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The best Frühling ever - Geschichten vom Erwachsen werden Teil 2


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The best Frühling ever

 

Geschichten vom Erwachsen werden Teil 2

 

Eine kühle Sonne kroch schwerfällig an jenem Montag über den Rand und versuchte krampfhaft, so was wie Wärme in die Stadt zu bringen. Erfolglos.

 

Missmutige Menschen schleppten sich, mit hochgeschlagenem Kragen, an meinem jungen, mit ausreichend Sauerstoff und voller Glückshormone versehenen Körper vorbei.

 

Frisch gebügelt und gestriegelt galoppierte ich, wie John Wayne, aus dem Stall und setzte mich an die Spitze der Gequälten und Geschundenen.

 

Fühlte mich unbesiegbar und erkannte die Leichtigkeit der Welt. Fühlte mich imstande alle Probleme und Krankheiten zu lösen.

 

Voller Durchblick! Klare Richtung!

 

Der Anfang der Woche schien für mich nicht mehr eine endlose, verschwendete Zeit, bis zum Wochenende, zu sein, sondern die Möglichkeit Großes zu tun.

 

In mir schlummerte ein großer Dichter und Songschreiber. Das wusste ich genau.

 

Wenn ich mir ein Ziel setzte, kniete ich mich voll rein:

 

Mit 10 wollte ich ein neues Löschmittel erfinden, um Großbrände zu verhindern.

Dabei fackelte ich fast die Küche ab.

An meinem 11. Geburtstag sprang ich mit einem Sonnenschirm vom Dach, um den Luftwiderstand zu testen.

Im Krankenhaus meinten sie in 3 Wochen sei der Bruch des linken Beines verheilt, dann könnte ich mich zum Segelflug anmelden.

Fast auf den Tag, ein Jahr später ,erklärte ich meinem Freund Bert, das es möglich wäre, Kühe zuzureiten und wir starteten 1 Woche nach meinem 12 Geburtstag eine Versuchsreihe die wir, „The Cowboy Day`s“ nannten.

Drei Minuten später brach ich mir das andere Bein.

 

Gut das ich jetzt viel reifer war.

 

Ich wünschte mir zum Geburtstag eine Gitarre.

Leider war der erst im September.

Egal.

Übte jeden Tag meine Stimme und sang jeden Song von Elvis mit, bis ein Klopfkonzert der Nachbarn mich daran hinderte. Banausen!

Englisch? Fand ich gut. Es gab so viele Texte die ich übersetzen wollte.

 

Schule fand ich irgendwie auch ok. Also, nicht wegen der Bücher die wir lesen mussten. Oder, weil Mathe so ein hoch interessantes Spielfeld für Herrn Mewes unserem Lehrer war, der in jeder Stunde meinte, bei uns wären Hopfen und Malz verloren und wenn das so weiterginge, gäbe es bald überhaupt kein Bier mehr.

Das verstanden wir genauso wenig wie Mathe und stellten fest, das es nicht an uns lag, sondern an unserem Lehrer, der offensichtlich zu viel Gerstensaft zu sich nahm.

 

Nicht mal die Musik vermochte mich an die Schule zu binden.

 

Letzte Woche sollte ich auf der Trompete die Tonleitern spielen und sagte:

So hoch hinaus wolle ich nicht. Könnte ich nicht einfach ein paar Sprossen überspringen und Isabell den Marsch blasen. Die würde sowieso die ganze Stunde nur an ihren Haaren spielen, während wir uns hier die Hände wund spielten?

 

In dieser schweren Zeit saß ich oft beim Direktor und mittlerweile bekamen wir ein gutes Verhältnis.

 

„Wie läuft es mit Frau Mutzenbacher?“ ,fragte ich, sobald meine Füße seine Schwelle überschritten .

„Läuft.“ ,sagte er jedes mal. „Weshalb diesmal, Meschke?“ ,fragte er zurück.

 

Aus irgendeinem Grund, der mir fremd war, nannte er mich Meschke.

 

„Zuviel schräge Töne in der Klasse.“ ,antwortete ich gelassen.

 

Ich saß gern beim Direktor. Schrieb meine Seiten ab und hatte meine Ruhe.

Diese Zeit nutzte ich zur Vorbereitung für die Englisch Stunde bei

Frau Raszikowa.

Wir nannten sie nur Mrs. Nightdream. Den dachte ich mir aus.

