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Schmuddelkind

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Blogeinträge erstellt von Schmuddelkind

  1. Schmuddelkind
    In einem Anfall spontaner Rebellion gegen die Langeweile habe ich heute in den sozialen Netzwerken gepostet, dass Forscher herausgefunden hätten, der Corona-Virus werde durch Blickkontakt übertragen. Man könne sich vor einer Infektion schützen, indem man mit geschlossenen Augen durch die Welt gehe.
     
    Noch ehe ich mein "April, April!" darunter setzen konnte, wurde meine Fantasie zur Realität der Sicherheitsdürstigen. Auf Youtube sah ich Online-Tutorials, wie man sich mit geschlossenen Augen im Raum orientieren könne. In den Foren bildeten sich zwei Lager. Lager A: "Blickkontakt ist ein soziales Grundbedürfnis. Das lasse ich mir durch kein Virus der Welt verbieten. Macht endlich die Augen auf!" Lager B: "Wenn es nur darum ginge, den eigenen Tod zu bevorzugen, sei dir das zugestanden. Aber Blickkontakt ist eben verantwortungslos und sollte schnellstmöglich verboten werden." 
     
    Bundespressesprecher Seibert erklärte in einer Pressekonferenz: "Zwar tappt man, was die Erforschung des Virus angeht, noch im Dunkeln und sichere Erkenntnisse über die Verbreitung des Virus sind derzeit noch nicht zu erwarten. Allerdings ist die Bundesregierung nach Rücksprache mit führenden Virologen zu dem Schluss gekommen, dass eine Übertragung des Virus durch die Augen nicht zu erwarten sei." Zu diesem Zeitpunkt wurde schon der erste Fall von panischer Selbstblendung berichtet.
     
    Dummheit ist viraler als jeder Virus.
  2. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ich habe nun schon so viele Male angesetzt, dir alles genau und wohlgeordnet zu beschreiben, aber die letzten Tage und Nächte sind zu einem wundervollen Gesamteindruck verschwommen, der keine Zuordnung mehr gestattet. Ich kann dir bestenfalls eine Ahnung dieses Eindrucks geben, indem ich dir Szenen schildere, die mich seither gefangen halten. Eines weiß ich jedenfalls noch sehr genau - dass ich mit meiner Sanny die glücklichsten fünf Tage meines Lebens verbracht habe und ich kann mit guten Gründen daran zweifeln, ob in der Welt der Menschen überhaupt größeres Glück zu erlangen ist.
     
    Alles war voller Freiheit, Schönheit und Leichtigkeit. Wie ich mich in ihrer Wohnung so heimisch gefühlt habe, wo die beiden Katzen ungezähmt um uns herumtollten und das helle Grün ihres Zimmers und die liebevoll gepflegten Pflanzen auf dem hübschen Holztischchen in der Raummitte eine heitere Natürlichkeit ausstrahlten, als verlöre sich irgendwo bei dem großen Fenster die Grenze zu dem dicht bewachsenen Wald davor oder als greife der Wald in das Zimmer hinein! Da umfing mich so eine tief empfundene Ruhe, die im Kontrast zu den Spielereien der Katzen - wie sie einander fingen und um alle Möbel herum rannten und die Kleinere auf den Sessel neben mir sprang, um eine Streicheleinheit von mir zu erzwingen - umso friedlicher erlebt wurde.
     
    Babsi, sie ist das hinreißendste Geschöpf, das man sich vorstellen kann! Das sehe ich jetzt noch viel klarer, obschon ich es doch vorher wusste. Als ich sie zum ersten Mal sah, in ihrem weißen, sommerlichen Kleidchen, ihrem langen, ungezähmten dunklen Haar, ihrem lebhaften Lächeln, meinen Namen als Ausdruck von Seligkeit rufend, ach, mir war so wohl! Zur Begrüßung haben wir uns lange und herzlich umarmt wie zwei Liebende, die einander nach Jahren zum ersten Mal wieder sehen. So oft musste ich mich selbst daran erinnern, dass wir uns vorher noch nie getroffen hatten, was mir angesichts dieser angenehmen Vertrautheit schwer fiel. Wir lachten viel und - oh Babsi, wenn sie lacht... da hatte ich den allergrößten Anreiz, meine Späße zu machen, für die sie einen Sinn hat.
     
