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Brotlos


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Dieser Tag hat mich mal wieder so richtig fertiggemacht. Ich schließe die Haustür ab, nicht ohne vorher das Schild „Bitte nicht stören“ anzubringen. Das, obwohl die Möglichkeit einer ungewollten Kontaktaufnahme eher im Negativbereich anzusiedeln ist. Außer vielleicht von der alten sympathischen Dame aus dem obersten Stockwerk, die mir den Eindruck vermittelt, dass wir die dicksten Freunde wären, nur weil ich ihr einmal die Taschen nach oben getragen habe.

 

Meine Nerven sind am Ende, in meinem Kopf singt ein Chor von Sirenen in den schrägsten Tönen. Ein Krach, der auf Dauer nur die Selbstzerstörung als Ausweg zulässt. Ich schenke mir ein Glas Rotwein ein. Heute vom Guten, denn den habe ich mir im Laufe des Tages mehrfach verdient. Ich lege einer meiner Lieblings CDs ein, ziehe den Kopfhörer auf und drehe den Lautstärke Knopf kurz bis zum Anschlag. Ein Arschtritt für die Sirenen an den sich mein Tinnitus in der Nacht sicher erinnern wird. Ich drehe den Knopf wieder zurück und lasse mich in den Sessel sinken. In der linken Hand das Glas Wein und mit der rechten massiere ich meine Schläfen. Note für Note dringt in mich ein, jeden Takt etwas tiefer. Wie ein Presslufthammer, der sich Stück für Stück durch eine Betondecke frisst, bis er endlich auf loses Gestein trifft. Nach dem dritten Song entspanne ich mich langsam und ich spüre, wie sich ein Gefühl von Ruhe in mir breit macht. Zwei Lieder weiter bin ich bereits eingeschlafen.

 

Zum Glück habe ich es im Unterbewussten noch geschafft das Glas Wein auf dem Tisch abzustellen, das gelingt nicht immer. Ich weiß ehrlich gesagt nicht genau, wie viele Teppiche ich in den letzten Jahren schon ruiniert habe. Ich kaufe sie inzwischen im Dutzend und der Teppichhändler ist einer der ganz wenigen Menschen, die sich ehrlich zu freuen scheinen, wenn ich um die Ecke komme. Ich kaufe ihm die Ladenhüter ab, die er mir gerne und völlig überteuert überlässt. Mein Magenknurren dient mir als kostenloser Wecker und das leichte Sodbrennen gibt mir deutlich zu verstehen, dass Rotwein auf leeren Magen nicht die körperfreundlichste Art der Ernährung darstellt.

 

Ich erspare mir den Weg zum Kühlschrank, das Bild der tiefen Leere ist noch in meinem Kopf von gestern abgespeichert. Ich greife zum Telefon, schließe die Augen und lasse den Zufall entscheiden, welchen Lieferservice ich heute per Kurzwahltaste mit meinem Auftrag beglücke. Das Freizeichen ertönt und ich warte gespannt, dass jemand abnimmt. „Guten Tag, wir haben über die Feiertage geschlossen. Wir wünschen Ihnen ein frohes Fest und sind ab dem 27 wieder für sie da!“ Schlagartig wird mir bewusst, welchen Tag wir heute haben. Ich hatte es vollkommen verdrängt. Plötzlich tauchen Bilder von Menschen mit Geschenken unter den Armen auf. Am Kiosk um die Ecke wurde Glühwein statt Bier oder Schnaps getrunken. Über der Straße hing Weihnachtsbeleuchtung und an der Kreuzung am Büro stand tagelang ein Weihnachtsmann mit seiner nervigen Bimmel. All das hatte ich zwar am Rande wahrgenommen, mehr aber auch nicht.

