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Marcel

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Beiträge erstellt von Marcel

  1. Der Winter in Toronto ist ein kalter

     

                                                                   für Walter Bauer

     

    Wenn er früh morgens nach der Schicht

    mit spülwasserzarten Händen

    vergraben in den Jackentaschen

    wie in einer Tierhöhle

    zum nächsten Diner eilt

    sich an einer Tasse Kaffee wärmt

    und am Lächeln der Serviererin

    die auch noch die Sprache übt

    dann denkt er an die Holzfäller

    mit ihren verkrüppelten Händen

    die kaum einen Teller halten

    aber Riesen zu Fall bringen können

    und er ist dankbar dafür

    nicht so einer geworden zu sein

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  2. Hallo, Anonyma,

     

    es hat mich sehr gefreut, wie intensiv Du dich mit meinem kleinen Text auseinandergesetzt und sogar diese Detektivarbeit im Netz auf dich genommen hast. Ich weiss manchmal einfach nicht, was besser ist, wenn ich auf ein Ereignis oder eine Person Bezug nehme: Hilfestellung durch Fußnote, erläuternder Titel oder die Lesart dem Leser überlassen. Hier habe ich womöglich den Bekanntheitsgrad vom "Steinernen Mann" überschätzt.

     

    LG, Marcel

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  3. Legendenbildung

                                                   (Augsburg im Winter)

     

    Sechs nackte Kinder

    um einen Schrein versammelt

    an dem ein versehrter Bäcker steht

    der eine Öllampe hält

    während seine Augen irrlichtern

    über die Tafel mit den Liedern

    die er singen soll

    damit Engel erscheinen

    und Holzmehl von der Decke rieselt

    frisch gemahlen und duftend

    nach rosigen nackten Kindern

    mit putzigen Ärschen

    und kleinen Schwänzen

    neckisch entblößt an einem Kindersarg

    um die Stadt zu retten

    vor Brandschatzung und Tod

    wenn die Stadtgöttin nicht hilft

    und Anbetung unnütz wird

    wie faules Brot im Graben

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  4. Ansichtig

     

    Ich weiß gewiss dein Gesicht

    die Falten denen deine Tränen folgen

    den weich gewordenen uneitlen Mund

     

    Ich weiß die Blässe

    wenn du kränkelst

    die Röte in Schmerz wie in Lust

     

    Ich weiß die Empörung

    im hilflosen Schrei

    und die Aufgabe

    in der ersterbenden Stimme

     

    Ich weiß deinen Katzenblick zu deuten

    die Trägheit die dich befällt

    angesichts der Mutproben anderer

     

    Ich weiß dein Ohr sich richten

    nach dem Ungesagten

    das dein aufgebrachtes Lauschen wahrt

     

    Deiner bin ich ansichtig

    jetzt und hier und ganz weit fort

    deine schattige Miene strahlt nicht weniger

    als dein giftgrüner Teint im Neonlicht

    in dem du dich zeigst

    wenn du mir ungehalten bist

     

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  5. Gesichtsverlust

     

    Bei Windstille am Teich

    bin ich meiner sicher

    durch die Spiegelung meines Gesichts

    auf der ruhigen Wasseroberfläche

     

    Doch frischt es auf

    zerfließt mein Abbild

    und treibt mit den erwachenden Wellen

    dem Schilfrohr entgegen

    bis die erste Böe es zerreißt

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  6. Hallo, Nesselröschen (schöner Name!),

     

    hab Dank dafür, dass Du dich so ausgiebig mit meinem kleinen Text befasst hast. Ja, die Grundstimmung ist zweifellos pessimistisch, aber es gibt auch wenig Grund für Optmismus, ob an unseren Außengrenzen oder unseren alltäglichen Grenzen (das Nachbarbüro). Außengrenzen, wenn das Wort schon Verwendung findet, implizieren auch Innengrenzen, und davon gibt es auch viele. Wie oft begrenzen wir uns selbst bzw. bescheiden uns angesichts dessen, was um uns herum und mit uns geschieht?!

