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Schmuddelkind

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Blogeinträge erstellt von Schmuddelkind

  1. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ob ich viel trinke? Ich komme über die Runden. Ganz gleich, was ich jetzt anfange, es kann mir nichts bringen, was über den Erhalt einer kurzen Perspektive hinausgeht. Dabei ist mir doch nichts ferner! Was ist das Leben denn anderes, als ein langsames Dahinsiechen? Und ist es nicht eine ungeheuerliche Frivolität, jemandem eine Perspektive zu geben? Alles ist eine nackte, unüberwindliche Notwendigkeit.
     
    Du hast gefragt, was denn wichtig sei und dabei deinen Vorwurf gut versteckt. Daher will ich dir eine Gegenfrage stellen: Ist es nicht so, dass die meisten Menschen die wichtigsten Dinge nebenbei tun?
     
  2. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    "schlaf schön, Liebster" - "Liebster"! Das ist ein neues Wort und eine neue Welt. Oh, wie ist mir Vieles so anders, seit sie dieses Wort geschrieben hat! Wie bin ich mir mit einem Mal selbst so wertvoll, da ich weiß, dass ich ihr Liebster bin! Wie sich ein Heiliger fühlt, das kann nur wissen, wer von einem Engel erwählt wurde. Ich verstehe nichts und umarme alles!
     
  3. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    gnadenlos ist die Einsamkeit! Ihre Großmutter liegt im Krankenhaus und Sanny fuhr merklich besorgt 200 km, um sie zu besuchen. Ach, diese gute Seele! Eben schrieb sie mir ausführlich und jeder Gedanke, den sie äußert ist voller Anteilnahme für das ernste Schicksal der alten Frau, die einer der wertvollsten Menschen in ihrem Leben ist und dennoch hat sie, mit ihren eigenen Sorgen ringend, auch meine Sorgen im Blick. Unterwegs schrieb sie mir noch, dass sie an mich denke, obwohl sie doch so ungern unterwegs schreibt, wo sie nur schwer zu der Ruhe findet, die sie beim Schreiben braucht. Da ahnte ich, wie wichtig ich ihr sein muss und wünschte mir, es gäbe diesen traurigen Anlass nicht.
     
    Als sie mir die Szene schilderte, wie sie in das Krankenzimmer kam, erschrocken darüber, wie schwach ihre Großmutter da lag und doch nahm meine starke Sanny alle Kraft zusammen, um ihr einen angenehmen Nachmittag mit ihren Liebsten zu ermöglichen, wie sie vor Bekümmertheit beinahe zitterte, sich jedoch nichts anmerken ließ und die Hand der guten Frau hielt, um ihr etwas von der Ruhe und Wärme zu schenken, an der ich schon so oft dankbar teilhaben durfte, da stiegen mir die Tränen in die Augen, fast als ginge es um meine eigene Großmutter. Von ihrer Aura bin ich nun schon so sehr gefangen, dass mir oft in den Sinn kommt, wir seien untrennbar, obgleich wir einander noch nie sehen durften.
     
    Ach, wie gerne wäre ich jetzt bei ihr und hielte sie in meinen Armen, da ich ihre Einsamkeit erlebe und ihre Tränen auf meinen Augen spüre! Arm ist der Mensch, der nicht helfen kann.
     
  4. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    wie habe ich mich gefreut, dich eher wiederzusehen, als ich es erwartet hatte, auch wenn ich die Umstände, die dies ermöglicht hatten, gerne gemieden hätte! Nur, man kann sich seine Umstände nicht zurechtlegen. Ich kann wohl sagen, dass die Tage der Heimat mit all ihren sorglosen Erinnerungen, der Freundschaft und wohl auch des regelmäßigen Essens mich gekräftigt haben.