 

Die ganze Klasse himmelte sie an. Natürlich aus unterschiedlichen Gründen.

Die Mädchen, weil sie so einen coolen Style hatte und die Jungs, weil sie einfach immer scharf aussah.

Ihre langen Beine schauten aus engen Röcken hervor oder steckten in knalligen Hosen mit Schlag.

 

Wir wetteten an Freitagen immer, welche Farbe ihr Slip wohl haben würde.

In der großen Pause diskutierten wir heftig, woran man es wohl erkennen könnte.

Uwe meinte, er könne es an ihrem Gang feststellen.

„Blau, für gerader Gang, rosa für schleifend und weiß für hinkend.“ ,erklärte er.

„Hab sie nie hinkend gesehen.“ ,meinte ich.

„Logisch, sie trägt ja auch keine Weißen.“ ,erklärte Uwe.

 

Wir nickten wissend. Logisch.

 

Die Pullover glitten an ihrem Oberkörper, wie auf einer Rollschuhbahn entlang und alle Jungs in der Klasse dachten nur an eins:

 

Ach, einmal, nur einmal Pullover sein.

 

Ihr Gang auf den hohen Stiefeln ließen mich abgleiten in Tagträume, in denen ich derjenige war, der sie vor der Magnus Gang rettete und dafür als Belohnung einen Kuss bekam.

 

Ihre grünen Augen schauten mich in der Englischstunde immer so fordernd und lieb an, das ich sofort meine Antwort vergaß und so eine ganze Note nach unten rutschte.

Das besserte sich erst, als sie mit mir redete und ich ihr versprach mich anzustrengen. Für sie stand ich dann bald auf einer 2.

 

Jetzt brauchte ich allerdings kein anhimmeln fremder, englisch sprechender Frauen aus Russland mehr, denn ich war schließlich der Auserwählte.

 

Der Einzige in der Klasse der eine feste Freundin hatte.

 

Seit ich mit Michaela zusammen war, hing die Welt voller Bratschen und Xylophone.

Oh Mann, ich war der glücklichste 13 Jährige, den diese Welt je gesehen hatte.

Ich war sogar glücklicher als mein Opa und der hatte sich mit 83 scheiden lassen, um eine flotte 64 Jährige zu heiraten.

 

Der neue Taschenkalender brannte mir ein Loch in meine Hosentasche.

46 Tage. 3 Stunden und 22 Minuten. Das war die genaue Zeit, die Michaela und ich zusammen waren. Gezählt ab dem heiligen Abend 1975.

 

Hin und wieder kam mir die Idee, das ich mich ein bisschen zu sehr hinein steigerte, aber ich konnte nichts dagegen tun.

 

Es war einfach zu schön.

 

Füllte meine Taschen mit extra Steinen, um nicht abzuheben.

 

Als nächstes nahm ich mir Liebesgedichte von Novalis vor. Alter Schwede.

Dieser Novalis war ganz schön schräg drauf. Was der alles von sich gab.

Das war so knapp an der Grenze des Erträglichen. Da kam soviel Schmalz aus den Seiten, das es mir die Finger verklebte. Pure Romantik.

Genau das wollte ich auch.

 

An einem Nachmittag. Ein Donnerstag. Immer noch Winter, aber Frühling im Herzen machte ich mich auf den Weg zu meiner großen Liebe.

 

Da ja fast schon Sommer war, zog ich natürlich nur ein T-Shirt und meine Windjacke an.

Die blauen Lippen und das Zittern meiner Beine machten sich ganz gut und rundeten das Bild eines Europäers in Alaska ab.

 

Als erstes kaufte ich eine Rose. Logisch. Die Farbe Rot war ja schon immer ein Zeichen der höchsten Gefühle, die man so haben kann.

 

Meine Tante Irmgard sprach auch mal von Gefühlen. Sie begann Engel und kleine grüne Männchen zu sehen. Sie meinte, das wäre das schönste Gefühl das sie je gehabt hatte. Sogar noch besser, als die Mondlandung, denn an dem Tag musste sie meinen Onkel aus der Kneipe holen. Das gab ein Donnerwetter, das man noch bis Houston hörte. Übrigens, war das der Tag an dem sie schwanger wurde.

