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Auf der Reeperbahn - Geschichten vom Erwachsen werden Teil 4


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Auf der Reeperbahn

Geschichten vom Erwachsen werden Teil 4

 

Der Herbst zog durch die Straßen. Eine Eisenbahn auf der Überholspur.

Er brauchte keine Schienen. Keine Kohle. Keinen Diesel. Er dampfte durch den Park und meine Gedanken und rollte durch mich hindurch.

 

Ich mochte den Herbst. Alles schien seinen rechten Gang zu gehen.

Das Leben wurde langsamer. Entspannter.

 

Meine Füße wollten laufen und so tat ich ihnen den Gefallen und ließ sie machen. Es fiel mir schwer Menschen um mich zu haben und so ging ich allein durch die Straßen und ließ die warme Luft an mir vorbeiziehen.

 

Die Sonne gab noch mal alles.

 

Warm und golden, wie flüssiger heißer Atem.

 

Klang, wie ein Song.

 

Mittlerweile spielte die Musik eine immer größere Rolle. Nur bei Michaela spielte ich die letzte Geige.

 

Irgendwie kam es nie zum Äußersten. Langsam beschlich mich das Gefühl, das da irgendetwas im Busch war. Ich wusste nur noch nicht was.

 

Die Schule begann mich nach den Sommerferien richtig zu nerven. Ich wurde langsam zu alt für Fragen, wie:

 

Hilft uns Pythagoras auch im Alltag bessere Arbeit zu leisten?

 

A: Ich hatte keine Ahnung, wer Pythagoras überhaupt war.

B: Nachdem Herr Mewes es erklärte, interessierte es mich noch weniger.

Was meinten sie mit Arbeit? Fußböden bohnern? Das übernahm mein Hamster.

Mein Alltag war auch ohne P. Schwierig genug. Ich sage nur M.

E: Konnte immer nur an verpasste Gelegenheiten denken.

 

Die Mädchen in der Klasse hatten sich verändert. Noch zickiger. Noch lauter. Noch nerviger. Noch runder an bestimmten Stellen. Einfach wunderbar.

 

Wir mochten es, wenn sie hinter uns her liefen, weil wir freche Sprüche klopften und wir mochten es, wenn sie uns Sachen klauten und wir versuchten sie ihnen wieder abzunehmen.

So gesehen lief es mit der Schule, in den Pausen, doch ganz gut.

 

Michaela meldete sich bei einem Sportverein an und da ging sie dann jeden Nachmittag, Montag bis Freitag von 14:00 bis 17:00 hin.

Soviel Sport konnte doch nicht gesund sein.

Wir fanden kaum noch Gelegenheit miteinander zu sprechen.

 

Ständig nörgelte an mir rum:

A: Ich wäre zu oft mit den Jungs unterwegs.

B: Einen Seitenscheitel fände sie blöd, weil ich damit wie Bauer Harms aussähe.

Meine Fingernägel seien zu lang oder zu kurz.

Nie ging ich mit ihr zu einer Vernissage.

 

Eine Vernissage? Leute! Ich schaute extra nach, was das überhaupt war und stellte fest, das sich da reiche Dummbrazzen aufhielten, die glaubten Kunst sei nur wertvoll, wenn sie 100.000.- Mark kostete.

 

Aber die Jungs und ich wussten natürlich, das Kunst nur aus dem Herzen kommen konnte. Nur das Herzklopfen zwischen Michaela und mir verpuffte einfach.

 

Noch vor 3 Wochen lachte sie über meine Witze. Jetzt gähnte sie bei meinen kleinen Einlagen und fand sie geschmacklos und langweilig.

 

Meine Freunde johlten weiterhin, weil ich, geistreich und amüsant, über die Lehrer herzog und sie in kleinen Spielszenen originell darstellte und besonders ihre kleinen Schwächen in den Vordergrund stellte.