     

    Die Retter wie auch die Abgänge sind als offizielle Lesart aufgegriffen. Natürlich hat einer, der nicht hilft, diese Bezeichnung nicht verdient. Abgänge sind eine zynische Bezeichnung für die Ertrunkenen; es soll ja nicht so nahe an uns herangehen, was da passiert.

     

    LG, Marcel

  7. Hallo, Carlos,

     

    vielleicht ist der Einstieg wirklich nicht zu toppen, aber ich bin kein Freund knapper Sentenzen und habe es gerne, wenn ich mich in meinen Texten bewegen kann. Gerade in unserem Metier empfindet das wohl jeder anders.

     

    LG, Marcel

    Hallo, Heiko,

     

    ja, das ist gemein, aber Absicht. Ich habe als Leser wie als Schreiber die Erfahrung gemacht, dass die fehlende Interpunktion beim Lesen für höhere Konzentration sorgt. Bei längeren Texten mag es nicht immer sinnverzerrend sein, wenn man mal über eine Stelle hinweg liest, wohl aber in solch kurzen Arbeiten. Ich hatte auch eine Phase, in der ich auf die Großschreibung verzichtet habe, aber damit wurde ich mit der Zeit immer unzufriedener. Vielleicht komme ich irgendwann auch wieder dahin, Punkte und Kommas zu setzen.

     

    LG, Marcel

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  8. Die Nacht gewährt uns kein Entkommen

     

    Wir haben Kriege geführt

    jetzt führen die Kriege uns

    ans erwartete Ende bis uns

    vor dem Morgen graut als

    Hinterlassene kaum besiegter

    Traumländer deren Grenzen

    neu gezogen wurden über Nacht

     

    Wir führen Tagebücher und Traumprotokolle

    dokumentieren jeden Angriff aus 

    dem Nachbarbüro reflektieren

    nächtliche Exzesse aus dem Gedächtnis

    kennen die Abgänge aus dem Mittelmeer

    entschuldigen und schulden

    zahlen Lösegeld für Kinder und Schweigegeld

    für Retter die wegschauen

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  9. Das alte Lied

     

    Die Ohnmacht

    nährte auch deine Melodie

    hast gesungen vom Wunsch

    eine Taube zu sein

    doch dann war es nur Rauch

    der trieb im Wind

     

    Es ist das alte Lied

    von der verlorenen Schwester

    die keine Flügel besaß

    zu gelangen in die Heimat

     

    Du sangst es

    bis dir die Stimme erstarb

    und ein gleiches erklang andernorts

    wenn Entflohene sich fanden

    unter fremden Himmeln

    und nicht einer Nachricht wusste

    von Angekommenen

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  10. Windstiller Garten

     

    Unkrauthügel

                    handgerupft

    raue Hände streicheln schöner

     

    Dämmerung

                    Spiel ohne Höschen

    Mückenstiche

    zum Lachen

    oder war es doch ein Dorn

     

    Der Rosenduft berauscht

    wir torkeln zur Terrasse

     

    Liegen wie Löffel

    in der Lade

    du erzählst Heiteres

                    im Schlaf

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  11. Winterquartier

     

    Der Brunnen ist abgedeckt

    die Fenster frisch verkittet

    Glaswolle dichtet das Dach

     

    Von der Weide trotten die Kühe

    ins düstere Heulager

     

    Die Sommerkleider sind eingemottet

    die Sandalen verpackt

    das Schirmchen eines Eisbechers

    steckt noch in der Erde des Gummibaums

     

    Aus der Stadt

    kehren die Geflüchteten zurück

    in ihre Elternhäuser

     

    Die Früchte sind eingelegt

    die Kartoffeln im Keller

    und die Äpfel noch ohne Runzeln

     

    Der eisige Wind ist ein Versprechen

    auf lange satte Abende am Fernseher

    ohne Gesprächsbedarf

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  12. Tauwetter

     

    Eine vernarbte Wunde die nässt

    unter dem Profil der Schritte

     

    Der Himmel eifert deinen Augen nach

    schon weichen Wolken vor der Weite

     

    Bald straffen sich die schweren Halme

    und stehen lind im Licht

    das heranschleicht durch den Dunst

     

    Komm fass mich um

    damit das Frösteln geht

    von so viel Welt

     