    Als wir bei herrlichstem Maiwetter einen Spaziergang machten, da hat sie auf einmal mit freudigem Blick den Arm Richtung Wald ausgestreckt und voller Entschlossenheit ausgerufen: "Querfeldein!", als fänden die unzähligen Reize der reichen Natur umher durch sie ihren Ausdruck. Ich habe noch gelacht, da gingen wir bereits durch das Gebüsch. Bald hatten wir keine Ahnung mehr, wo wir waren, doch als ich inmitten des dichten Strauchwerks ihre Hand hielt, da kümmerte uns das nicht mehr, wussten wir uns doch in gediegener Sicherheit. Ich war erfüllt von einer unbestimmten Dankbarkeit, so dass die Anregung, sie zu küssen mit zutunlicher Macht über mich kam, ohne einen Beweggrund oder eine Absicht dazu nennen zu können. Oh, dass der Mensch immer nach Absichten fragt! Sind Absichten nicht nachträgliche Rechtfertigungen vor den Erwartungen herrenloser fremder Mächte, vor denen wir unsere Gefühle zu verbergen suchen? Dieser Kuss war eine gegenseitige Offenbarung der menschlichen Ursprünglichkeit, in welcher sich meine Leibhaftigkeit aufzulösen schien! Ich habe keine Erinnerung daran, aber ich weiß, dass wir irgendwann wohl doch noch nach Hause gefunden haben müssen.
     
    Es war mir alles in allem so, als ob wir keine ähnlichen Empfindungen hatten. Nein! Wir nahmen teil an derselben Unmittelbarkeit einer wesenlosen Naturerscheinung, so dass alles, was wir taten ganz und gar den Gedanken und Empfindungen des Anderen preisgegeben war. Davon könnte ich dir hunderte Beispiele geben, wovon mir folgende Begebenheit am eindringlichsten in Erinnerung geblieben ist: An einem wolkenverhangenen Nachmittag zog es uns zu den Gärten der Welt am Rande der Stadt, wo die exotischen Gartenkünste aus aller Welt zu bestaunen waren. Beide hatten wir ein genaues Auge für dieselben Wesenszüge der fremden, bunten Blüten. Doch als wir auf unserem Weg einen Spielplatz erblickten, da konnte keiner von uns mehr seine Vorfreude verbergen - ich schreibe bewusst Vorfreude, da es in der Klarheit des Moments keinen Zweifel am weiteren Hergang gab - wir stießen zugleich ein kindlich anmutendes "Karussell!" aus und eilten dorthin, um uns dem geschwinden und unschuldigen Spaß hinzugeben. In ihren Augen konnte ich sehen, wie rein ihre Freude über dieses simple Geschehen war und wie bin ich begeistert, dass sich ein solch feiner Verstand eine derartige Offenheit für das reine Erleben erhalten hat.
     
    Eines Abends, wir lagen nebeneinander auf ihrem kreisrunden Bett, ergab es sich, dass wir Gedichte rezitierten, Heine, Eichendorff und viele Andere, die uns so faszinierten. Als ich Eichendorffs "Abendlich schon rauscht der Wald" zum Besten gab und kam an die wunderschönen letzten Verse "Hier in Waldes stiller Klause, Herz, geh endlich auch zur Ruh", da entfuhr ihr ein neckisches, leicht schelmisches "Zur Ruh?! Wieso denn zur Ruh? Ich will raufen!". Ehe ich mir einen Reim darauf machen konnte, rang sie mich wild zu Boden und lachte laut und herzlich dazu. Darauf hielt sie mich mit Armen und Beinen gefangen, während ich mich mit raschen Bewegungen herauszuwinden versuchte; so ergab sich ein ständiges Kämpfen um eine nicht festgelegte Stellung nach unbekannten Regeln, ein Herumwälzen vom Bett auf den Boden und wieder zurück, ein heftiges Liebesraufen. Und je mehr es am Spielerischen verlor, umso mehr gewann es an Nähe, bis wir nichts weiter waren als zwei Stimmen derselben wunderschönen Melodie, die ein zärtliches, aber in Anbetracht des uns Beide führenden eingänglichen Rhythmus' beinahe überflüssiges "ich liebe dich" ausstießen.
     