 

Mein Ruhm, den ich mir durch die Festsetzung von Magnus und Piet erworben hatte, verblasste allerdings langsam.

Da half es auch nicht, immer mal wieder, wie zufällig, das Gespräch darauf zu bringen. Im Gegenteil. Es wurde behauptet. Ich würde mich nur in den Vordergrund drängen wollen.

 

Das stimmte natürlich, aber ich fand es blöd, das sie es so geradeheraus sagten.

 

Am 29.09.1976 wurde ich 14. Endlich. Die Hälfte von 28. Da würde ich dann schon in der Villa Kunterbunt vor der Stadt leben. Mit einem Caddy vor der Tür und einem Rolls in der Garage. Die Jacht dümpelte furchtlos auf dem Titicaca See in Südamerika vor sich hin und meine Füße baumelten im Pool von Onassis.

 

„Naja, oder du würdest zu Hause mit einer Tüte Chips und dickem Bauch deiner Mama weiterhin auf die Nerven fallen“, sagte Michaela.

Gefiel mir überhaupt nicht, wie sie mit mir redete. Und was sollte eigentlich >weiterhin< heißen. So, als wäre meine einzige Aufgabe auf dieser Welt andere zu nerven.

 

Dann noch diese Geschichte mit Achim. Hatte wirklich keine Lust mir anzuhören, das sein neuer Haarschnitt ihm Bombe stand oder sein Hund Gastritis hatte, was auch immer das bedeutete.

Mir ging es auch am Allerwertesten vorbei, das er sich mit seiner Katze gestritten hatte und die jetzt nicht mehr fressen wollte.

 

Wieso kümmerte sie sich eigentlich um Achim?

Und was war das überhaupt für ein Name?

 

Achim

 

 

Das klang eher nach Kotze. Oder einer ganz schlimmen Krankheit.

Oder nach Gastritis. Was immer das auch war.

 

Das regte mich so auf, das ich 20 Sekunden in eine Papiertüte atmen musste, um wieder klar zu kommen.

 

In der Deutschstunde schrie ich Uwe an, er solle aufhören Nietsche zu zitieren, sonst würde ich durchdrehen. Besonders, weil seine scharfe Kritik an Moral, Religion, Wissenschaft, Philosophie und Kunst mir aufs Gemüt drückte.

 

Alle schauten mich schockiert an und ich lief raus und riss einen jungen Baum aus dem frisch angelegten Schulgarten. Nach 3 Sekunden tat es mir leid und ich pflanzte ihn wieder ein.

 

Dann ging ich zurück und entschuldigte mein Verhalten mit einer akuten Gastritis Typ A, an der ich derzeit leiden würde, denn in der Bibliothek fand ich heraus, das dies eine schmerzvolle Magenentzündung war.

 

Alle schauten mich mitleidig an und meinten, es wäre schon ok.

Dadurch bekam ich tatsächlich Bauchschmerzen, weil ich sie anlog und sie so taten, als hätte ich tatsächlich Gastritis.

 

In der Pause trafen wir uns hinter dem Werkraum in der Raucherecke, um Rat zu halten und uns Riesenkracher reinzuziehen.

Die schleiften uns die Zähne ab und putzen uns den Rachen sauber.

Wir scharten mit den Hufen im Sand und keiner traute sich was zu sagen.

Endlich ließ Bert die Katze aus dem Sack:

 

„Du brauchst ein bisschen Abwechslung Alex. Wir wollen nach der Schule auf die Reeperbahn.“ ,sagte er.

„Reeperbahn?“ ,fragte ich ungläubig.

„Klar. Oder traust du dich nicht?“ ,gab er herausfordernd zurück.

„Logisch. War selber schon 3 mal da. Hab` da praktisch mein zweites zu Hause.“

„Na klar und dein Hamster bohnert auf dem Mond mit Spike die Fußböden.“

 

Wir lachten uns checkig, weil wir beide solche Schnacker waren.