 

Alle, denen diese frohe Botschaft verkündet wurde freuten sich sehr, denn meine Tante, eine Gottesfürchtige Frau, hatte immer dafür gebetet Kinder zu bekommen. Meine Mutter sagte immer:

 

„Naja, beten allein reicht wohl nicht.“

 

Das, war ein beliebter Satz bei jeder Feier und wenn alle zu vorgerückter Stunde einen sitzen hatten, wurde dieser alle 10 Minuten erneut aufs Tablett gebracht und wie auf Knopfdruck brach die ganze Bande in schallendes Gelächter aus.

Also, wie ich schon sagte. Alle freuten sich, außer meinem Onkel, der wollte sich eigentlich ein kleines Motorboot kaufen. Naja. Daraus wurde wohl nichts, aber so ein Kinderwagen kann ja auch ganz sportlich sein.

 

Mein Onkel ging weiterhin jeden Tag in die Kneipe, bis er am Aschermittwoch in einen Graben fiel, wo frischer Schnee ihn zudeckte.

 

Meine Tante sagte immer:

 

„Wäre dieser dumme Mann nicht in den Graben gefallen und erfroren, hätte ich ihn am nächsten Morgen eiskalt abserviert!“

Auch das war bei jeder Feier, zu vorgerückter Stunde, ein Brüller.

 

Komisch was einem für Gedanken durch den Kopf jubeln, wenn man zu dem Mädchen unterwegs ist, das einen vergöttert.

 

Hatte mich richtig gut auf diesen Tag vorbereitet:

 

A: Rechtzeitig aufgestanden.

B: 15 Minuten Zähne geschrubbt.

2 Haarbürsten, bei dem Versuch meine Mähne zu bändigen, vor Wut zerbrochen.

Erst mein Gesicht, dann meinen ganzen Körper mit Nivea eingecremt.

In der Annahme, das dies meiner Haut noch mehr Spannkraft verleihen würde.

E: Beim Zupfen der Augenbrauen geschrien, wie ein Elch und statt dessen Cola getrunken, die mir aus der Nase wieder hervorsprudelte.

 

An jenem Frühlingstag, mit Blumenduft und Finkenschlag, holte ich sie zu einem Spaziergang durch den Park mit anschließendem Kinobesuch ab.

 

Nachdem ihre Mutter die Tür öffnete und die obligatorische Frage nach einem Glas Milch und ein paar Schokokeksen gestellt hatte, bemerkte sie meinen frischen Niveaduft.

 

„Diese Creme benutze ich auch immer. Das macht zarte Haut.“ ,erklärte sie.

„Mmmmh.“ ,steuerte ich auf meine unnachahmliche, treudoofe Art bei.

„Hast du das denn überhaupt nötig?“ ,fragte sie.

„Tja, also ich...das ist wegen der Sonne und dem.........dem Wind.“ ,so damit hatte ich ja wohl alles gesagt. Ja, denkste denn diese schlaue Frau setzte nach.

„Wie meinst du das?“

 

Jetzt saß ich in der Klemme. Suchte nach einem Schlupfloch. Spürte wie eine flammend rote Farbe vom Hals aufwärts kroch und mein Gesicht und mein Selbstwertgefühl verbrannte.

 

In diese Hitze hinein öffnete sich Michaelas Tür.

 

Oh, mein Gott. Sie sah unglaublich aus. Sie trug ihr Haar in Wellen. Das orange-grüne Shirt ließ den Bauchnabel frei und die Jeans Marke Palomino saß wie eine zweite Haut. Die weißen Plateauschuhe hatte sie mit roten Herzen selbst verziert. Die traute sich was.

 

„So gehst du nicht vor die Tür!“ ,sagte ihre Mutter ernst.

„MAMA!“,schrie sie und verschwand wieder in ihrem Zimmer.

Natürlich warf sie die Tür mit lautem Krachen hinter sich ins Schloss.

 

Na, hier war es ja noch lustiger, als bei mir zu Hause, dachte ich so bei mir und kaute nervös auf meiner Unterlippe.

 

„Vielleicht doch ein Glas Milch mit Schokokeksen.“ ,flötete die Mutter mir zu.

„Okay.“ ,sagte ich ganz lapidar.

 

Wir setzten uns in die Küche und unterhielten uns über die Schwerkraft und das das ja irgendwie auch ganz sinnvoll wäre, weil ja sonst alles an der Zimmerdecke hängen würde.

 

Da musste sie laut lachen, aber ich wusste nicht recht warum.

 

Nach zwei Jahrhunderten kam Michaela wieder und hatte sich umgezogen.