    Oh, wie ist es so erfüllend, seine Muse zu lieben! Ich lag auf dem Bett und schrieb:
     
    Du Brunnen meiner tausend Sinne,
    du Anregung in allen Dingen!
    Ganz tief will ich in dir versinken
    und in dem Rhythmus leichter Minne
    schwere Atemnot bezwingen
    und endlich ganz in dir ertrinken.
     
    Sogleich griff sie nach ihrer Gitarre, spielte und sang für mich, sang mein Gedicht mit der kräftigsten Stimme, mit der man ein Liebeslied zärtlich singen kann. Ach, wie ihre zauberhafte Stimme mir ganz tief in Mark und Bein geht und an jeder Stelle meines Körpers heilige Spuren hinterlässt! Der Mensch kann von Schönheit nichts wissen, der diesem Moment nicht beiwohnte.
     
    Voller Mut blicken wir nun einer verheißungsvollen Zukunft entgegen, auch wenn die Situation gewiss nicht einfach ist. Wir sponnen unsere Gedanken, äußerten Ideen, sie könne vielleicht nach Frankfurt ziehen oder ich eröffne in Berlin einen Buchladen oder wir ziehen gemeinsam aufs Land und halten uns einen Hof. Dies sind gewiss alles keine Dinge, die wir in naher Zukunft verrichten werden und den meisten in unserer Lage würde da Angst und Bange, aber dass wir völlig ungezwungen darüber sinnieren konnten, ohne einen Zwang oder Druck zu verspüren, bezeugt unser gegenseitiges Vertrauen. Nichts ist versprochen, doch alles ist möglich und das ist eine süße Gewissheit.
     
    Als ich mich auf den Heimweg machte, da war mir so unwohl, als zöge ich von zu Hause aus. Eine Kraft, so stark, dass jedes Leugnen, jeder Verweis auf die Unsinnigkeit metaphysischer Bilder keine Macht mehr hatte, hielt einen wesentlichen Teil meinserselbst zurück, während mein Körper durch die wildwuchernden Wälder Brandenburgs reiste und sich bald zwischen den grünen Hügeln Thüringens wiederfand. Mich erreichte zum ersten Mal eine Ahnung, wie schön dieses Deutschland sein muss, das mir doch so fremd ist. Aber diese Schönheit kann die Sehnsucht nach Heimat nicht befriedigen, die ich endlich in Berlin fand.
     
  3. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ihre Zeichnung an meiner Wand spendet mir wertvollen Trost. Wie die beiden Wölfe inmitten der romantischen Landschaft so sehnsüchtig in die Ferne blicken... ach, in allem, was sie tut, in jedem Detail ihrer Kunst, in jedem Wort, womit sie unserem Dasein so viel Leichtigkeit und Sinn verleiht, in der Unbekümmertheit ihrer Gesten ist eine unerdenklich erfüllende Freiheit erlebbar. Im Geiste dieser Freiheit könnte ich auf so Vieles verzichten, fast als sei ich über das Atmen erhaben.
     
    Doch, und es mag dir wie Wahn erscheinen, mir dürstet nach so viel mehr, denn ich leide an einem ungefähren Mangel. Immerzu verzehre ich mich nach einem Wort von ihr und wenn ich sie reden höre, obgleich ich eine nie gekannte Seligkeit erfahre, will der lebendige Wunsch nach mehr nicht weichen. Was ist dieses "Mehr"? Es ist jedenfalls kein Mehr an Worten und fast glaube ich, dass es kein Wunsch ist, den ein Mensch einem erfüllen kann. Woher kommt nur diese unergründliche Sehnsucht?
     
  4. Schmuddelkind
    Es gibt gute Nachrichten! Endlich konnte ich den Antrag auf Corona-Soforthilfe für Freiberufler ausfüllen. Nein, der Antrag wurde noch nicht bewilligt. Nein, er wurde noch nicht einmal geprüft. Ich hatte auch bis dahin noch keinen Kontakt zu einem Verantwortlichen - weder persönlich, noch telefonisch, noch schriftlich. Aber mir wurde endlich erlaubt, den Antrag auszufüllen. Juhuu!
     
