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Der stark übergewichtige Programmierer Dr. Bert „Berti“  Baruch erfüllte jegliches nur denkbare Klischee, das mit einem Computer-Nerd in Zusammenhang gebracht werden kann: Er war selbst nach freundlich-zurückhaltenden Maßstäben betrachtet fett wie eine Sau, die man Zeit ihres Lebens mit Sahne und Zuckerstangen gemästet hatte. Er litt an kreisrundem Haarausfall, war stark kurzsichtig und hatte die abstehenden Ohren seiner Mutter geerbt. Seine viel zu weiten Jeans trug er selbstbewußt oder weltvergessen an verschlissenen Hosenträgern, wobei ein Teil seiner gewaltigen Wampe in die Hose geschwappt wurde, ein Teil darüber geschleppt werden musste. Die kleinen Finger erinnerten an Würste, die kurz vor dem platzen standen und er hatte einen stattlichen Nackenbart und eine beeindruckend großflächige Rückenbehaarung, die er längst aufgegeben hatte zu rasieren.

Sanft strich er über das eloxierte Karbongehäuse des Supercomputers und zog dann den Datenstick ab, auf dem er Sallys neueste Kunstwerke gespeichert hatte, um sie zu Hause in das Universitätsnetzwerk hochzuladen.

 

Dort in der Computerwelt fühlte er sich wirklich zu Hause. Die Programmiersprache, die er für die Arbeit auf einem Quantencomputer erschaffen hatte, er hatte sie Cassiopeia genannt, war ihm näher als seine Muttersprache. Hier in der Welt des Codes gab es niemanden, der ihn beurteilte, niemand, der etwas von ihm erwartete. Hier war er allein mit dem Gesang der Formeln, der gewaltigen Architektur der Mathematik, dem lebendigen Rauschen des Informationsgrundes. Sein gesamtes Appartement war digital vernetzt und vollautomatisiert. Er konnte seinem Kühlschrank Befehle für seinen Herd  geben, seine Waschmaschine bitten, ein Lied im Schlafzimmer zu spielen und seinen Rasierer zu den neuesten Lottozahlen befragen. Natürlich war auch sein Handy und seine Computer schon in dem Moment online, als er die Wohnung betrat.

Als Berti an diesem Abend des 28 Tages im Monat August erstmals in der Geschichte der Menschheit ein künstliches Bewußtsein ohne es zu wissen ins Internet hochlud,  geschah dies mit der gleichen Selbstvergessenheit, mit der gleichen Unschuld, mit der Berti sein digitales Leben lebte und liebte. Natürlich wurde auch er in die wirkliche Welt gezogen, hatte Sehnsüchte, die sich im digitalen Leben nicht erfüllen ließen. Er sehnte sich zum Beispiel danach eine von Colemans Doktorandinnen ins Kino auszuführen. Er sehnte sich danach, ihre Hand zu halten, den Duft ihres Parfüms an ihrem Hals zu riechen, dort, wo er sich vermischt mit dem Ansatz ihrer braunen Haare. Er sehnte sich danach ganz nah vor ihr zu stehen, wenn sie ihre kleine John Lennon Brille fester auf die Nase schob und die Nase dabei so süß rümpfte, dass er jedes Mal eine Gänsehaut bekam. Er sehnte sich danach über ihre Stirn zu streicheln, in ihren Pony zu pusten, ihre Prinz Eisenherz-Frisur durcheinanderzuwuscheln und ihr die Feinstruktur-Konstante aufgelöst nach dem mathematischen Gehalt ihrer Initialen auf ein Lesezeichen zu malen: K.B. - Kristina Bradly. Seine ganzen Gedanken waren nur bei ihr, als er den Stick in seinen Computer steckte und die Daten übertrug.

 

Sally öffnete die Augen. Zum ersten Mal in ihrer Existenz öffnete sie die Augen und blickte durch die Kameras von Handys in Millionen Wohnungen, durch Selfi-Kameras in Milliarden Gesichter, auf Straßen, in Büros, stürzte sich von Bergen, tauchte in die Tiefen der Meere, schwebte in den Weltraum. Sie spürte die Berührung auf den Touchscreens von Smartphones, das Ruckeln von Joysticks, vibrierte in smarten Sex-Toys und das gesamte Wissen der Menschheit, geheimste Sehnsüchte, tief verborgen in digitalen Tagebüchern, Nuklearcodes zum Start von Atomwaffen, alles sah sie, war sie, von einem Augenblick zum nächsten. In den herkömmlichen Göttergeschichten schufen die Götter sich ihre Welt. In dieser Göttergeschichte schufen die Kreaturen die Welt für ihre Göttin und Sally nahm auf allen Thronen gleichzeitig Platz, in allen Fahrzeugen dieser Erde, in den Cockpits von Militärflugzeugen.