Diesmal trug sie demonstrativ eine viel zu weite Jeans Latzhose, die aussah, als hätte sie die ihrem Urgroßvater aus Kansas ausgezogen.

Ihr Hals zierte ein rotes Tuch und die riesigen Nikolaus Ohrringe hingen wie Christbaumschmuck an ihren süßen, kleinen Ohren.

Sie sah zum Anbeißen aus. Konnte gar nicht glauben, das ich so eine coole Freundin hatte.

 

Ihre Mutter schlug die Hände über dem Kopf zusammen und rang nach Luft.

Diesmal änderte ihre Tochter die Taktik.

 

„Mami tut mir leid. Ich hab dich lieb. Wir sehen uns später.“

 

Ich sah wie das Mutterherz schmolz. Das musste ich mir merken. So würde ich das auch machen. Nur ohne Latzhose und Ohrringe. Jedenfalls keine Nikoläuse.

 

Nikoläuse. Lustiges Wort. Genauso wie Flohkläuse. Mehrzahl von Flohklaus.

 

So nannten wir den Bruder von Hannes, weil der so klein war und Torsten hieß.

 

Michaela ergriff meine Hand und zog mich mit aus der Tür. Draußen drückte sie mir einen Kuss auf meine Lippen.

 

„Du bist so süß.“ ,flüsterte sie in mein Ohr.

 

Mein Mund wurde so trocken, das die Zunge auf die doppelte Größe anschwoll und am Gaumen festklebte.

 

„Duhh fiehhhst wunnebr aaaas.“ ,kam es in exzellenter Idioten Sprache aus mir heraus.

„Oh. Danke.“ ,tirilierte sie voller Überschwang.

 

Entweder war sie genauso verknallt, wie ich, oder ihr Hörgerät gab den Geist auf oder sie war wirklich dieses wundervolle Wesen aus meiner romantischen Traumwelt, oder bemerkte das ich ein Vollpfosten war und stellte sich geistig mit mir auf die niedrigste Stufe.

 

Musste unbedingt an meinem Selbstbewusstsein arbeiten.

 

Grad gestern las ich in der Bravo, das die Girls großen Wert auf sicheres Auftreten und viel Humor legten.

 

Also witzig war ich. Das sagten alle.

 

Erst letztens traf ich Magnus. Der war wohl an dem Tag nicht so gut drauf, denn er rempelte mich an und fragte, ob ich was auf die Fresse haben wollte.

Spürte wieder, wie sich alles in mir zusammenkrampfte und ich auf

Zwergen Größe schrumpfte.

 

„In Liliput ist heute wieder Markt.“ ,sagte ich und bereitete mich schon mal auf den ersten Schlag und die Einfuhr ins Paradies vor.

 

Er stutzte. Seine Pickelkrater veränderten die Farbe von rot auf Lila. Sein Körper spannte sich an und dann brach ein übermächtiges, gröhlendes Lachen aus ihm heraus, das die Gletscher in Grönland kalben ließ.

 

Er schlug mir seine Affenhand auf die Schulter und ein paar Knorpel und Knöchelchen verschoben sich in Richtung Houston. Und da wusste ich, das ich ein Problem hatte.

 

Versuchte den Schmerz weg zulächeln und legte nach.

 

„Ja. Ne. Der Nils Holgersson ist jetzt auch bei mir eingezogen. In die Socken Schublade und wenn es Abend wird spielen wir immer Zwergenroulette.“

 

Jetzt brüllte er vor Lachen.

 

„Ab sofort bist du Ehrenmitglied der Magnus Gang. Wenn es mal Ärger geben sollte, meldest du dich bei mir.“ ,sprach der Trockennasenprimat, schüttelte meinen Oberkörper und brachte damit den Rest meines Skeletts durcheinander.

 

„Tja. Also. Ich muss dann mal.“ ließ ich so aus dem Gehege meiner Zähne fallen.

 

Wieder lachte er. Jetzt wurde es langsam peinlich.

 

„Auch `ne Zippe?“ ,sprach Affenhugo und bot mir eine Zigarette an.

„Nein, danke. Bin auf Zigarren umgestiegen.“

 

Er griente über das ganze Gesicht, krümmte sich und schnappte nach Luft.

 

Dann kam sein Bus und er stieg ein. War auch besser so. Hätte es keine Sekunde länger ausgehalten.