    Warum ich mich darüber so freue, bedarf sicherlich Einiges an Erklärung. Seit letzten Freitag um 12 Uhr war es möglich, diesen Antrag online - und nur online - auszufüllen, verbunden mit dem Versprechen: "Wir lassen niemanden im Stich." Punkt zwölf klickte ich auf die Schaltfläche, die mich zum Schotter führen sollte. Punkt zwölf brach die Internetseite völlig überlastet zusammen. Wer konnte auch ahnen, dass halb Berlin gleichzeitig die Hand ausstreckt, wenn es 5.000 Euro zu verschenken gibt?
     
    Ab 13 Uhr war es dann möglich, sich in einer Warteschlange einzureihen. Pünktlich um 13 Uhr reihte ich mich ein - an Platz 56.739. Zwei Stunden später war ich bereits auf Platz 53.244 vorgerückt. Bemerkenswert, dass die Regierung die Digitalisierung auf alle Aspekte behördlicher Vorgänge anwendet. Wenn man keine Nummer ziehen müsste, würde das die Menschen nur irritieren. So fühlt man sich gleich wieder wie beim Amt - nur eben zuhause.
     
    Im Laufe des Tages erreichte ich immerhin einen Platz zwischen 40.000 und 50.000, als mir mitgeteilt wurde, dass die Bearbeitung nun bis zum Folgetag pausiere und ich den PC mehrere Tage anlassen müsse, um meinen Platz in der Warteschlange nicht zu verlieren. "Mal sehen, ob die Soforthilfe meine erhöhten Stromkosten deckt", dachte ich. Am nächsten Tag - ich befand mich dann bereits auf Platz zweiunddreißigtausend nochwas - kam es, wie es kommen musste: Aus nicht abzugewöhnender Vernunft schaltete ich den PC aus und verlor meinen privilegierten Platz im vorderen Zehntel der Warteschlange.
     
    Gerade so konnte ich den Impuls unterdrücken, meinen PC zu zerschmettern. Leider hat die Behörde über das Wochenende auch ihre Internetpräsenz eingestellt. Ordnung muss sein - auch in der Krise. Also konnte ich mich erst am Montag wieder in die Warteschlange einreihen - Platz 152.384. Als ich mich heute, Mama Merkel im Stillen dankend, der Spitze der Schlange näherte, war ich zum ersten Mal froh, mich in Quarantäne zu befinden. Denn das tagelange Campieren vor dem PC in der Hoffnung auf mir zustehende Leistungen hat auch einen Haken: Wenn man an der Reihe ist, hat man maximal 30 Minuten Zeit, seinen Platz in Anspruch zu nehmen. Man stelle sich mal vor, jemand müsste zu dieser Zeit arbeiten - mitten am Tag! Die armen Trottel!
     
    Für das Ausfüllen des Antrags wurde mir dann eine Stunde Zeit gegeben. Ein Zeitfenster, das mir nicht erlaubte, mich von der Nennung dutzender Paragraphen unter Drohung von Gefängnisstrafe abschrecken zu lassen. Viel zu lange hatte ich gewartet, um einen Freiheitsentzug annähernd so hoch zu gewichten wie die Möglichkeit, Formulare auszufüllen. Da ist es eben von Vorteil, ein Gott zu sein.
     
    Interessanterweise gab es keine einzige konkrete Frage zu meinen wirtschaftlichen Verhältnissen. Was dem am nächsten kam, war lediglich eine Aufforderung, ich solle bestätigen, dass ich Geld brauche. Damit hatte ich dann auch keine Probleme. Wenn es so einfach ist, warum lassen sie die Leute dann ihr Leben ins Internet verlagern? Warum nicht gleich das Geld mithilfe von Drohnen auf die Straße regnen lassen?
     
    Aber so leicht wie man das Geld bekommt, so leicht können sie es einem auch wieder wegnehmen. Eine genaue Bedürftigkeitsprüfung findet ggf. hinterher statt. Naja, wenn der Staat dann irgendwann Geld von mir zurückverlangt, kann er gerne eine Nummer ziehen.
     
    Denn am siebten Tag erschuf ich die Gleichgültigkeit.
  5. Schmuddelkind
    "Bloß nicht den Verstand verlieren! Bloß nicht den Verstand verlieren! Bloß nicht den Verstand verlieren!", bete ich mir immer wieder vor, während ich die Dielen zähle. Schmuddi, du bist doch verrückt! Geh lieber mal ans Fenster! Da kommst du auf andere Gedanken.
     