 

Tag X des Abenteuers brach mit ungünstigen Vorzeichen an. Hatte in der Nacht zuvor von Elvis und Michaela geträumt, die auf der Reeperbahn, bei Glatteis, ein halbes Hähnchen aßen, das wie ich aussah.

Fühlte mich mega unsicher, ob es bedeutete, das ich ein armes Würstchen war, oder die beiden einfach nur Hunger hatten.

In jedem Fall wachte ich schweißgebadet auf und legte >Peacy in the Valley< von Elvis auf, um mich wieder zu beruhigen.

 

Im Englischunterricht schlief ich ein. Frau Raszikowa weckte mich unsanft und fragte mich irgendetwas mit unregelmäßigen Verben.

 

Ich bot ihr an, mich lieber nach dem Wohnort von Elvis zu fragen, denn darauf wüsste ich garantiert eine Antwort.

 

Da der Direktor mich lange nicht gesehen hatte, bot er mir gleich eine Tasse Tee an und wir kamen ins Plaudern.

 

„Wie läuft es so?“ ,fragte er mich so auf nett.

„Ach, ganz gut, wenn nur nicht dieses ewige Generve in der Schule wäre.“

,meinte ich genervt.

„Was denn zum Beispiel?“

„Na, Englisch zum Beispiel. Also für mich ist das Thema durch. Sollen die Engländer doch deutsch lernen und nicht umgekehrt.“

„Ja, gute Idee Meschke, aber wie willst du dann deine Texte von Elvis übersetzen.“

 

Ich überlegte eine ganze Zeit, doch es fiel mir keine passende Antwort ein, also sagte ich:

 

„Mein Name ist nicht Meschke.“

„Ich weiß. Aber da ich mir Namen ohnehin nicht merken kann, nenne ich einfach alle Schüler so. Also, nimm es nicht persönlich.“

„Wie läuft es mit Frau Mutzenbacher?“ ,fragte ich interessiert.

„Das Projekt ist abgeschlossen. Widme mich nun Seidenraupen, um mir einen eigenen Kaftan zu weben.“ ,sagte er voller Stolz.

„Einen Kaftan!?“ ,wiederholte ich und konnte einen gewissen Spott nicht unterdrücken.

„Ja. Ein langes Gewand, das in der Hüfte mit einem Gürtel......“

„Ja. Ich weiß was ein Kaftan ist.“ ,unterbrach ich ihn. „Aber warum kaufen sie sich nicht einfach so ein Teil, das geht doch viel schneller.

„Das stimmt Meschke, aber es geht um die Freude des Entstehungsprozesses.

So, wie es Elvis nie darum ging viel Geld zu verdienen. Das war immer nur Mittel zum Zweck. Es ging darum kreativ zu sein und etwas zu erschaffen.“

 

Boah, wie das nervte. Er schaffte es immer wieder mir etwas spannendes und schlaues zu erzählen, das Hand und Fuß hatte.

 

„Jo, ich muss los.“ ,sagte ich, völlig frei von jeglicher Intelligenz.

„Ok. Und sei etwas netter zu Frau Raszikowa. Sie gibt sich wirklich Mühe.“

„Geht klar. Ich sehe sie morgen Herr Direktor.“

„Nicht, wenn es nicht unbedingt sein muss, Meschke. Du weißt ja die Raupen.“

„Sicher. Sicher.“ ,rief ich im rausgehen.

 

Irgendwie `ne coole Socke, dachte ich und stolperte in die Arme eines Mädchens.

Isabell. Braune, lockige Haare. Grün-metallig-glänzende Augen und eine Hammerfigur. Ich konnte die Träger ihres BH`s durch den dünnen Pullover genau erkennen. Die Nähte ihrer Hose waren aufs äußerste gespannt. Genau wie ich.

Die kleinen, niedlichen Ohren hatten bestimmt schon tausend Komplimente gehört.

 

„Na.“ ,sagte ich.

„Und?“ ,fragte sie.