    Heute erst, nach meiner Rückkehr, habe ich Sanny von meinem Schwächeanfall berichtet. Zuvor hatte ich ihr nur in aller Eile geschrieben, dass ich für ein paar Tage nicht erreichbar sein würde, da ich vor meiner zügigen Abreise keine Gelegenheit gesehen hatte, ihr alles ausführlich darzulegen und jede halbgare Erklärung hätte sie wohl nur beunruhigt. Da hat sie mich, nachdem sie sich nach meinem Befinden erkundigt hatte, so liebevoll gescholten und mir gestanden, sie habe sich gerade daher Sorgen gemacht und sie pochte darauf, dass ich sie, wenn ich ihre Hilfe brauche, jederzeit anrufen solle, selbst wenn es nachts um drei sei.

    "Aber jetzt gehen die Empfindungen mit mir durch", entschuldigte sie sich sogleich ebenso liebevoll: "Da mache ich dir Vorwürfe, wo du meinen Trost bräuchtest! Ich bin froh, dass du wieder da bist! Es war ganz schön leer ohne dich und mein Telefon ist schon ganz kalt geworden." So sehr ich mich nach ihren innigen Worten verzehrte, denn auch ich muss zugeben, dass ich ohne Sanny nebensächlich war und nur die Spaziergänge mit dir darüber hinwegtäuschen konnten - beinahe wäre mir unwichtig gewesen, worüber sie redete, da meine Seele allein in der Zärtlichkeit ihrer Stimme schon zur Ruhe kommt. Mein Sehnen ist ein Wolkenbruch und ihr Sinnen ein stiller, tiefer See.
  5. Schmuddelkind
    Ob ich Grund zur Hoffnung habe? Ich habe Hoffnung, nach der mein Herz verlangt, die jeden Grund hinfällig macht. Ist das nicht genug? Und ich weiß, was du mir entgegnen wirst. Du wirst mich zur Besonnenheit mahnen und mich fragen: "Hoffnung, was ist das? Du kannst sie nicht berühren, nicht umarmen, nicht küssen." Ich habe Hoffnung. Und sollte ich daran zu Grunde gehen, so habe ich für diese Hoffnung gelebt. Wenn das kein gutes Leben ist, dann kann unter dem Himmel kein gutes Leben sein. Jedenfalls ist es mehr, als für Brot und Arbeit zu leben.
  6. Schmuddelkind
    Babsi,
     
    sie wird zu mir kommen! Mit den freudigsten Worten hat sie mir versichert, oh welch ein Verlust, wenn ich es wiedergebe, dass sie mich spätestens in einem Monat besuchen wird. Und dieses Mal füllt sich der Gedanke daran mit so viel Schönheit, dass es an Gewissheit heran reicht, so dass es nun entweder wahr ist oder ich träume. Alle Macht ist mir entglitten! Meine Gesichtszüge lassen sich nicht mehr zügeln in ihrem Bestreben, die Ahnung einer geheimnisvollen Spontaneität zum Ausdruck zu bringen.
     
    Ich habe es mir bereits tausend mal vorgestellt und lebendig erlebt und weiß doch, dass dies letztendlich bloß Hervorbringungen von Erfahrung und Fantasie sind. Da schäme ich mich fast, dass ich ihr einzigartiges Wesen mit der Beschränktheit meiner noch so reichen Fantasie und schönsten Erfahrung betrachte. Ich sollte gar nicht mehr daran denken, wenn der Gedanke so karg ist verglichen mit der erfüllenden Vagheit der reinen, naiven Vorfreude.
     
    Und doch - wenn ich daran denke, mit ihr die Eindrücke zu teilen, die ich mein eigen wähne, Eindrücke der sanften Farben der Gräser und Apfelbäume am nahen Hang bei Abendsonne, des wohlig stimmenden grünen Lichts, worin alles am Enkheimer Ried versunken ist, der engen Pfade in meinem Wäldchen, wo jede Lücke vom Efeu so durchdrungen ist, dass man das Gefühl hat, fernab des gewöhnlichen Daseins zu wandeln, Eindrücke, die in ihrer Fülle und Besonderheit ganz in meinem Allerinnersten eingeschlossen sind, dass ich nicht weiß, wo mein Körper aufhört und die Natur anfängt... da kann ich mich des Glücks nicht erwehren, das die Vorstellung in mir frei legt, sie werde an diesen intimen Empfindungen teilhaben. Wenn bereits die Erwartung dieses Treffens so voller Nähe ist, wie wird es dann endlich sein, wenn sie vor mir steht, so nah, dass ich sie berühren könnte?
     