    Der Typ im Kapuzenpulli trägt eine Packung Toilettenpapier - scheiß Angeber! Ansonsten sind die Straßen so leer, dass Berlin auch gut ohne auskommen könnte. Wie eine Stadt ohne Straßen wohl aussehen würde? Das wäre dann wohl ein einziges, riesiges Haus. Dann wäre es auch nicht so schlimm, das Haus nicht verlassen zu können. 
     
    Ach, das ist überhaupt das Blöde an der Quarantäne, dass man nicht mehr rauskommt. Ob es verantwortungslos wäre, ein Inserat zu schreiben? "Biete Aussicht auf Corona-Infektion gegen soziale Interaktion." Wenn der Verrückte freiwillig zu mir kommt... Ist vielleicht gar nicht so verrückt. Lieber jetzt anstecken, als in ein paar Wochen, wenn die Krankenhäuser überlastet sind.
     
    Diese Gedanken sind selbst mir zu absurd und so falle ich wieder zurück in die Langeweile. Es ist so langweilig, ich würde sogar arbeiten gehen, um etwas zu tun. Ich könnte ja mal meine Mutter anrufen... Nein, dafür ist mir nicht langweilig genug. Ach, ich werde einfach wieder die Dielen zählen. Das verliert eigentlich kaum an Reiz.
  6. Schmuddelkind
    Babsi,
     
    sie wird zu mir kommen! Mit den freudigsten Worten hat sie mir versichert, oh welch ein Verlust, wenn ich es wiedergebe, dass sie mich spätestens in einem Monat besuchen wird. Und dieses Mal füllt sich der Gedanke daran mit so viel Schönheit, dass es an Gewissheit heran reicht, so dass es nun entweder wahr ist oder ich träume. Alle Macht ist mir entglitten! Meine Gesichtszüge lassen sich nicht mehr zügeln in ihrem Bestreben, die Ahnung einer geheimnisvollen Spontaneität zum Ausdruck zu bringen.
     
    Ich habe es mir bereits tausend mal vorgestellt und lebendig erlebt und weiß doch, dass dies letztendlich bloß Hervorbringungen von Erfahrung und Fantasie sind. Da schäme ich mich fast, dass ich ihr einzigartiges Wesen mit der Beschränktheit meiner noch so reichen Fantasie und schönsten Erfahrung betrachte. Ich sollte gar nicht mehr daran denken, wenn der Gedanke so karg ist verglichen mit der erfüllenden Vagheit der reinen, naiven Vorfreude.
     
    Und doch - wenn ich daran denke, mit ihr die Eindrücke zu teilen, die ich mein eigen wähne, Eindrücke der sanften Farben der Gräser und Apfelbäume am nahen Hang bei Abendsonne, des wohlig stimmenden grünen Lichts, worin alles am Enkheimer Ried versunken ist, der engen Pfade in meinem Wäldchen, wo jede Lücke vom Efeu so durchdrungen ist, dass man das Gefühl hat, fernab des gewöhnlichen Daseins zu wandeln, Eindrücke, die in ihrer Fülle und Besonderheit ganz in meinem Allerinnersten eingeschlossen sind, dass ich nicht weiß, wo mein Körper aufhört und die Natur anfängt... da kann ich mich des Glücks nicht erwehren, das die Vorstellung in mir frei legt, sie werde an diesen intimen Empfindungen teilhaben. Wenn bereits die Erwartung dieses Treffens so voller Nähe ist, wie wird es dann endlich sein, wenn sie vor mir steht, so nah, dass ich sie berühren könnte?
     
  7. Schmuddelkind
    Ob diese Tiefe meiner Empfindungen auf Gegenseitigkeit beruht oder ob sie diese zumindest erwirken mag, ist in der Tat eine Frage, die ich gerne beantwortet finden möchte. Ich kann dir darauf nur Albernes sagen: Wenn ich meine Gedanken nicht zu Ende denke, nicht einmal bis zum ersten Punkt, um mich in ihren Gedanken zu verlieren, ganz nah, ganz tief, wenn ich sie wie ein Gedicht lese, wenn ihr Schweigen unerträglich laut in mir wird und ich sie anrufe wie in einem Gebet, um ihre Stimme zu hören, so kann ich mir jedenfalls darauf keinen anderen Reim machen als dass so viel Sehnsucht nicht von einem einzigen Menschen allein empfunden werden kann - fast als müsse sie diese Sehnsucht teilen, wenn in dieser Welt etwas Sinnhaftes sein soll.