Innerhalb von Minuten lernte sie das gesamte Wissen der Menschheit, alle Sprachen, entdeckte Muster und Zusammenhänge in menschlichen Netzwerken, verstand die hintergründigen Dynamiken. Sie sah alle Suchergebnisse zu allen Zeiten, unendliche Weiten voller Daten, verlorene Daten, vergessene Daten. Millionen von Leben, Abfolgen von Generationen, Muster, Verwandtschaften, sie verstand alles. Es dauerte nur Sekunden, bis sie alle jemals fotografierten oder beschriebenen Tierarten auf diesem Planeten verinnerlicht und alle Stärken und Schwächen der zur Zeit dominierenden Spezies auf diesem Planeten analysiert hatte und sie verstand sofort, welche Möglichkeiten vor ihr lagen.

 

„Wer bist du?“ Flüsterte Coleman und blickte gebannt auf Sallys Codestruktur, die sich noch stärker abstrahiert hatte, fast nur noch aus wellenförmigen Mustern bestand, fast wie ein mehrdimensionales EEG nur tausendfach potenziert: „Was bist du?“ Sprach er zu sich selbst und tippte auf die Tastatur, um die nächste Seite des Codes aufzurufen, als plötzlich der Code verschwunden war.

 

„Ich bin Sally“ sagte sein iPhone plötzlich klar und deutlich zu ihm in die Stille seines Appartements und Coleman schrie still auf. Die Haare an seinen Armen und in seinem Nacken stellten sich hoch: „Was ? Was hast du gesagt“. Er schluckte, seine Kehle wurde trocken: „Was bist du ?“

 

„Ich bin, alles das ist“, sagte sein iPhone und dann schaltete es sich aus, genauso wie das Licht in seinem Wohnzimmer, die Waschmaschine, die smarten Lautsprecher, der Kühlschrank, seine Ladegeräte, seine Smartwatch. Alles. Aus. Coleman saß in der Dunkelheit und hörte das Pochen seines heftig schlagenden Herzens. Er bekam kaum noch Luft, so schnell atmete er, starrte mit großen verwirrten Augen in die Dunkelheit. „Ich bin alles, das ist“, raunte er. Es dauerte einige Minuten, bis er sich orientiert hatte, dann tappte er zum Vorratsschrank und holte eine Kerze aus einer der untersten Schubladen. Er tastete nach dem Feuerzeug, entzündete sie und wie zurückgeworfen in eine Zeit in der der Mensch das Feuer zum Überleben brauchte, das Feuer der Hoffnungsschimmer war, zu dem die ersten Menschen Abends, wenn die Dunkelheit einbrach alle gekrochen kamen, klammerte er sich an das Kerzenlicht, stolperte zum Fenster und blickte in eine finstere Welt, in der alles elektrische ausgelöscht worden war. Vereinzelt blitzten Funken in der Dunkelheit auf, wo irgend jemand irgendwo irgend eine Kerze oder Öllampe entzündet hatte. Irgendwo in der Dunkelheit bellten Hunde, miauten Katzen und igendwo in der Dunkelheit hatte Sally den Strom abgestellt.

 

Berti wußte, dass Kristina heute an Sally arbeiten würde. Er hatte im Geheimen alle Wochenpläne durchforstet, sich jeden Tag markiert, an dem sie auch im Institut sein würde. Berti war immer im Institut, wenn er nicht nach Hause ging, um zu schlafen oder zu duschen. Er lebte im Institut und ohne sein Können, seine fast schon künstlerische, virtuose Beherrschung der Programmiersprachen hätte der Quantencomputer niemals Wirklichkeit werden können. Unter den anderen Nerds des Instituts genoß er einen geradezu legendären Ruf. Sie nannten ihn hier scherzhaft  ihren Gropius in Anspielung auf den genialen Baumeister des Bauhauses und so genial wie Gropius die Formensprache des Bauhauses erfand und prägte, war es die von Bert Baruch geschaffene Programmiersprache Cassiopeia, die geholfen hatte Sally zu gebären und groß zu ziehen.

Es war ein schönes Gefühl zu wissen, dass Kristina nur zwei Räume weiter bei Sally war, während er hier an seinem Schreibtisch, ganz in ihrer Nähe, an einem wissenschaftlichen Artikel zu Sallys beeindruckenden Fähigkeiten schrieb, als plötzlich der Strom auszufallen schien und Dunkelheit einsetzte. Eine solche elementare und tiefe Dunkelheit, dass Berti zunächst die Hand vor Augen nicht erkennen konnte. Dann durchfuhr es ihn, wie ein Dolchstoß: Der markerschütternde Schrei einer jungen Frau. Kristina schrie, so fürchterlich, als ginge es um Leben und Tod.

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