  7. Schmuddelkind
    Ach Babsi,
     
    ich kann keine fünf Minuten an einem Orte mehr bleiben. Unaufhörlich gehe ich in meiner Stube auf und ab, bis mir ein Gedanke einfällt, der es wert ist, aufgeschrieben zu werden; dann werde ich schnell unzufrieden und mache einen Spaziergang. Doch auch die Anmut der friedvollen Main-Promenade in Hanau ist mir nicht genug. Also suche ich das Idyll in meinem stillen Wald, jedoch selbst die Abgeschiedenheit, die ich dort finde verschafft mir keine Befriedigung mehr. So wandle ich hin und her, der Einbildung erliegen, in der Bewegung könne ich die Zeit abschütteln.
     
    Ach, Zeit! Was ist das bloß? Ich kann die Zeit nicht sehen, nicht berühren, habe keine Vorstellung davon, woraus sie sich zusammensetzt und dennoch hat sie meinen ganzen Körper in Gewalt, nimmt meinen Geist in Besitz. Und ich weiß: ich habe auf so manche Dinge länger schon gewartet, doch das ist eben das schlimme Spiel, das die Zeit mit uns treibt, dass etwas umso ferner wird, je mehr man sich danach sehnt.
     
    Während ich dir schreibe, weine ich und weiß nicht, ob aus Freude oder Bekümmerung. Mir ist, als sei mir etwas genommen, obgleich es immer mehr Teil meinerselbst wird und zugleich bin ich rasend vor Glückseligkeit! Verzeih! Wovon dies alles kommt, hätte ich beinahe vergessen, dir zu schreiben: gestern Abend, ich ging auf dem Feld in Richtung der Pferdekoppel, hatten wir ein langes Gespräch, in dem sie mir so oft und betroffen klagte, wie lange es noch sei, bis wir uns sehen und dass sie am liebsten sofort käme. Babsi, wie schwer es mir fiel, ihre Sehnsucht zu ertragen, die ich doch ebenso heftig erwidere, davon kannst du keine Vorstellung haben, da du die geringste sprachliche Annäherung an das Gefühl für eine maßlose Übertreibung hieltest. 
  8. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    du weißt, wie wenig ich Pläne schätze. Immer wenn es etwas zu planen und zu organisieren gilt, ist es, als zwänge ich meiner Seele Atem in enge, beliebige Vorgaben. Doch wenn sie mit mir ihre Reise bespricht, wenn sie ihre Möglichkeiten aufzählt, mir Fragen stellt, wo sie am besten ankommen solle, ob ich sie am Bahnhof empfangen könne - diese belanglosen Details bedeuten mir die Welt, entsteigt ihnen doch: "Ich will bei dir sein."

    Reifte meine Begierde ganz aus dem ziellosen Geschehen heraus, indem ich mich der Weisheit einer Natur anvertraute, die größer ist als ich, so sehe ich nun, wie mein Wunsch immer mehr zur Wirklichkeit empor wächst. Da ich ganz in meine Fügung einkehrte, wurde ich zur Fügung selbst und mehr Freiheit kann ein Mensch durch eigene Wahl nicht haben. Die Grenze zwischen Müssen und Wollen ist aufgehoben. Hat dies jenseits meines Geistes eine Bedeutung?
  9. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    vor einigen Tagen entdeckte ich die grünen Berge des Spessarts bei Gelnhausen für mich. Ganz war ich in der gewaltigen Erscheinung verloren, die ein Mensch nicht zu erträumen vermag und ich wollte nicht länger in ohnmächtiger Bewunderung verharren. Mit jedem Schritt, mit dem ich mich seiner würdig erwies, offenbarte der Berg mir eine neue Seite seiner Selbst, vertraute mir ein Geheimnis an. Mit jedem Schritt spürte ich mehr meines Körpers und ahnte, dass ich am Gipfel bei mir selbst ankommen würde. Als ich über die letzte Anhöhe stieg und der Boden sogleich dem Himmel wich, stand ich mit offenem Munde da, ungläubig, wie klein alles ist, wie klein ich gewesen.