    Wärst du bei mir
    Wärst du bei mir an meiner Brust,
    verlör ich keine Träne und kein Wort
    darüber, wie es wär, wärst du jetzt fort,
    als hätt ich davon nie gewusst.
  8. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ihr Foto erfüllte mich heute über den ganzen Tag mit beschwingter Heiterkeit. Wie bin ich ihr dankbar, dass ich an solch einem trüben Tag so viel Schönheit sehen darf! Ich weiß nicht, soll ich ihre Augen mit dem leuchtenden Blau des seichten Meeres an einem hellen Sandstrand vergleichen oder das Meer mit ihren Augen? Doch warum überhaupt vergleichen? Warum alte und benutzte Worte gebrauchen für einen wonniglichen Eindruck, der so spontan in meinem Geiste entsteht und mein ganzes Wesen auf eine Weise einnimmt, die mit jedem Wort an Kraft verlöre.
     
    Sind Begriffe nicht in Wirklichkeit Unbegriffe, die unfähig, den Zauber in den Dingen einzufangen, den Menschen vom wahren Begriff, vom Begreifen des reinen Gefühls abbringen? Nichts wäre über sie oder mich oder uns gesagt, suchte ich nach einem Wort für unsere Beziehung, sagte ich, sie sei eine Brieffreundin, eine Freundin, meine Angebetete. Ach, wie sind all diese Worte so falsch! Und wie sind die unzähligen sentimentalen Seufzer so wahr und vielsagend, die mir entfahren, wenn sie etwas äußert wie: "Warum bist du nur so weit weg?" Seufzer, die lange entstehen, ehe ich einen Begriff oder irgendeinen Gedanken dazu habe, als unterstünden meine Lippen und meine Stimme in dem Augenblicke ganz ihrer Macht.
     
    Mein hilfloses Gestammel vor der Herzlichkeit und Wärme ihres Ausdrucks ist so viel weiser als jedes Sinnieren darüber, wer sie für mich ist oder sein könnte.
     
  9. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ich glaube, zu träumen, so schwärmerisch ist mir zumute! Nie weiß ich, ob ich nun glücklich sterben will oder ewig leben möchte, wenn ich sie um mich habe. Als sei das Leben mit einem kurzen Blick in ihre lachenden Augen getan, als sei nichts mehr zu tun, als die Arme in der Gewissheit eines tragenden, warmen Frühlingswindes weit auszustrecken, über den Belangen der Menschen schwebend, so einfach ist doch alles, wenn ich ihr im Wald verspielt hinterher jage, wie ich es getan habe. Querfeldein rannten wir wie Kinder durch die Brombeerbüsche, vorbei an der nicht eben seichten Senke, die ehemals ein Wasserlauf dort geschaffen haben muss, weniger von den Dingen an sich als vom schöpferischen Eindruck derer Bewegung aufnehmend und kamen am Waldesrand zu stehen, überwältigt vom Anblick der olivgrünen Wiese, die sich zwischen uns und dem Hang in der Abendsonne zu weiten schien. "Oh, wie ist das schön!" meinte sie, im Gegenwärtigen vollkommen aufgegangen, während ich sie in meine Arme nahm. Jene Nacht verbrachten wir auf dem Bergener Hang auf einer Bank, abertausend Sterne über uns, die Lichter der Stadt unter uns, so dass wir nicht wussten, wo der Himmel aufhört.
     