 

Diese Narretei wurde mehr und mehr zu meinem Schutzschild. Zu einem Wall hinter dem ich mich verstecken konnte.

 

Michaela und ich gingen im Stadtpark spazieren.

 

„Ist dir nicht kalt?“ ,fragte sie.

„Bin in Grönland aufgewachsen.“ ,meinte ich leicht mit den Zähnen klappernd.

„Und in einem Iglu groß geworden.“ ,setze sie nach.

„Genau. Käpt`n Iglu war mein Großvater.“

 

Sie schlug mir mit der flachen Hand auf den Po und lief weg.

 

Ich holte sie an der Busstation ein und wir drängten uns in dem Wartehäuschen aneinander. Das war schön.

 

Fühlte meine Finger kaum noch. Sie klappte den vorderen Teil der Latzhose nach vorne und schob meine Hand unter ihren grünen, gerippten Pullover.

Sie schrie kurz auf, weil meine eiskalte Handfläche ihre warme Haut und den BH berührte. Das Leben kehrte in die Fingerspitzen zurück.

 

Jetzt begann ich zu schwitzen. Ich erlebte diesen Moment ganz genau.

Nahm alles in mir auf:

Den Wind, der sich auf mein heißes Gesicht warf und verzweifelt versuchte es zu kühlen. Ein Bremsenquietschendes Auto. Das lachende Kind von der anderen Straßenseite. Das Rascheln der Blätter. Ein pfeifender Radfahrer. Der zwitschernde Vogel auf dem Dach des gelben Lieferwagens.

 

Wollte nichts vergessen. Wollte mir alles merken.

 

Nun übernahm ich die Führung. Zog sie ganz eng an mich.

So, wie ich es bei -Vom Winde verweht- gesehen hatte.

Dann drückte ich meinen Mund erst zart, schließlich fordernd auf ihre Lippen.

Zwischendurch geriet ich ein bisschen in Panik, weil ich auf einmal vergessen hatte, wie man durch die Nase atmet.

 

Nach einer kleinen Pause hauchte sie:

 

„Du kannst gut küssen.“

„Ich übe viel, wenn ich allein bin.“ ,meinte ich.

„Sei still.“

 

Diesmal küsste sie mich und diesmal blieb mir tatsächlich die Luft weg.

 

Auf dem Weg zur Eisdiele blickten wir uns die ganze Zeit in die Augen und ich erzählte ihr von der Schönheit der Welt und kam mir gar nicht blöd dabei vor.

 

Angekommen, saß sie einfach da und hörte mir zu.

Das hatte noch nie jemand gemacht. Einfach zugehört.

 

Dann erzählte ich von meinem Bruder und das er sich erschossen hatte, als ich 11 war und das dies der einzige Moment in meinem Leben war, als meine Mutter mich in den Arm nahm. Sie weinte und hielt mich ganz fest.

 

Ich dachte, so muss Liebe sein. So schön. So ganz und gar.

 

So weit weg von Einsamkeit und Traurigkeit.

 

Es wurde Zeit. Wir schnappten uns die Nachmittagsvorstellung. La Boum.

Da ging um eine 13 jährige, die nach langen Wirren ihre große Liebe findet.

Das passte.

 

Wir saßen da und lachten und wurden still und unsere Herzen wurden weit.

 

Sie legte ihren Kopf auf meine Schulter. Ich spürte ihre Weichheit und die Hand auf meiner Wange.

 

Fühlte mich ganz alt. Wie eine knorrige Eiche. Erfahren und reich. Gewachsen.

 

Plötzlich trat jemand gegen unsere Stühle.

Wir drehten uns um und sahen Piet, der einen zweiten Stoß tat und dabei hämisch lachte. Wir flogen nach vorne.

Ich sprang auf und brachte mit meiner Löwenstimme das Kino zum erzittern.

 

„Du Arsch. Wieso musst du jedem auf diesem Planeten den Tag verderben.

Ich bin mit meinem Mädchen hier und erwarte das du dich sofort entschuldigst!“

 

Stille. Dann lautes Gelächter und gerade, als er wieder zutreten wollte spuckte ich ihm einen Brei aus Cola und Popcorn auf seine blankpolierten Schuhe.

Er stieß einen spitzen, hohen Schrei aus, der mich an die Liesl erinnerte, wenn sie ihre 5 jährige Schwester nachmachte.