    Die unbeherrschte Weite stand mir offen und entzog sich doch meinem Begreifen und ein schmerzhafter Schrei stieg meine Kehle empor und ist doch stumm geblieben. Sie war der Horizont - unerreichbar! Und wenn ich versucht hätte, ihn zu berühren, mich weit nach vorn auszustrecken, wäre ich den Berg hinabgestürzt und der Horizont wäre aus meiner Sicht entschwunden. Ich muss einsehen, dass das Glück sich nur aus der Ferne zeigt und wenn man versucht, es in sein Leben einzuschließen, rückt es nur weiter in die Ferne. Und doch - wie soll man derart unerfüllt vor sich auf den Boden blicken und sehen, dass man steht, wenn einem vor dieser ungekannten Aussicht zu schweben zumute ist? Und so sehr diese Erfahrung mich quält - immer wieder suche ich sie seither auf, wie im Wahn.

    Als ich mich heute zum ersten Mal wieder der Welt der Schriftsteller zeigte, durfte ich einige Briefe von ihr lesen - alles kurze, fragende Texte ("Wo bist du denn, du Lieber?" "Ich hoffe, es geht dir gut!" und dergleichen) und sogleich schrieb sie mir erneut: "Du bist wieder da! Es war ganz schön leer ohne dich." Ob ich sie meide oder ob ich aus unglückseliger Distanz an ihrem Leben teilhabe - immerzu fehlt mir etwas. 

    In ihrer Wortwahl, in der Kürze ihrer Sätze, die mehr zu verbergen als zu offenbaren suchten, konnte ich eine ungenannte Sorge erkennen. Leidet sie etwa an der Ungewissheit, in der sie unsere Freundschaft wiederfindet? Wenn wir miteinander gesprochen hätten, hätte es mir die Sprache verschlagen, sie so in Sorge zu erleben. Gerne hätte ich sie getröstet und konnte doch nur Unzureichendes schreiben. Wie soll man jemanden in Zuversicht wiegen, wenn man selbst Trost braucht, in der Gewissheit, dass nichts wieder gut werden könne? Ich beschloss all dem keinen Grund zuzugestehen, in der Hoffnung, das Grundlose könne nicht fortbestehen.
     

    Perpetuum mobile
     
    Scheinbar ohne einen Grund
    ach, haben deine Wangen
    deine Tränen, dick und rund
    behutsam aufgefangen.
     
    Gefangen darin schaut ein Mann
    zu mir und leidet stumm
    und fängt sogleich zu weinen an
    und weiß nicht recht, warum.
     
  10. Schmuddelkind
    Ach Babsi,
     
    wie mir weder das Gefühl der Wachheit noch der Müdigkeit in meine Sinne gelangen will und ich dennoch aufstehe, um nicht liegen zu bleiben und zu Bett gehe, damit der Tag vorüber geht, als sei ich ein zum Tode Verurteilter, der jeden Abend einen Strich an die Zellenwand zeichnet, nur um zu sich selbst sagen zu können, er habe einen weiteren Tag hinter sich gebracht, wohl wissend, dass es lediglich ein Tag des stumpfen Wartens war, wie ich mich mit jedem Gedanken entmenschliche, indem ich mich zur bloßen Folge meines Daseins mache, wie ich mich erdulde und an der Duldung kranke! Dies alles hat viel Undeutliches und Widersinniges, wofür ich mich schäme.
     