 

Die letzten Wochen war ich mehr im Büro als zu Hause. Wo bekomme ich jetzt etwas zu Essen her? Meine Vorräte hatte ich schon lange aufgebraucht und aus Zeitmangel vergessen nachzulegen. Essen wird einem faktisch an jeder Ecke nachgeworfen, wozu noch Vorräte anlegen? Ich kann jeden Tag genau das Essen, wonach mir gerade der Sinn steht. Nur was esse ich jetzt? Ich zwinge meine Beine, den Weg zum Vorratsschrank einzuschlagen. Das Öffnen der Türen bringt wenig Überraschendes zum Vorschein. Eine Tube Senf, Gewürze, Kaffee, Tee, aber nichts wirklich Essbares. Ein Blick auf die Küchenuhr verrät mir, dass ich auf ziemlich verlorenem Posten stehe. In der unmittelbaren Umgebung lässt sich nichts mehr auftreiben. Ich überlege kurz, das Essen einfach ausfallen zu lassen und von meinen reichlich vorhandenen Körperreserven zu zehren. Verwerfe den Gedanken aber gleich wieder!

 

Zum einen habe ich eben erst etwas geschlafen und zum anderen, lässt mich die Arbeit im Kopf nicht los, sobald ich im Bett liege. Ich fange an, den nächsten Tag zu planen, um möglichst effektiv mein Projekt voranzubringen. Mir kommt das Datum meiner Deadline in den Kopf, ein Gedanke, der mein Wohlbefinden nicht gerade positiv beeinflusst. Wie von selbst setzten sich meine Beine wieder in Bewegung und folgen dem unsichtbaren Trail durch die Wohnung, den ich immer einschlage, wenn ich nachdenke. Manchmal bilde ich mir ein, dass sich der Weg am Boden schon beginnt abzuzeichnen. Irgendetwas sollte ich heute noch zu mir nehmen. Morgen könnte ich den Umweg über den Bahnhof nehmen, wenn ich ins Büro fahre, und dort sicher etwas Notdürftiges für die Feiertage auftreiben.

 

Doch was mache ich jetzt? Ich schaue noch einmal auf die Uhr. Bis auf die alte Dame von oben, scheiden die Nachbarn für mich aus, ich kenne praktisch niemanden und es ist auch schon spät. Zu mehr als einem flüchtigen „Hallo“ im Treppenhaus bin ich aufgrund meiner übertriebenen Kontaktfreudigkeit noch nicht gekommen. Die alte Dame ist bestimmt noch wach, jedenfalls erzählte sie mir neulich Abend, als ich tatsächlich mal etwas früher aus dem Büro kam, das sie bis in die Morgenstunden Fernsehen schaut, weil sie sonst nicht einschlafen kann. Seit ihr Mann verstarb, findet sie einfach keinen richtigen Schlaf mehr. Aber bei ihr klingeln, an Heiligabend und um die Uhrzeit? Vielleicht ist sie gar nicht da, oder hat Besuch? Das kann eigentlich nur peinlich werden, aber meine Optionen sind spärlich gesät.

 

Ich könnte eine Flasche Wein mitnehmen und ihr frohe Weihnachten wünschen und nebenbei fragen, ob sie mir mit zwei Scheiben Brot aushelfen kann. Habe ich eigentlich Geschenkpapier? Wenn ja, wüsste ich nicht wo! Mein Blick fällt auf die Weinkisten aus Holz mit dem wirklich guten Tropfen, den ich mir nur gönne, wenn ich einen Auftrag erfolgreich abgeschlossen habe. Das werden zwei teure Scheiben Brot geht es mir durch den Kopf. Ein Blick in den Spiegel verrät mir, dass ich so auf keinen Fall irgendwo klingeln kann. Der Geschmack in meinem Mund hat auch mit frische recht wenig gemeinsam. Ich entere das Bad und versuche das Gröbste zu retten. Wenn ich gerade schon dabei bin, ziehe ich auch noch den Rasierer durchs Gesicht, scheint in den letzten Tagen irgendwie untergegangen zu sein. Zehn Minuten später noch ein kurzer Kontrollblick und ein akzeptierendes nicken. Mehr ist nicht drin und ein Schönheitschirurg an diesem Abend bestimmt schwer aufzutreiben.