„Wie jetzt?“ ,gab ich verwirrt zurück.

„Was willst du?“

„Ähhhh. Nichts.“ ,antwortete ich verblüfft.

„Warum sprichst du mich dann an?“

 

Ja. Das war eine gute Frage. Darauf gab es natürlich nur eine Antwort:

 

> Du bist total schön. <

Das sagte ich natürlich nicht.

 

„Also, ich mache hier grad` ein Interview für die Schülerzeitung und du gehörst genau in unsere Zielgruppe. Es geht um Mondlandungen während der Sommerferien.“ erklärte ich selbstsicher.

Sie drehte sich wortlos um und ging weg.

Boah, da bin ich nochmal ganz geschmeidig und elegant aus der Nummer raus gekommen. Beinah hätte sie mich für einen kompletten Idioten gehalten.

 

Hannes, der sich vor langer Zeit aus unserer Truppe abseilte, winkte mir aufgeregt vom anderen Ende des Ganges zu.

Sein schlabber Look schien aus einer anderen Welt oder der Müllkippe zu kommen.

In der Hand hielt er eine Kette mit hölzernen, kleinen Kugeln die er unablässig durch seine Finger gleiten ließ.

Seine Haare wuchsen kreuz und quer auf seinem Kopf und er machte keine Anstalten sie schneiden zu lassen.

Seit 3 Monaten trug er ein speckiges Stirnband auf dem >Mao< stand.

 

Als ich ihn das erste mal damit sah und ihm sagte, da würde jemand kein Deutsch verstehen, denn das Wort hieße ja wohl Majo und nicht Mao, sprach er 4 Wochen kein Wort mit mir.

 

Danach hielt er mir einen Vortrag über die Kulturrevolution in China und das wir uns noch alle umschauen würden, was in Hamburg so alles passieren konnte.

Die Bonzen und Industriellen könnten es gar nicht abwarten uns unter das Joch der Unterdrückung zu zwingen und auszubeuten.

 

Ich hatte keine Ahnung wovon er sprach und was er überhaupt von mir wollte, also nickte ich und versprach ihm, am nächsten Tag mit ihm und den anderen Müllsammlern auf eine Demo zu gehen.

 

Dann lud ich ihn zu Pommes mit Ketchup und Majo ein.

 

Als ich aber bemerkte das Mao auf Pommes das Beste sei, wollte er mir eine knallen. Konnte ihn nur durch eine weitere Cola beruhigen.

 

Aber zurück zu Isabell. Die kam aus Bayern und war seine Kusine.

Ihre Eltern zogen nach Hamburg, weil der Vater einen Job in der Werft bei Bloom und Voß annahm und dort als Ingenieur arbeitete.

Die bauten dort die ganz großen Pötte. Der Hannes durfte mal mit und gab, wie Graf Koks, damit an. Wir waren alle neidisch und machten uns bei ihm lieb Kind, um auch eingeladen zu werden.

Daraus wurde leider dann doch nichts, denn der Hannes hatte uns angelogen.

Ihr Vater arbeitete beim Köhler Franz in der Frittenbude.

 

Wenigstens gab es hin und wieder Pommes umsonst, sonst hätte Hannes für 3 Wochen auf die Ersatzbank gemusst. Denn Lügen unter Freunden ging gar nicht!

Diese Isabell jedenfalls, war schon 15. Das fand ich gut. Ich stand auf ältere Mädchen. Jedenfalls, seit ich sie sah.

 

Sie trug kurze Röcke und die Jungs und ich nahmen unser altes Ritual wieder ins Programm und versuchten herauszufinden, welche Farbe ihre Unterhose hatte.

 

Von 5 Runden gewann ich 4 und stieg somit vom Außenseiter zum Champion auf.

 

Ich versuchte sie einzuladen, aber sie lehnte jedes Angebot kategorisch ab:

 

A: Zum Eis eingeladen – ABGELEHNT!