    Und ist das Menschsein nicht gemeinhin Grund zur Scham? Dieses stete Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeit im Wissen um die bloße Denkmöglichkeit eines reichen, erfüllten Lebens, das vor allen Ausschlägen eines wankelmütigen Schicksals wie ein großer karger Fels hervorsticht, mag denjenigen nicht berühren, der entweder aus Verderbtheit und Dekadenz diese Diskrepanz erträgt oder sie aus Einfältigkeit gar nicht sieht. Ach, wie sind sie zu beneiden, die schlichten Gemüter und die abgestumpften Zynisten, die Naturmenschen und die vollkommenen Bürger! Und je länger ich darüber nachdenke, umso ärger beneide ich die, die darüber keinen Gedanken verschwenden und umso mehr erschrecke ich vor mir selbst.
  11. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    schließlich musste ich doch meinen Pflichten nachgehen und konnte der ungeliebten Stadt meinen Besuch nicht ausschlagen. In der Stadt sind die Menschen einander bloß Hindernisse, die aneinander ungegenwärtig vorbei manövrieren. Dies bestürzt mich jedes Mal auf's Neue, in welchen Formen der Sklaverei die Menschen Fortschritt zu erkennen glauben. Eine unscheinbare Szene konnte heute besonders gut zusammenfassen, wie stumpfsinnig unsere Zeit ist:
     
    Eine Frau mit Sonnenbrille tastete sich mit ihrem Blindenstock auf dem Bahnsteig voran. Da sprach ein Mann zu seinem Sohn: "Starr die blinde Frau nicht so an!", woraufhin diese sich zu ihnen umdrehte. Der Mann drehte sich verlegen weg, als wüsste er von nichts, während der Sohn die Frau anstarrte. Treffender als Sanny hätte ich es nicht sagen können: "Manche Menschen sehen hinter all den Regeln keine Ethik mehr."
  12. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    mich hält hier nichts mehr. Ich fahre zu ihr! Morgen früh breche ich mit dem bisschen Geld, das ich zusammengespart habe nach Berlin auf und werde auf dem Weg zu ihr jeden Gedanken an den Weg zu ihr überwinden, bis ich bei ihr bin. Ein Drängen steigt in mir auf, das mich zu entschlosseneren Taten führt als ein bewusster Entschluss es vermag und du wirst mich für verrückt halten und mich verstehen. Ich weiß nicht, wann ich wieder komme, aber ich werde dir sicher bald schreiben.
     
  13. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    wie mir die Enge hier unerträglich wurde und mich die eigene Trägheit angeekelt hat, habe ich mich mit dem Mond nach draußen gewagt. In den Sternen fand ich gute Gesellschaft, als ich mich in die Weite der Mainwiesen fallen ließ. Mit einem Moment packte mich das Staunen: da strahlen die Sterne so hell und ich kann keinen näheren Sinn darin erkennen, als den, dass sie millionen Jahre später von mir betrachtet werden können. Dabei wissen sie gar nicht darum.
     
    Vielleicht ist die Natur der Dinge gar nicht so verschwiegen. Vielleicht braucht man nur mehr Zeit und Aufmerksamkeit, um ihren Geheimnissen einen Sinn zu entlocken. Es mag sein, dass sich im Leben nichts anderes zuträgt, als dass einem die Zeit davon läuft und man froh sein kann, ein paar dieser Geheimnisse zu entdecken und sich somit selbst nahe zu kommen. Durchaus erscheint das Leben dem einen als bedeutungsvoll, fordernd und erfüllend, dem anderen als sinnlos und leer. Das gibt mir zu denken: Ist das Leben nicht einfach das, was wir entdecken, während wir es tun und kann das nicht als Zweck des Seins genügen? Ist es etwa mehr als ein Selbstzweck, den wir erwarten?
     
    Ach, ich weiß nicht. Es ist vielleicht alles alberne Philosophie, die ich vor mir her trage, aber sie hat mir heute durch die Nacht geholfen. Weißt du, in der Nacht vermisse ich ihre Stimme am meisten.
     
  14. Schmuddelkind
    Babsi!
     
    Etwas tun soll ich?! Und dann gleich etwas Sinnvolles? Du meinst also, ich sei untätig. Sei dir dessen versichert, dass kaum eine viertel Stunde vergeht, ohne dass ich zum Stift greife, um irgendetwas zu schreiben, irgendeinen Gedanken, ein Gedicht oder einen Brief. Ich schreibe wie ein Getriebener in der Hoffnung, wenn es auf Papier sei, dann sei dieses ganze schwere Gift aus meinem Herzen und meinem Körper geschieden. Dennoch, du hast recht: ich tue nicht genug. Ich schreibe nicht genug. Ich könnte niemals genug schreiben!
     