 

Stille. Dann lautes Gelächter. Diesmal vom ganzen Kino.

 

Piets Gesichtshaut änderte sich von Rosa zu weiß und schließlich zu Violett, die dann in ein dunkles Zinnoberrot überging. Stand ihm eigentlich ganz gut, diese Zornesröte und gerade, als er sich auf mich stürzen wollte, kam Magnus mit einem Eis in der Hand die Treppe hinuntergeschlendert.

 

„Bleib sitzen.“ ,sagte er ganz entspannt zu Piet.

 

Der wollte nicht hören und packte mich am Kragen. In diesem Moment gab ihm Magnus eine Ohrfeige, das es nur so knallte.

 

„Bist du taub!“ ,rief er laut. „Ich wünsche euch noch einen schönen Abend.“ ,sagte er zu uns. „Der Film ist scheiße Jungs. Wir verziehen uns.“

 

Zurück blieben zwei Teenager mit offenen Mündern, die nicht fassen konnten, was da gerade passierte.

 

„Oh, mein Gott.“ ,flüsterte Michaela. „Was war das denn?“

„Tja....ähh....“ ,sagte ich.

„Bist du jetzt mit Magnus dicke?“

„Nö. Das ist nur, weil.....“ ,weiter kam ich nicht, denn Michaela grätschte dazwischen.

„Das ist sooooooooooo cool.“ ,erklärte sie, tief Luft holend.

„Jo. Wenn du mit MIR unterwegs bist, passieren öfter solche Sachen.“

,prahlte ich.

 

Eine zittrige Aufregung erfasste sie.

 

Als wir uns wieder setzten gab es Beifall von den anderen Kinobesuchern, denn nun konnten sie endlich den Film weiter gucken.

 

Später liefen wir einfach so durch die Gegend und ich fror mir einen Ast ab.

Versuchte das Zähneklappern zu unterdrücken, was mir nur teilweise gelang.

 

„Ich muss jetzt nach Hause.“ ,sagte sie wehmütig.

„Ich bring dich noch.“

„Das war ein schöner Tag.“

„Du bist schön.“ ,fiel es schüchtern aus meinem Mund.

 

Abrupt blieb sie stehen und schaute mir tief in die Augen.

 

„Du bist der süßeste Junge, den ich kenne. Ich habe mich in dich verliebt.“

,sagte sie gaaaaaaaaaanz leise.

 

Wenn Glück die Sonne und Liebe Schwerelosigkeit war, konnte ich nun schwebend Stahl schmelzen.

 

Nachdem wir uns mit einem laaaaaaaaaangen Kuss verabschiedeten, ging ich gleich mal zu Bert, um ihm von meinem Schweineglück zu erzählen.

 

Leider hatte der sich den Kiefer, beim Sprung von der Teppichkante ausgerenkt und fühlte sich nicht in der Lage mir zu sagen, was für ein toller Typ ich war.

 

 

Naja, da blieb mir nichts anderes übrig, als eine halbe Stunde in jeder Einzelheit zu erzählen, was ich erlebt hatte.

 

Seine Mutter brachte Milch und Kekse. Die futterte ich alle auf, das es nur so staubte. Bert durfte ja nicht.

Wir teilten uns eine Cola, die er für besondere Momente gebunkert hatte.

 

In dieser Nacht schlief ich unruhig. Eine riesige Ameise besuchte mich auf Wolke 7 und fütterte mich mit Popcorn und wir sprachen über die Rettung der Welt.

Ich meinte, heute würde es nicht so passen, aber mein Kalender sagt das ich morgen noch Termine frei habe. So zwischen 13:00 Uhr und dem 5 Uhr Tee könnte ich das noch dazwischen schieben.

Dann stolperte ein grüner Kobold herein und wusch mir die Haare. Eine kleine, weiße Ziege fraß die Orchideen von der Fensterbank und mein grüner Kaktus sang eine Arie aus Mozarts >Entführung aus dem Serail<.

 

Wurde mit einem wahnsinnigen Durst wach, den ich mit 20 Liter Wasser aus der Leitung bezwang.

 

Im zweiten Traum flogen Michaela und ich über ein Tal in dessen Mitte ein riesiger, schwer mit roten Äpfeln beladener, Baum stand.

Ein klarer Bach floss an ihm vorbei. Fliegende Fische balgten sich um gelbe Tennisbälle und Biber bauten sich ein Luftschloss aus rotem Granit.