B: Rollschuhbahn - ABGELEHNT!

Stepptanzen - ABGELEHNT!

Yoga - ABGELEHNT!

E: Welpen gucken - ABGELEHNT!

 

Über mein Vorgehen bei älteren Mädchen, musste ich wohl noch mal nachdenken.

 

Und da ich gerade dabei war, also beim Nachdenken, überlegte ich, ob es Gott etwas ausmachte, wenn ich tot wäre.

Ich schaute also mal in der Bibel nach, kam aber irgendwie nicht damit zu recht und verschob es auf den ersten Sabatt im Monat.

Das ist bei den Juden der siebte Wochentag und ein Ruhetag.

 

Michaela sah ich immer seltener und wenn, sprach sie nur von diesem Achim.

Ich konnte es nicht mehr hören!

Achim, war gleichbedeutend für mich mit Halsschmerzen und Drüsenfieber.

 

Drehte langsam am Rad.

 

Bert hatte recht! Ich musste mich ablenken.

 

Wir trafen uns um 14:00 Uhr Ortszeit vor der alten Kaserne unter der Linde.

 

Uwe, Thomas, Bert, Hannes und ich.

 

Mittlerweile nannten wir uns Kobra Gang. Komplett mit Blutschwur und Mutprobe.

 

Wir ritzten uns den Daumen und pressten unseren blutigen Fingerabdruck unter eine Schriftrolle. Das schien uns nur recht und billig, denn in unseren Herzen waren wir Rebellen, die sich nicht unterdrücken ließen.

Weder von Bonzen, noch von der Lakritz Mafia. Wir durchschauten das System.

Wir sind das Proletariat, sagte Hannes. Nur ohne Bärte.

Und weil wir so cool waren, schrieben wir unsere Magna Carta:

 

Hiermit schwören wir, den Geknechteten beizustehen.

Den Anderen niemals vor Mädchen bloßzustellen.

Cola und Riesenkracher immer zu teilen.

Magnus und Piet niemals nicht zu erwähnen.

Jeden Tag Spaß zu haben und ehrlich zu sein.

Keine Mädchen zu Treffen mitzubringen.

Niemals die Ex Freundin des Freundes daten.

 

Die Kobra Gang

 

 

Bert wurde kreidebleich, als Uwe ihm in den Daumen schnitt.

 

Da ich vor drei Tagen eine Sanitäter Ausbildungsdokumentation gesehen hatte, wusste ich genau was zu tun war:

 

Auf den Rücken legen und Beine anheben!

 

Musste mir natürlich sofort anhören, das Michaela mir das beigebracht hätte.

Konnte darüber überhaupt nicht lachen, tat aber so, als wäre es superwitzig, um mir nicht noch mehr Sprüche rein drücken zu lassen.

 

Wir flößten Bert eine Flasche Cola ein, damit er wieder fit wurde.

 

Bei Herrn Schlichting kauften wir einen großen Aufnäher, der eine Kobra darstellte und unsere Mütter mussten die auf unsere Jacken nähen.

 

Ich besaß eine aus schwarzem Lederimitat, mit der amerikanischen Flagge auf dem Ärmel. Damit war ich eindeutig der Chef in unserer Gang.

 

Logisch.

 

Im nächsten Jahr wollten wir uns Mofa`s wünschen und sie zu Choppern umbauen, damit wären wir die Könige in unserem Viertel und niemand würde es wagen Witze über uns zu machen oder uns auch nur schief anzusehen.

Logisch

 

Musste die ganze Zeit an Isabell und Michaela denken.

Das war total nervig und machte mich ganz brummkreiselig.

Ich hoffte durch unseren Trip auf die Reeperbahn, den Tsunami in meinem Herzen besänftigen zu können.

 

Endlich ging es los und wir fuhren Richtung Abenteuer. St. Pauli stiegen wir aus und schlenderten um 16:32 über die sündigste Meile der Welt, wie mein Opa sie immer nannte.

