich nicht anders, als sie zu fragen, woran sie denkt, wenn sie angestrengt ins Leere schaut oder was sie empfindet, wenn sie eine Sorge äußert. Ich will ihr nahe sein!

    Mir ist, Babsi, als stürze mich ihre unbefangene Seele ins Verderben, als sei Liebe mein Verhängnis. Die Liebe, dieses banale Rätsel - schon so oft in tausenden Jahren wiederholt, aber so neu, dass mir mein Verstand und aller Gelehrten Meinungen wertlos sind, wenn ich im Kummer an sie denke, wie nur ich an sie denken kann, wie ich nur an sie denken kann.
     
    Verzeih, du wirst in meiner Rede kaum mehr als die Niedergeschlagenheit eines wirren Mannes erkennen können und ich sollte dir mehr darüber schreiben, wenn ich nur nicht mit jedem Gedanken daran bitterlich weinen müsste. Verzeih!
     
  23. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ich suche nach beschönigenden Umschreibungen in der Hoffnung, wenn es mir leichter von der Hand gehe, sei es auch leichter in meinem Herzen zu tragen. Aber es hilft nichts. So ernüchternd, wie es über mich kam, so ernüchternd muss ich es mit dir teilen: Sie sagte ihren Besuch gestern ab. Hin- und hergerissen sei sie gewesen zwischen Vorfreude und Zweifel. Wenngleich ich genau verstehen konnte, wie ihr zumute sein müsse, fand ich mich trunken im Zwiespalt innerer Kräfte. Da konnte ich nicht anders, als wenigstens in einem Punkte Klarheit zu suchen, denn in der Hingabe zur Ungewissheit ahnte ich düstere Ewigkeit, und ich eröffnete ihr die gesamte Tiefe meines Empfindens.

    Dich wird interessieren, wie ich mich angestellt habe, doch dies macht keinen Unterschied. Sie teilt meine Liebe nicht und nichts ist mehr von Belang. Zwar schrieb sie mir die liebsten Komplimente - und selbstpeinigend trug ich sie mir heute immer wieder vor - zwar befand sie, dass sie keinem Menschen so viel anvertrauen könne wie mir - ach, warum ausgerechnet mir? Und ich träumte von einer Welt, in der sie diesem Vertrauen zum Zeichen ihre Hand in meine legt. Zwar meinte sie, sie müsse wohl verrückt sein, doch sie empfinde nicht dasselbe wie ich und ich erkannte, dass die ganze Welt ein großes Missverständnis sein muss.

    Die Wirklichkeit wollte ich mir austreiben - mit Wein und Poesie - und bin heute doch wieder darin aufgewacht. Dann schrieb ich ihr einen Brief, von welchem ich einen Auszug mit dir teilen möchte:
     
    "Gestern Abend habe ich sehr klar gesehen, dass dies ein Ende und ein Anfang zugleich ist, aber ich habe das Ende zunächst höher gewichtet.

    Heute Morgen aber habe ich darüber nachgedacht, welche Gründe ich meinte zu erkennen, dass du meine Gefühle erwidern könntest und da kam mir z.B. die folgende Aussage in den Sinn: "Wenn du noch einen solchen Schwächeanfall erleidest, dann rufe mich an, auch wenn es nachts um drei ist!". Ich hatte den Gedanken als unsinnig von mir gewiesen, dies könntest du aus Freundschaft gesagt haben, denn es schien mir viel zu aufopfernd und empfindsam dafür zu sein.

    Jetzt, da ich aber weiß, dass du dies aus der reinen freundschaftlichen Liebe heraus gesagt hast, bin ich umso glücklicher darüber, denn so viel Nähe findet man nicht alle Tage und wenn ich mir diesen Satz in diesem Bewusstsein selbst sage, dann steigen mir fast Freudentränen in die Augen. 