Wir landeten auf der grünen, saftigen, mit zahlreichen bunten Blumen geschmückten, Wiese.

Michaela trug ein Gewand aus weißen Satin und ich einen Frack mit Zylinder.

Ich hob sie auf meine Arme und brachte sie über den, zum reißenden Fluss angeschwollenen, Bach.

 

„Alex. Alex“ ,drang eine Stimme aus weiter Ferne an mein Ohr.

„Ja. Liebste.“ ,antwortete ich.

„Schläfst du noch?“ ,kam die Stimme wieder.

„Nein. Ich schwebe mit dir.“

„Aufwachen! Du musst zur Schule.“ ,stach mir die scharfe Stimme meiner Mutter ins Mittelohr.

Sie schlug die Decke zur Seite und ich schleppte meinen Körper ins Bad und machte mich fertig.

 

Die Haare wollten wieder mal nicht so wie ich, also setzte ich meinen neuen, schwarzen Hut, Marke Al Capone, auf. Zog meine schwarze Stoffhose und die spitzen Schuhe meines Opas an.

Fand auch eine weiße Krawatte und ein dunkles Hemd.

 

Musste mir in der Schule natürlich das komplette Arsenal der Sprüche anhören, aber das stand ich drüber:

 

A: Altkleidersammlung geplündert?

B: Hat deine Mama dir wieder die Haare geschnitten?

Falsche Farbe. Anstaltskleidung ist weiß.

Ist schon wieder Karneval?

E: Jetzt dreht er völlig durch.

 

Aus der Ferne sah ich Michaela, wie sie mit ihren Freundinnen quatschte.

Diesmal kam sie direkt auf mich zu und gab mir einen Kuss vor allen anderen.

 

„Du traust dich was.“ ,sagte sie anerkennend.

 

Da merkte ich, das dieser Novalis genau wusste wovon er schrieb:

 

Die Liebe erhöht uns und macht uns zu einem besseren Menschen.

 

Die Englischstunde zog an mir vorüber und ich schaute die ganze Zeit auf Michaelas Nacken. Stellte mir vor, wie ich sie da küsste. Das kam mir ziemlich seltsam vor, also schob ich diesen Gedanken zur Seite und küsste ihre Haare. Das war aber noch merkwürdiger und ich ließ das mit dem küssen und stellte mir vor, wie ich ganz nah bei ihr stand und ihre Wange streichelte.

 

Plötzlich flog ein Papierknäuel auf meinen Tisch und holte mich aus meinem Tagtraum.

 

 

 

 

 

 

 

Boah. Kaum hatte man eine Freundin, gehörte man schon zu den Aussätzigen.

Es war halt schwierig alles unter einen Hut zu bekommen.

Schule, Freundin, Englischlehrerin, Hausaufgaben, Essen, Schlafen, Atmen.

 

 

 

 

 

 

Ich knüllte das Papier zusammen und warf es mit einem eleganten Schwung nach hinten zu Uwe. Direkt vor die Füße von Frau Raszikowa.

 

Die hob ihn auf und las ihn laut vor. Dann sagte sie:

 

„Ich würde gern kommen Alex, aber da bin ich schon verabredet.“

 

Schwankte zwischen im Erdboden versinken und einem Wutanfall.

 

Ich ließ beides und meinte:

 

„Kein Problem. Bringen sie die Verabredung mit und wir spielen zusammen

blinde Kuh. Die Augenbinde können sie weglassen.“

 

Der Direktor empfand meine Frechheiten, als überdurchschnittlich frech und wies mich an das schwere Buch über Marco Polo`s Reise zu entstauben und Kapitel 1-18 in Schönschrift abzuschreiben.

 

Nach den ersten drei Sätzen erklärte ich:

 

„Dieser Marco hat tolle T-Shirts gestaltet, wieso musste er unbedingt nach China reisen?“

„Auch, wenn sein Nachnahme Polo ist, bedeutet das nicht, das er T-Shirts in Peking herstellt, oder Polo Reitsport in Dubai macht.“ zickte der Direktor.

„Aha. Und hat Marki auf dieser Reise auch etwas Tolles erlebt, oder alle nur mit seinen Anekdoten über Kublai Khan gelangweilt?“

 

Damit hatte ich ihn.