 

Gleich vorne an, gab es einen Sex Shop der wohl seine besten Tage schon hinter sich gelassen hatte. Die abblätternde Wandfarbe döste willenlos vor sich hin, während tote Insekten hinter dem staubblinden Fenster auf eine Wiederbelebung warteten.

Aber auch, wenn sie im Konfirmandenunterricht immer behaupteten, das Himmelreich Gottes sei nah, glaubte ich keinen Moment an diesen Blödsinn und hoffte nur auf das Ende und dem daraus folgenden Geldsegen der Verwandten.

In der Auslage fristeten, neben den steifen Fliegen, ein paar leblose, vergilbte und ausgefranste Zeitschriften ihr Leben und warteten auf bessere Zeiten, die es wohl nie gegeben hatte und die auch nie kommen würden.

 

Doch direkt daneben gab es einen Buchladen. Genauso dreckig, aber voller Leben und Musik. Dort gab es die tollsten Sachen. Eine verrostete Trompete, die über Jahrzehnte alter, mit Patina bedeckten Schätzen schwebte.

 

Im Schaufenster sah ich ein Buch von Arnold Shaw.

 

Rock`n Roll. Die Stars, die Musik und die Mythen der 50er Jahre.

Das musste ich haben.

Allerdings kam man nur durch den Eingang des Sex Shops zum Buchladen. Egal.

 

Meine Gang Mitglieder hielten mich für verrückt, als ich einfach so rein stolzierte. An Gummipuppen und sabbernden alten Männern vorbei lief und

20 Sekunden später mit meiner Trophäe wieder draußen vor der Tür stand.

 

„Du bist ja voll krass drauf Alter.“ ,meinte Hannes und zückte aus seiner Hosentasche 5 zerdrückte Zigaretten die er seinem Vater geklaut hatte.

 

Wir lehnten entspannt an der Mauer und pafften, bis sich ein pelziger Geschmack auf unsere Zungen legte.

 

„Ja. Das ist Freiheit.“ ,meinte Bert.

„Sagt Dr. Marlboro.“ ,lachte Uwe und inhalierte den Rauch, bis seine Lungen Halleluja schrien und er, wie eine alte Lokomotive, keuchte und hustete.

Der Ladenbesitzer kam raus und jagte uns weg. Wir liefen um die Ecke und stolperten über einen Mann mit einem blauen Anzug, aber ohne Schuhe, der regungslos da lag und sich auf seinem blauen Hemd übergeben und es braun gefärbt hatte.

 

Seine unbestrumpften Füße sahen schrecklich aus. Verkrustetes Blut mit wundgelaufenen Stellen zeigten, uns das er um die halbe Welt gelaufen und hier gestrandet sein musste.

 

„Der kommt sicher aus Amerika.“ ,stellte ich fest.

„Ja. Das sieht man an dem Anzug. Das ist Seide.“ ,sagte Hannes.

 

Ich dachte an unseren Direktor. Vielleicht verkaufte er ihm diesen blauen Anzug und bekam als Gegenleistung die Adresse der Frau Mutzenbacher.

 

„Ne, Jungs. Das ist ganz klar einer der Luden. Den hab`n sie fertiggemacht.“

,meinte Uwe.

„Fertiggemacht? Lude?“ ,fragte ich.

„Klar Mann. Ein Lude lässt die Frauen für sich laufen und kassiert sie ab.

Hat mein Bruder mir erzählt. Dann gab es sicher Ärger mit einer anderen Gang und dann voll auf die Fresse.“

 

Ich bekam es mit der Angst, aber gleichzeitig durchströmte mich auch das Abenteuer. Voll auf die Fresse. Das schien mir ein guter Titel für eine Geschichte über die Reeperbahn zu sein.

 

„Äh. Ja. Ok. Sollten wir dann nicht lieber weiter?“ ,gab Bert mit zittriger Stimme von sich.