    Es gibt Geschehnisse, da ist es beinah greifbar, dass unsere Handlungen bloße Hervorbringungen derselben sinnerfüllten Monade sind, etwa wenn sie meine Frage bejaht, ehe ich sie auch nur zur Hälfte aussprechen kann oder als ich auf die Trauerweide am Ufer des Sees just in dem Moment zuzurudern begann, als sie mir ins Ohr flüsterte: "Da wollen wir uns verstecken." oder als ich mich im Wilhelmsbader Schlosspark auf die Wiese warf in der fraglosen Gewissheit, sie würde ihren Kopf auf meine Brust legen und ich mich selten wichtiger gefühlt habe, als ihr als Kissen zu dienen. Und es gibt, ach... so viele Wunder an ihr, für die schlichte Dankbarkeit zu empfinden kaum auszureichen scheint, um mein angeregtes Gemüt zur Ruhe zu bringen... wenn ich Ausflugsziele aufzähle in der Hoffnung, etwas davon könnte sie ansprechen, worauf sie nur mit sanftem Wohlwollen reagiert: "Was immer du willst. Hauptsache, du nimmst mich mit!" oder wenn sie mit jedem Einfall, sich unversehens mit einer ganz anderen Sache zu beschäftigen, mich mühelos dafür begeistert, mit jedem unverhofften Kuss, den ich zart im Nacken spüre, wenn ich etwas lese, bis mir die Worte vor den Augen verschwimmen und ich nichts lieber tue als meinen Heine beiseite zu legen, überhaupt mit jeder Offenbarung ihrer plötzlichen Impulse ihriges dazu tut, damit wir beide im Zustande der völligen Hingabe für das wohlige Erleben dahin taumeln, so dass der Abschied wie ein überraschender Wetterumschlag über uns kommt.
     
    Doch bei all dem Vergnügen, muss ich eine Besorgnis erwähnen: So wie in dem Moment, bevor ich sie küsse, all meine Sinne nur dem gewissen, innigen Kuss zugeneigt sind und dem Augenblicke selbst dadurch seinen Zauber geben, ihn jedoch der Gegenwärtigkeit in der Lust auf das Kommende berauben, so geschieht alles, was wir teilen, jede zärtliche Berührung, jedes verständnisvolle Zublinzeln, jede vertraute Heiterkeit in der Erwartung einer noch tieferen Verbundenheit, als befände ich mich in einem Traum und wüsste davon und möchte aufwachen, um sie endlich mit meinen leiblichen Augen zu sehen, ihr wundervolles Wesen, von dem ich nur eine Ahnung haben kann, bei wachem Verstand tief im Inneren begreifen. Ich möchte ihr so nahe sein, dass ich mich durch ihren Herzschlag lebendig fühlen kann! Doch ist eine nähere Betrachtung denn wirklich einem tieferen Verstehen zuträglich? Ist der Wald nicht viel reicher durch seine herrliche Stille und das unplastische Grün, welches einem umgibt, als durch die kleinen Verästelungen, die man mit viel Mühe in den Blättern seiner Bäume genau beschreiben kann? Ich spüre, dass dies umso mehr für die Betrachtung von geliebten Menschen gilt, doch in meinem fortdauernden Begehr, mich zum Ausdruck zu bringen, kann ich nicht anders, als sie zu fragen, woran sie denkt, wenn sie angestrengt ins Leere schaut oder was sie empfindet, wenn sie eine Sorge äußert. Ich will ihr nahe sein!

    Mir ist, Babsi, als stürze mich ihre unbefangene Seele ins Verderben, als sei Liebe mein Verhängnis. Die Liebe, dieses banale Rätsel - schon so oft in tausenden Jahren wiederholt, aber so neu, dass mir mein Verstand und aller Gelehrten Meinungen wertlos sind, wenn ich im Kummer an sie denke, wie nur ich an sie denken kann, wie ich nur an sie denken kann.
     
    Verzeih, du wirst in meiner Rede kaum mehr als die Niedergeschlagenheit eines wirren Mannes erkennen können und ich sollte dir mehr darüber schreiben, wenn ich nur nicht mit jedem Gedanken daran bitterlich weinen müsste. Verzeih!
     
  10. Schmuddelkind
    Nachdem der Winter ausgefallen war, schneit es nun zum Frühlingsbeginn. Die Menschen auf der Straße verziehen das Gesicht darüber in erkennbarer Empörung, fast so, als glaubten sie, ihr Gesichtsausdruck könnte irgendetwas an der Willkür höherer Mächte ändern.
     
    Hier drinnen ist es mir hingegen völlig egal, ob es schneit, regnet oder stürmt. Ich bin über das Wetter erhaben. Genau genommen bin ich über all eure Belange da unten erhaben. Gesteigerte Grundaggressivität, sinkende Aktienkurse, Hamstereinkäufe, aufgeblähter Organschwarzmarkt - geht mir alles am Arsch vorbei. Ich bin ein Gott und lebe von euch entrückt in meinem absolut ereignislosen Himmel. Huldigt mir und lasst euch von meinem Segen infizieren! Ich führe euch in mein Himmelreich und setze euch die Corona der Absolution auf!
     