 

„Er hat wundersame Dinge dort gesehen. Als er nach 20 Jahren heimkehrte hielten die Leute ihn für einen Lügner, aber noch auf dem Sterbebett sagte er: Ich habe nicht einmal die Hälfte von dem erzählt, was ich gesehen habe.“

„Dieser Marco Polo muss ein standhafter Mann gewesen sein.“

„Wahrlich, das war er. Gegen alle Widerstände ist er bei seiner Meinung geblieben und hat seine Aussagen und sein Wissen verteidigt.“

„Ich wünschte, das könnte ich auch.“ ,sagte ich leise.

„Das kannst du. Jeder kann das. Du musst nur deine Angst überwinden.

Aber wir müssen auch verstehen, das wir in all unserem Streben, das Leben und die Liebe nicht vergessen sollten.

Im neuen Testament der Bibel steht: Und wenn ich weissagen könnte und wüsste alle Geheimnisse und Erkenntnisse und hätte allen Glauben, also das ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts.“

 

Musste schlucken. Ich spürte diese Wahrheit in mir. Sie berührte mich.

So, wie Michaela mich berührt hatte.

So ganz verstand ich die Worte nicht, aber sie brachten mich zum Nachdenken.

Ich reichte ihm, in einer etwas zu wichtig geratenen Geste, meine Hand und bedankte mich.

 

„Sorry. Muss los.“ ,rief ich im Rausstürmen.

Kam gerade rechtzeitig mit dem Beginn der großen Pause.

Irgendwas hatte sich verändert. Das Licht schien heller und die Farben waren intensiver.

 

Uwe, Thomas und Bert standen zusammen. Ging direkt auf sie zu und reichte auch ihnen meine Hand.

 

„Eure Freundschaft ist mir wichtig.“ ,sprach ich mit belegter Stimme.

 

Dann wussten wir eine Zeit lang nichts zu sagen, bis Bert unter schmerzverzerrtem Gesicht erklärte:

 

„Nur Brei durch den Strohhalm zu saugen ist auch Scheiße.“

Wir lachten und schlugen uns gegenseitig auf die Schultern, das es nur so krachte.

 

Wir würden noch Freunde sein, wenn die Welt ihr Alltagsgesicht wieder aufsetzte und das war ein gutes Gefühl.

 

Dann stießen sie mich weg und entließen mich zu Michaela.

 

Wir standen nebeneinander und unsere Finger berührten sich.

 

Aus den Augenwinkeln sah ich den Schlag kommen, doch es war zu spät, um auszuweichen. Piet zimmerte mir eine und ich ging zu Boden.

 

„Bleib liegen!!!“ ,schrie er.

 

Was sollte ich tun? Einfach eins werden mit dem Boden und einen Knock out simulieren?

Oder aufstehen und kämpfen?

 

Mein Körper und ich standen auf. Sofort klatschte eine Ohrfeige auf mein Gesicht. Ich flog zur linken Seite und knallte wieder hin.

 

Komischerweise spürte ich keinen Schmerz. Der würde sicher später kommen.

 

„An deine Freundin hat schon jeder Hand angelegt.“ ,rief Piet.

 

Ich sprang auf und rammte ihm meinen Kopf in den Bauch. Er schleuderte mich weg. Ich stand wieder auf. Er wehrte mich abermals ab.

 

Nun kamen Uwe und Thomas dazu. Sie packten Piet und hielten ihn fest.

 

„Entschuldige dich.“ ,schrie ich ihn, völlig außer mir, an.

„Bei der Schlampe?“ ,keuchte er.

„Lasst ihn los!!!!!!!“ ,brüllte ich.

 

Nachdem er frei war, gab ich ihm einen Schlag und legte meine ganze Wut und Traurigkeit und Angst hinein.

 

Sein Körper krachte, wie ein Berg, in sich zusammen.

 

Michaela fiel mir in um den Hals und umarmte mich.

 

Wir gingen hinaus.

In den nächsten Wochen hieß ich in der Schule:

 

 

Der Löwe aus Mitternacht.

 

 

 

Das würde die Magnus Gang

nicht auf sich sitzen lassen

und selbst meine Narrenkappe

könnte mich diesmal nicht vor

dem kommenden Sturm bewahren.

 

 

 

 

Aber, das war mir egal, denn diesen Moment konnte mir niemand mehr nehmen.

 

 

Diesen Moment der Freundschaft und der Liebe.

 

 

 

 

 

 

Mai 2020                                       von Axel Bruss

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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