  15. Schmuddelkind

    Briefe
    Ja,
     
    stur bin ich! Wieso also beharrst du so darauf, mich aufzunehmen? Genügt es dir
    nicht, meine Sturheit aus der Ferne zu ertragen? Mein Entschluss steht: ich werde
    irgendwohin gehen. Ich weiß noch nicht, wohin. Doch gehen muss ich und da wird
    sich der Weg von selbst ergeben. Ich werde also zumindest eine ganze Weile nicht
    erreichbar sein, aber wenn wir uns eines Tages wiedersehen sollten, dann weil ich
    dazu bereit bin, dir in die Arme zu fallen. Dann werden wir genügend Gelegenheit
    haben zu scherzen und zu lachen. Bis dahin aber muss ich... ich weiß nicht, wie ich
    es anders sagen soll - nebensächlich werden.

    Ich weiß, du hast genug Anstand, mir nicht vorzuwerfen, ich hätte mir das alles selbst
    zuzuschreiben. Gewiss, das sollte ich. Aber was bedeutet schließlich dieses Selbst?
    Es ist auch nicht mehr als die Gesamtheit der Erfahrungen entlang eines
    ungeordneten Hergangs, den man Leben nennt. Und wenn wir fühlen, dass wir
    getrieben sind, so ist uns dies zuwider und wir suchen in den Wirren unserer Seele
    ein Muster und nennen dies Willen. Wer dieses Muster nicht findet, gilt als schwach,
    als verdorben oder verrückt. Was aber - und vielleicht hat dies alles, was ich mir
    vorzuwerfen habe, darin ihren Zweck - wenn es einfach hinzunehmen sei? Wenn wir
    nicht die Bürde spüren, hinter all den Widersprüchen Bedeutung finden zu müssen
    und stattdessen das Sinnwidrige in uns als Teil unseres Selbst annehmen - ist dies
    dann Glück? Ich glaube, dies muss ich erst für mich herausfinden.
     
    Leb wohl!
  16. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ich weiß nicht, was geschehen wird, wenn sie hier ist und nichts anderes will ich mir vornehmen, als ein Spiegel der Begebenheiten zu sein. In der Ruhe will ich träumen. In der Anregung will ich mich rühren. Und ihre Nähe will ich mit Nähe erwidern. Meinetwegen wird sie hier sein. Bereits dies erwarte ich mit Verve und im Vertrauen auf den Moment kann ich keinen Mangel empfinden.

    Und doch, ach, ich schweige lieber...
     
  17. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    noch ehe ich mir einen Reim auf all dieses machen konnte, schrieb sie mir gestern wieder: sie habe all meine Gedichte gelesen und präsentierte mir eine Auswahl ihrer liebsten Werke - darunter auch "Perpetuum mobile". Ob ich dies als Geste oder als Offenbarung deuten sollte? Jedenfalls zeigte ich mich überrascht und ergriffen - ich weiß nicht, ob mehr über das Interesse, das sie preisgab oder doch ob der Tatsache, dass sie, nach allem, Gedichte, deren Muse sie war, derart schätzen kann. Also fragte ich, ob sie es mir nicht verdenke, wenn ich über sie schreibe.
     
    "Wieso denn?" wiegelte sie ab: "Wie könnte ich dir böse sein, ehrliche Worte für deine Gefühle zu finden? Juhuu! Ich wurde verewigt! Und ein bisschen bilde ich mir etwas darauf ein, die Einzige zu sein, die deine Texte so lesen kann, wie ich sie lese. Deine Worte bringen dich mir näher." Nie hätte ich gedacht, dass mein verzweifelter Versuch, Ausdruck zu finden, einem anderen Menschen so viel bedeuten könnte. Verstehst du Babsi? Jemanden in meinem Leben zu wissen, der das, was man nicht in der Begrenztheit beschreibender Sprache widergeben kann, versteht, der den Menschen hinter der Person erkennt und annimmt, ohne zu werten, ohne zu verlangen - unabhängig davon, woraus dies erwächst oder wohin es führt, erfüllt es mich mit Dankbarkeit, die ich nie auszudrücken imstande wäre. Dennoch muss ich mich fragen: Ist ihr die Nähe meiner Worte genug oder sind Worte lediglich Ersatz für die wortlose Nähe, welche ich still ersuche?
     