    Komm führe mich

    mein Blick ist klamm

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  13. Der erste milde Tag 

                                      

    Das verlassene Haus

    der verwilderte Garten

    die vergessene Zisterne

     

    Bin hinabgetaucht

    auf den Grund

    zum modernden Laub

    vom letzten Herbst

     

    Hab die alte Kröte gefunden

    mit ihren Winterträumen

    vorsichtig blinzelte sie

    die wärmende Sonne an

    und mich

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  14. Hallo, Carlos,

     

    es handelt sich hier um ein Wortspiel. "Ausfluss humanistischer Bildung" umschreibt Wikung und Auswirkung solcher Bildung, andererseits bezeichnet Ausfluss auch die Absonderung etwelcher Körpersekrete, was nicht immer sehr appetitlich ist. Dies soll natürlich satirisch überspitzt zum Ausdruck bringen, dass man diesem Bildungsideal durchaus kritisch gegenüberstehen sollte. Mein schräger Humor ...

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  15. Demontage

     

    Weder unappetitlicher Ausfluss humanistischer Bildung noch die Erinnerungen an Taschenlampenabenteuer kindlicher Lektüre unter der Bettdecke können die Götter wecken. Über sie zu lesen, macht Sterblichkeit genießbar, denn lesen heißt leben, und sie sind doch tot. Nur Phantasie pulsiert wirklich. Odins räudige Wölfe bespritzen nicht mehr die Weltesche. Kein Ghul stürmt mehr die Regenbogenbrücke. Kinder haben Seile gespannt.

     

    Wie dröhnt mein gestoßenes Hirn. Ein Beben, dass Pokale hüpfen. Habe doch einst jedes tollwütige Weib aus dem Panzer geschält, an jeder Brust gesaugt, jeden Schoß mir untertan gemacht. Und wie schlürfte ich Kraft für den schlaffen Schlauch im Blut meiner Feinde. Und als die Brüder an meiner Seite fielen, rief ich: „Nehmt sein Herz. Meines ist mir heilig!“

     

    Bin einst über Moore gewandert, habe Lohen geteilt. Mein Stiefel war gefürchtet. Und als man mir den Freund erschlug, den treuen Wildesel, entstand das Lied vom Menschenwürger. Wolfszeit, kündeten die Nornen. So leicht war der Leib. An meinem Federkorb wäre auch das Drachenschwert zersplittert. So ging ich hin durch die Feuerwände, über Lavaströme, querte Meere, stieß durch die Nebel herab in die Gymnasien. Vom Leben in den Wahn. Schattenfalten über Kinderaugen, rot das Weiße, begraben der Glanz dieser Blicke. Zum Helden geboren, zum Gräuel gemacht. Gestellt in den Hagel von Spatzenschleudern. Demütig das Knie auf dem Linoleum, gebleicht das Haar von rieselndem Stuck. Wie Schlacke die Haut am versehrten Arm. Meinen Ruf hört der Einäugige nicht mehr, hingemacht auf greisem Thron, zu Füßen den Hauf von Nachgeborenen. Opfer des Fluchs, den samenlose Bälger ersannen.

     

    Ich bin der letzte der meinen. Und ich stelle mich dem Los. Den Schild überm Gemächt, schaue ich in die Reihen meiner Bezwinger. Kein Mitleid. Wolfszeit, tönt es mir entgegen. Man löst mir den Helm …

  16. Nacht    

                                                  

    Die ruhenden Schatten

    an der Zimmerdecke des Schlaflosen

    beim windstillen Rauschen der fernen Bahn

     

    Der müde Alte mit offener Hose

    an erleuchteten Fenstern

    mit Liebe dahinter

     

    Traum deckt wie ein schweres Tuch

    manche nesteln am Rand

    und frieren dabei

     

    Drüben im Schuppen

    buckelt die Katze

    über dem toten Wurf

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  17. Damit umgehen

     

    An so etwas stirbt man nicht

    nimm diesen Abschied hin

    und fang die letzte Träne

    in der hohlen Hand

     

    Halte sie der Sonne entgegen

    bis sie vergeht

    und beim nächsten Regen dann

    genieße die Erfrischung

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