„Aber vielleicht ist er tot, dann muss Alex Erste Hilfe leisten.“ ,sagte Thomas.

„ICH?“ ,rief ich entsetzt.

„Na klar. Du bist doch hier der Spezialist, wenn es um Verletzungen und Verstümmlungen jeglicher Art geht.“ ,fügte er hinzu.

 

Aus der Nummer kam ich wohl nicht raus und ging zu dem Mann hinüber.

Der stöhnte plötzlich auf und setzte sich hin.

 

Wir schrien, wie 12 kleine Mädchen und liefen weg.

 

„Hab ich doch gesagt. Alex bringt Tote aus dem Schattenreich zurück ins Leben.“ ,lachte Uwe.

 

Wir legte zusammen und kauften mit unserem letzten Geld 2 Cola und eine Pommes rot-weiß.

Danach fühlten wir uns besser. Aus einem Schuppen, der Star Club hieß, dröhnte eine verzerrte Gitarre. Wir blieben vor der halbgeöffneten Tür stehen.

 

Hannes schlich sich als erster rein. Mit angehaltenem Atem folgten wir, wie betäubte Kinder dem Rattenfänger von Hameln.

Diese wundervollen und schrägen Töne zogen uns in ihren Bann.

Es roch merkwürdig in dem Schuppen. Parfüm, wie Kinder es sich selbst zurecht mischen, um wie erwachsene Frauen zu riechen. Zigarettenqualm und der Geruch von Klosteinen waberte durch den schmalen Gang.

 

Endlich kamen wir in einen größeren Raum.

 

Vor einer kleinen Bühne saßen an einem großen Holztisch fünf Männer. Die waren über und über mit Goldketten behängt und trugen die neuesten Klamotten.

Sie rauchten Zigarren und tranken Whiskey aus schweren Kristallgläsern. Sie lachten und rissen Witze, die wir nicht verstanden.

 

Auf der Bühne stand ein langhaariger Typ mit Cowboyhut und ließ die Bude mit seiner Gitarre und Reibeisenstimme erzittern.

 

„Hey Eddie, spiel was von Elvis!!!“ ,schrie jemand, den alle Rocky nannten.

 

Eddie schlug in die Saiten und haute Jailhouse Rock raus. Sie warfen ihm Geldscheine vor die Füße und johlten und gröhlten mit.

 

Wir schlichen uns in die dunkelste Ecke, damit wir nicht entdeckt wurden.

 

„Oh Mann, wisst ihr wer das da oben ist?“ flüsterte Hannes.

„Deine Mama.“ ,kicherte Bert.

„Nein. Das ist Herr Pumpelmeier mit Perücke.“ ,stellte Hannes fest.

 

Tatsächlich. Herr Pumpelmeier.

 

Der gleiche Herr Pumpelmeier der am Samstag immer in den Ring stieg und die Leute verprügelte. Der, den alle ehrfürchtig nur den Würger nannten.

 

„Das ist soooooooooooooooooo cool!!!!!!!“ ,riefen wir so leise wir konnten.

 

Genau das wollte ich auch. Auf der Bühne stehen und tausend Mädchen die vor Begeisterung schrien und mir Teddybären zuwarfen.

Dann würde Michaela nicht mehr von Achim reden, sondern nur noch von mir.

Aber dann konnte sie mir gestohlen bleiben. Uuuuuund Tschüß!

Gerade als Eddie Maybellene anstimmte, wurden wir am Schlawittchen gepackt und rausgeworfen.

 

Draußen rannten wir bis zur nächsten Kreuzung und beglückwünschten uns für dieses famose Erlebnis.

 

Hannes meinte, wir sollten uns auch Zigarren besorgen um das richtig zu feiern.

 

Ich sagte, davon sei ich ab, weil ich ein großer Rock `n Roll Star werde wolle.

 

Stille.

 

Alle schauten sich ungläubig an.