  18. Schmuddelkind
    Ach Babsi,
     
    bald füllt sich der Mond zum ersten Male seit... Und ich denke an den letzten Vollmond, in dessen mildem Lichte ich mich ihr so nahe wähnte. Auch denke ich an sie. Vielleicht blickt sie auch gerade gen Himmel und erkennt, dass wir vor des Mondes Angesicht an demselben Orte sind und gemeinsam in die Ferne blicken. Ach, irriges Geschwätz! Wieso sollte sie? Allerdings ist sie mein Mond und ihrem geruhsamen Wesen ist meine ganze Unrast zugedacht.
     
  19. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    atme auf! Dann kann es wenigstens jemand.
     
    Ich spürte das Pulsieren der kalten Klinge im Takt der Erlösung an meinem Hals, wissend, dass zwischen mir und dem ewigen Frieden nur dünne Haut lag und dass diese mir keinen Widerstand mehr darstellte. Mit einer Bewegung, so wusste ich, wäre es getan und dazu fehlte mir nichts. In verkürztem Sinne war ich bereits tot. Wieso lebe ich dann noch?
     
    An meinem Leben, so tat sich in mir die Gewissheit auf, ist mir nichts mehr gelegen und doch konnte ich es nicht zu Ende bringen, fast als ängstige mich die Vorstellung, etwas zu verpassen. Der gewisse Tod erschien mir, obgleich eine endgültige Erlösung, noch ärmer als das mir verhasste Leben. Ich will wissen, wie es ihr geht! Ich werde ihr wieder schreiben. Nun bin ich dazu verdammt, ein Leben zu leben, das mir nichts gilt und mein einziges Bestreben ist die Quelle meines ärgsten Leidens.
  20. Schmuddelkind
    Ach Babsi,
     
    wenn ich ein wenig bedachter gewesen wäre oder wenn sie nachsichtiger gewesen wäre oder diese schlimmen Umstände an einem anderen Tag... ach, was nützt es? Es sind bloß Bedingungen zum Erhalt einer Einbildung, die mein ganzes Denken vergiftet und doch meinen Verstand vor dem Darben bewahrt. Oh, hätte ich nicht alles wissen, alles mitempfinden wollen, als sie mir erzählte, dass sich der Gesundheitszustand ihrer Großmutter drastisch verschlechterte, hätte ich vielleicht kaum mehr daran teilgenommen als an dem Geschwätz, das die Nachbarn hier über mich und meine "seltsamen" Fußwege, die ich mir täglich aussuche, meine "verlorenen" Gesten und meine Sprache wechseln, dann wäre ich nicht ich selbst, aber glücklich - vielleicht kann man meine Geschichte in diesem Sinne begreifen. Du verstehst mich.
     
    Dass man sich oft einbildet, der Mensch sei von edler Natur, ist mir schon immer als merkwürdige Torheit erschienen, wenn nicht gar als Lüge; denn wie häufig empfindet der Mensch das eigene Sein als so armselig, dass er sich nach simplerer Existenz sehnt? Wenn etwa bei schönem Wetter allerhand Schreibarbeit zu erledigen ist und man nicht in heiterer Selbstgenügsamkeit den warmen Lockungen nachgeben kann wie die Bienen. Es scheint mir fast, als leide der Mensch an seiner Komplexität, an seinem Denken, an seinem Zweifeln, an Worten wie "mein", "dein", "Freiheit" und "Pflicht". Mich überkommt die Sehnsucht, meine Sprache zu verlieren.
     
