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Autopoiesis einer Nacht


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Es war der Vorabend des zweiten Advents - traditionell die Zeit, in der ich verlassen werde. Aber dieses Jahr wollte ich ihr zuvorkommen und nutzte den nächstbesten Streit zum Vorwand, ihr ein "sorgenfreies Leben" zu wünschen. Einen Tag später bedauerte ich meine Entscheidung und rief sie die ganze Woche über immer wieder an, ohne dass sie abnahm, schrieb ihr hauptsächlich viel Ernstgemeintes und manch Überzogenes, ohne dass sie antwortete. "Wenn ich nicht mit meinen Entscheidungen leben kann, wer dann?", dachte ich und ging am folgenden Wochenende in die Stadt, um einen Zufall zu provozieren. Über eine kleine Brücke im Industriegebiet überquerte ich die Spree. Darauf blieb ich kurz bei einer massiven Steinkugel mit daran befestigter Kette und der nicht zu übersehenden Aufschrift "Tu's nicht!" stehen. Ich befolgte den Rat, war aber aber froh, den Ratgeber in meiner Nähe zu wissen und ging weiter in Richtung Stadtzentrum. Die Fenster der meisten Haushalte sind zu dieser Jahreszeit nicht von denen der Bordelle zu unterscheiden.

Kaum kehrte ich in einer heruntergekommenen Kneipe ein, rief mich ein sportlicher junger Mann mit kurzen, blonden Haaren herbei, als sei er ein alter Bekannter, was nicht stimmen konnte; denn ich habe in dieser Stadt keine Bekannten, schon gar keine alten. Sein Lächeln war wie in Marmor gemeißelt: "Alter, setz dich zu uns!" Zwar war ich aus dem Alter raus und noch nicht wieder eingetreten, in dem man mich mit "Alter" ansprach, aber das war mir ebenso gleichgültig, wie die Tatsache, dass dies alles fremde Gesichter waren, die mich offensichtlich für einen Freund eines unbestimmten Mitgliedes ihrer Runde hielten. Mit einer Mischung aus Resignation, Trotz und Abenteuerlust schritt ich auf die gut gelaunte Gruppe zu, die trotz der flackernden Werbetafel, unter der sie ihren Platz hatte, nicht so unsichtbar war wie der Rest des Klientels. Der Blonde, der noch immer nicht sein Lächeln abgelegt hatte, reichte mir eilfertig die Hand und platzierte mich auf der kleinen Holzbank neben mir: "Grüß dich!" Ich überlegte kurz, welche Begrüßungsformel als angemessene Reaktion durchgehen würde und entschied mich schließlich für ein unverfängliches und alle einschließendes "Hi!"

Eine schlanke, junge Frau mit schwarzen, lockigen Haaren, der ich abnahm, dass sie auch ungeschminkt gut aussehen könnte, saß mir gegenüber, daneben der Blonde, in dessen Armen eine glubschäugige Blondine unbestimmbaren Alters gefangen war, die in ihrer straffen Haut fest gefroren schien. Ich wusste, dass neben mir zwei Männer saßen, die ich jedoch nicht beschreiben kann, da ich mich nicht traute, mich in dieser Beengtheit zu ihnen umzudrehen, ohne mindestens einen skeptischen Blick zu kassieren. Man stellte mir keine Fragen, sondern schob mir einen der Schnäpse zu, die in der Tischmitte eine reiche Reserve bildeten. "Prost, ihr Säcke!" "Prost, du Sack!", grölte ich selbstverständlich mit. Ich trank schneller, als ich zählen konnte und dieses Missverhältnis sollte sich im Laufe des Abends noch verschärfen. Als ich auf Toilette ging, erkannte ich mich zum ersten Mal seit einigen Wochen fast im Spiegel. Zumindest sah es so aus wie jemand, der meiner Erinnerung an mein Gesicht verdammt nahe kam. Doch als ich mich wieder in Bewegung befand, um zum Tisch zurückzukehren, hatte ich beinahe jegliches Gefühl für meine Existenz verloren. Ich hatte nicht den Eindruck, dass viel geredet wurde; vielmehr vernahm ich laute Lacher, Gesänge und das immer häufigere Klirren der Gläser.

Wie wir dort hin gekommen waren, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nur, dass ich plötzlich mit all den unbekannten Freunden in einer hell beleuchteten Wohnung saß. Irgendjemand ließ ein paar Pillen durch die Runde gehen. Ich fragte nicht, was es genau sei und nahm eine. Die Blondine saß starr mit ausgestrecktem Hals auf dem Sofa; einige Augenblicke hielt sie so inne, bis sie den Kopf ruckartig wie eine Eule nach links und dann nach rechts drehte. Aus der allgemeinen Erheiterung der Runde, die inzwischen angewachsen schien, brach ein emphatischer Schrei heraus: "Ich bin am Leben!" Im nächsten Moment saß die Schwarzhaarige auf meinem Schoß und streichelte, mich umfassend meinen Rücken unter dem T-Shirt. "Wenn ich sie betrüge, kann sie mich nicht betrügen und das ist zu erwarten, da sie es gar nicht als Betrug auslegen würde - das ist wohl auch der Grund, warum sie nicht mit mir redet", rechtfertigte ich meinen Entschluss, mit der jungen Dame ins Zimmer nebenan zu gehen.

Die Nacht schmeckte nach Erbrochenem und Minz-Kaugummi, die Welt beklagte ihren Zustand und ich schlief ein.

 

 

(Aus dem Fundus)

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  • 2 Wochen später...

Vielen Dank, lieber gummibaum!:smile:

 

Du hast es mal wieder auf den Punkt gebracht. Ich schätze, der Wunsch, einer Trennung zuvor zu kommen, hat wohl auch viel mit falschem Stolz zu tun. Lieber jemandem das Herz brechen, als zuzulassen, dass einem das Herz gebrochen wird. Das klappt nur nicht wirklich, wenn man ja im Grunde gar keine gebrochenen Herzen will. Vermutlich spiegelt sich die daraus folgende Verwirrung in der planlosen, vom schicksal getriebenen Handlung der Geschichte.

 

Danke auch für dein Lob bzgl. der Sprache. Ich habe zu der Zeit viel Fitzgerald gelesen und mich sprachlich hier wohl ein wenig an ihn angelehnt.

 

LG

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