 

Dann lachten sich alle schlapp und schlugen mir auf die Schulter. Sie hielten das wohl für einen großen Witz.

 

„Ihr Idioten. Ich meins ernst.“ ,schrie ich.

„Mensch Alex. Du spielst doch nicht mal Gitarre und singen kannst du auch nicht. Erinnerst du dich noch an den Musikunterricht, als du....“ ,sagte Thomas.

„Na und. Was interessieren mich die Sprüche von gestern. Das Jetzt ist doch wichtig. Seid ihr blind? Das ist doch genau unser Ding. Eine Rock`n Roll Band.“

„Ja. Wär schon cool.“ ,stellte Uwe fest.

„Mein Opa hat ein Akkordeon.“ ,beteiligte sich Bert.

„Kannst du das Ding spielen?“ ,fragte Hannes.

„Nö, aber kann ja nicht so schwer sein. Mein Opa ist 80 und spielt immer noch.“

„Wir sind eine Band und nicht die Wildecker Herzbuben.“ ,zickte ich.

„Ich kann Schlagzeug spielen. Übe oft auf den Töpfen meiner Mutter.“

,sagte Hannes.

„Ich besorg mir einen Bass.“ ,meinte Uwe.

„Klasse. Willst du die im Chor mitsingen Bert? Wir brauchen dich.“ ,fragte ich.

„Geht klar. Mein Bruder war 3 Monate im Frauenchor der Harmonia, der kann mir ein paar Tricks zeigen.“

„Sag mal, die Isabell kann doch Gitarre spielen.“ ,sagte Thomas.

„Ein Mädchen?“ ,zweifelte ich.

„Na klar. Mädchen sind doch eine Bereicherung. Außerdem haben ihre Eltern einen Party Keller. Da können wir bestimmt üben.“

 

Das brachte den Ausschlag.

 

Am nächsten Tag machte Michaela mit mir Schluss. War mir ganz recht.

Damit hatte Achim sie am Hals und ich musste mir nicht mehr anhören, das ich ein Träumer war.

Außerdem fand ich jetzt sowieso keine Zeit für diese Dinge. Wollte mich ganz auf meine Karriere konzentrieren.

 

In der Sportstunde wählte ich Isabell in meine Völkerball Gruppe und zeigte mich von meiner Gentleman Seite.

Komischerweise kam das gut an. Da ich gerade auf der Überholspur war, lud ich sie zu einem Hot Dog in Oma`s Schlemmerparadies ein.

 

Nachdem wir 10 Minuten über die Lehrer gehetzt hatten, ließ ich die Katze aus dem Sack:

 

„Du hast die Möglichkeit in meiner Band mitzuspielen.“

„Wie heißt die ihr denn?“ ,fragte sie.

„Die Downtowns.“ ,gab ich stolz von mir.

„Oooooooookay. Wie wäre es mit die Meschkes?“

„Warum nicht gleich die Adams Family?“ ,meinte ich genervt.

„Oder, die Goldkehlchen?“ ,konterte sie und lachte sich scheckig.

 

Erst da merkte ich das sie mich auf den Arm nahm.

 

„Also. Ihr wollt, das ich in eurer Rock`n Roll Band Gitarre spiele und meinen Keller dafür zur Verfügung stelle, dann darf ich auch den Namen aussuchen.“

 

Mann. Ein eisenharter Verhandlungspartner.

Ich stimmte zu. Was blieb mir übrig?

 

„Wir nennen uns die Uptowns!“ ,rief sie.

 

Zum Abschluss gaben wir uns die Hand. Danach umarmte ich sie und sie stieß mich weg.

 

Alles klar.

 

Und schon war ich wieder

verknallt.

Das würde ein großartiger Herbst werden.

Der großartigste den diese Welt je gesehen hatte.

 

Mann, war ich ein Glückskind!

 

 

Mai 2020 von Axel Bruss

 

 

 

 

 

 

 

 

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