    Was soll es... ich schweife ab. All meine Aufmerksamkeit galt ihrem Innersten; ich wollte es verstehen, wollte sehen, was dies mit ihr macht. Ich konnte nicht anders, als sie danach zu fragen und sie konnte nicht anders, als sich in ihrer Aufregung davor zu fürchten. Sie hatte Angst davor, ich wolle ihre Gefühle ordnen, denn, so meinte sie, dem natürlichen Chaos eine menschliche Ordnung zu geben, sei unangebracht und außerdem nicht zweckdienlich. Ich verstand ihr Argument und muss es ihr wohl eingestehen und dennoch - ich musste meinem Begehr nach Nähe Ausdruck verleihen.
     
    Ich... ich jagte der Nähe nach, die sich mir umso mehr entzog, je bedürftiger ich danach drängte, bis es nichts mehr zu sagen gab, weil nichts mehr zurückgenommen werden konnte. Nichts weiß ich mehr von dem, was mein Wesen bis vor kurzem ausmachte.
     
  21. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    da mich heute die Vögel frühlingsgrüßend weckten und dem Kalender spotteten, beschloss ich es ihnen gleich zu tun und auch meine Pläne zu übergehen. In meiner Seele habe ich die sanften, aber fokussierten Bewegungen der leichten, weißen Wölkchen am warmen Himmel wiedergefunden und zog mit ihnen den Hang hinauf. Ach, die herrliche Weite der Landschaft, die sich vor mir erstreckte, könnte meine Sehnsucht nicht einfassen. Wäre ich nur ein Traum, ich brächte all die Bilder meiner Sinne ihr zu Geiste und wäre ihr nahe!
  22. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    wenn ich an sie denke, dann ist alles voller Schönheit, ohne dass ich auch nur ein einziges Bild vor mir sähe. Und wenn ich sie reden höre, verliert sich alles umher im Nichts, bis ich nur noch an ihrem Empfinden teilhabe, an nichts Anderem, und dann bin ich verloren in so vielen Gefühlen, zu denen ich schon gar keine Gedanken mehr habe.
     
    So ist es wohl zu erklären, dass ich dir an dem letzten Telefonat mit ihr unterschlug, wie sie mir die liebsten Komplimente machte mit einer kindlichen Spontaneität und Aufgewecktheit, dass ich das alles noch viel näher an meinem Herzen führe. Da sprach sie von meiner Gabe, zu schlichten und zu beruhigen und dass es doch gerade die unterschiedlichen Gemüter sind, die am stärksten aufeinander einwirken - dass die hitzigen Gemüter die Ruhigen und Sanftmütigen zur Schlichtung inspirieren und diese wiederum mit ihrer geruhsamen Aura nicht selten einen Eindruck auf die Temperamentvollen machen und dass auf diese Weise gerade die Unterschiede eine Gemeinschaft so reich werden lassen, so dass man daher gar nicht von einer Tugend oder Untugend, einem guten oder schlechten Charakter reden kann. Aber wie ich über ihre Worte nachdachte, wie ich noch nie über mich selbst dachte, da wusste ich, dass ich zumindest auf sie einen mäßigenden Einfluss haben muss, den sie sogleich beschwingt mit dem Verweis entkräftigte, dass sie kaum einmal auf mich höre. Da musste ich ganz kräftig lachen, dass die Diskussion beendet war.
     
    Oh, wie sie die einfachsten Dinge in eine Philosophie verwandelt, um diese dann wieder zum Gegenstand ihres nächsten Spaßes zu machen! Das hat etwas Wundervolles, etwas Reines, zu beobachten, wie sie sich stets mit ganzem Herzen dem widmet, was in ihrem offenen Sinn gerade ein Interesse aufkommen lässt.
     
  23. Schmuddelkind
    In Detmold wollte ein Mann demonstrieren, dass der Corona-Virus absolut harmlos ist. Also schlich er sich in die Intensivstation eines Krankenhauses ein, um dort die Krankenhausabfälle zu stehlen, einzukochen und die Dämpfe zu inhalieren. Er starb an mehreren Krankheiten, u.a. Corona. Corona ist natürliche Auslese in Zeitraffer. 
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