 

Die Treppen sind schnell genommen, wenn ich auch bemüht war keine Geräusche zu verursachen. Bevor ich klingele, lege ich mein Ohr an die Tür. Ich höre nichts, aber der Lichtspalt unter der Tür verrät mir, dass tatsächlich jemand zu Hause zu sein scheint. Ich sammle mich noch einmal und gehe im Kopf meinen Text durch. Ich komme mir plötzlich kindisch vor, was ich hier für ein Schauspiel abziehe um mir zwei trockene Scheiben Brot von einer Nachbarin zu ergattern, die meine Mutter sein könnte. Ich überlege, die Flasche Wein wieder nach unten zu bringen, will es dann aber doch lieber schnell über die Bühne bringen und klingle. Ich richte noch einmal mein Hemd und warte gespannt, dass mir geöffnet wird, aber nichts tut sich. Soll ich noch einmal klingeln oder ergebnislos das Weite suchen?

 

Mein Magen gibt mir prompt die Antwort. Ein knurren, das bis ins Erdgeschoss zu hören gewesen ist und bei den Tieren im Gebäude sicher einen Erdbebenalarm ausgelöst hat. Ich drücke zwei Mal auf den Klingel Knopf und lausche, wieder nichts. Ein ungutes Gefühl schleicht sich neben meinen Hunger in den Bauch. Nicht das der Guten an Heiligabend etwas zugestoßen ist! Ich klingele noch mehrmals und als ich das Ohr wieder an die Tür lege, höre ich wie entfernt eine Tür geöffnet und eine Person den Flur entlang läuft. Bevor ich noch den Kopf von der Tür abhebe, wird sie schwungvoll aufgerissen. Vor mir steht eine bezaubernde attraktive Frau, die ungefähr in meinem Alter ist. Mit langen in Wellen fallenden braunen Haaren und mit makelloser Figur, insofern man das so schnell überhaupt erfassen kann. Mein Kopf läuft rot an und ich fühle mich wie ein Streichholz, unten rum alles steif und oben rum brennt es. „Ja, bitte“, tönt eine warme und erstaunlich tiefe Stimme aus vollen, aber ungeschminkten Lippen, die mich anlächeln. Der Klang ihrer Stimme trifft genau meine Eigenfrequenz und regt mich dermaßen an, dass ich kurz das Gefühl empfinde auf der Stelle zu zerspringen. Ich bringe kein Wort hinaus und strecke instinktiv die Arme mit der Weinkiste in Richtung dieses weiblichen Juwels. Diese greift verwundert aber immer noch lächelnd zu „Für meine Mutter?“

 

„Das gibt’s doch nicht, gerade habe ich meiner Tochter von Ihnen erzählt und schon stehen Sie vor der Tür.“ Wie aus dem nichts, steht die alte Dame plötzlich neben ihrer Tochter. Erst jetzt erkenne ich die Schönheit in diesem bereits vom Leben gezeichneten Gesicht. „Wie?“, entfährt es mir sichtlich verdutzt, bevor ich mich wieder fasse „Entschuldigen Sie, dass ich so spät und unangemeldet an Heiligabend an Ihrer Tür läute, aber mir ist das Brot ausgegangen und da dachte ich, ich könnte im Tausch gegen etwas flüssiges Brot“, und zeige auf die Weinkiste „ bei Ihnen anklopfen und in diesem Zuge auch noch eine frohe Weihnachten wünschen!“, flüstere ich verlegen die Damen an. „Spielen Sie Skat?“, fragt die alte Dame. „Skat? Äh, ja“ antworte ich erstaunt. „Wenn Sie Lust und Zeit haben, kommen Sie doch herein. Mein Sohn hat uns kurzfristig krankheitsbedingt versetzt und uns fehlt der dritte Mann. Dabei kann man trefflich eine Scheibe Brot zu sich nehmen und noch einen guten Tropfen dazu schlürfen.“, zwinkert sie mir schelmisch zu, während sie schon nach meinem Arm greift und mich höflich, aber doch fordernd in die Wohnung zieht.

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