    Und es hat mich dazu angeregt, weiter über Freundschaft und Liebe zu reflektieren. Fast neige ich dazu, dass freundschaftliche Liebe schöner und umfassender ist, als die Liebe zwischen Frau und Mann. Die Liebe unter Freunden ist leicht und geduldig. Sie trägt so natürlich empor und erträgt so Vieles. Die Liebe zweier Liebender ist schwer. Sie verschlingt beide völlig in dem Gedanken, für den Anderen zu leben, dass die Seele erstarrt und sich nur aus ihrer Starre zu befreien weiß, indem sie aufhört zu lieben. Ich neige dazu zu glauben, dass die wahre Liebe in der Freundschaft liegt und ich bin so dankbar, mit dir befreundet zu sein und erkenne, dass ich so viel mehr gewonnen als verloren habe!"

    Das klingt alles sehr sinnig und heilsam, nicht wahr? Und beinahe überzeugen meine Worte mich auch. Doch ganz gleich, wieviel Wahrheit darin ist - die Welt ist eine Lüge und kaum mehr kann ich in meinen Worten sehen als der hinterlistige Versuch meines Verstandes, mich zu trösten. Nein, ich kann mir vor ihrer Allgegenwart selbst kein Freund sein! Jedenfalls werde ich nicht mehr mit ihr telefonieren.

    Abschied
     
    Ich stehe stumm im Regen,
    winke dir, als wenn ich wüsste...
    Oh, du vielfach Ungeküsste,
    wenn ich wüsst weswegen...
     
  24. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    es wäre anmaßend von der Welt Gerechtigkeit zu verlangen, doch ebenso anmaßend wäre es von einem Menschen zu verlangen, die Ungerechtigkeit hinzunehmen. Welchen Sinn soll das alles haben? Sie verstehen wie ich nur sie verstehen kann, wie nur ich sie verstehen kann, derart vertraut zu sein, und doch einsam bleiben! Zwischen all den bekritzelten Papieren stützt sich mein Ellbogen auf meinen Schreibtisch, mein Kopf in die Armbeuge eingesunken und mehr aus der Erinnerung als mit den Augen lese ich seit Stunden ihre Briefe, höre sie vielmehr mir vorlesen und versuche zu verstehen, welche Fehler ich gemacht haben muss, worin mein Hochmut gründete. Doch wenn ich es nicht besser wüsste, wenn dies Briefe wären, zu denen ein Freund meinen Rat erfragte, so könnte ich ihm nur begründete Hoffnung aussprechen, denn so viel bedeutsame Zuneigung kann doch nicht einfach im Nichts versiegen.
     
  25. Schmuddelkind
    Ach Babsi,
     
    ich leide an der Schönheit der Welt. Ich höre Kinder lachen wie des Frühlings Atem, wie ein Jetzt, dem das Nachher weicht. Und ich gehe zum Fenster und sehe den friedvollsten Sonnenschein und die Bäume voller Zuversicht sprießen. Dies alles ist mir zum Spotte zugedacht. Ich leide an allem, was gut ist, schwärzte die Blumen und schüfe ewige Nacht, wenn mir im Augenblicke, da ich mich nicht mehr in der Welt erkenne, solche Macht zuteil würde.
     
    Dennoch gehe ich hinaus, neige mich nach dem Frühling hin, spüre die Wärme mir durch jede einzelne Pore strömen. Ganz ergreift die Harmonie der Natur Besitz von meinen Sinnen - die Wiese am Hang wird von derselben Sonne in saftigem Grün widergegeben, die die Blümlein am Wegesrand zum Blühen anregt und das Große und Weite findet sich im Kleinen und Nahen wieder - und keinen Anteil habe ich daran. Ganz und gar nichtig bin ich schon, doch nichts kann mir genügen. Vor Verwirrung vergehe ich und verlange nach mehr. Aus einem Blick wird ein Spaziergang. Aus einem Spaziergang wird eine Wanderung. Aus einer Wanderung wird eine Odyssee. Ganz gleich wie weit ich gehe - nie komme ich an.
     
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