    Wahrlich, ich sage euch. Gesegnet seien die Umtriebigen; denn sie werden in Quarantäne ruhen. Gesegnet seien die Hungernden; denn sie brauchen kein Klopapier. Gesegnet seien die Toten; denn sie können nicht sterben.
     
  11. Schmuddelkind
    Babsi!
     
    Etwas tun soll ich?! Und dann gleich etwas Sinnvolles? Du meinst also, ich sei untätig. Sei dir dessen versichert, dass kaum eine viertel Stunde vergeht, ohne dass ich zum Stift greife, um irgendetwas zu schreiben, irgendeinen Gedanken, ein Gedicht oder einen Brief. Ich schreibe wie ein Getriebener in der Hoffnung, wenn es auf Papier sei, dann sei dieses ganze schwere Gift aus meinem Herzen und meinem Körper geschieden. Dennoch, du hast recht: ich tue nicht genug. Ich schreibe nicht genug. Ich könnte niemals genug schreiben!
     
  12. Schmuddelkind
    Ob ich Grund zur Hoffnung habe? Ich habe Hoffnung, nach der mein Herz verlangt, die jeden Grund hinfällig macht. Ist das nicht genug? Und ich weiß, was du mir entgegnen wirst. Du wirst mich zur Besonnenheit mahnen und mich fragen: "Hoffnung, was ist das? Du kannst sie nicht berühren, nicht umarmen, nicht küssen." Ich habe Hoffnung. Und sollte ich daran zu Grunde gehen, so habe ich für diese Hoffnung gelebt. Wenn das kein gutes Leben ist, dann kann unter dem Himmel kein gutes Leben sein. Jedenfalls ist es mehr, als für Brot und Arbeit zu leben.
  13. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ich bin ganz beseelt von der Aussicht, sie bald in meine Arme schließen zu können! Das ist der Gedanke, mit dem ich morgens aufstehe und das ist der Gedanke, mit dem ich abends einschlafe und es ist der Gedanke, der mir immer wieder den Tag sinnvoll erscheinen lässt, an dem ich meine sonst so bescheidene Existenz voranschleppe. 
     
    Wie viele Male habe ich gestern während meiner Route durch den wunderschönen Spessart die malerische Landschaft gar nicht gesehen, da ich nur den wohlgeformten Sinn ihrer Worte bei mir hatte und wie oft half mir der herrliche Anblick der Wiesen und Felder, die auf den rundlichen Hügeln in unerdenklich schönen Farben leuchteten, darüber hinweg, nicht eben ihrer Stimme lauschen zu können! Wie oft konnte ich voller Stolz ins Tal rufen: "Sie liebt mich!"; denn dass sie es tut, das fühle ich so eindringlich, nah und gewiss, wie mir das Herz schlägt, wenn ich an sie denke. Dennoch - so oft kam es mir wie ein Mangel meines eigenen Daseins vor, dass sie nicht bei mir ist! Da bin ich die eine Hälfte einer Umarmung, ein Kuss ins Leere, ein unbekanntes Versprechen. Oh, welch herber Reichtum, aber ein Reichtum ganz bestimmt!
     
  14. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    wie unzureichend bin ich mir selbst, da mir fehlt, was mir am meisten wert ist und ich schäme mich ob meiner Eitelkeit, dennoch nach Ausdruck zu suchen. Als wir gestern telefoniert haben, war Sanny - oh wieso zwinge ich mich selbst zu der Erinnerung - so traurig, die unerfüllte Sehnsucht nach Nähe wiederzugeben. Ihre Stimme, beinahe stumm, trug Züge einer verzweifelten Sinnsuche in einem tragischen Geschehen, dem wir unsere Teilnahme nicht versagen können. Und ich... ich konnte meine Tränen nicht länger zurückhalten. Zu treffend drückte sie die Essenz meiner inneren Unruhe aus, als sie seufzte: "Komm zurück!", da ich doch, kaum zu Hause angekommen, vom Willen ganz durchdrungen war, wieder abzureisen.
     
    Der Tag erscheint mir wie eine heitere Melodie, in der meine Seele voller Vorfreude auf den Schlussakkord aufgeht, der jedoch ausbleibt, so dass mein Bewusstsein zu einem leidvollen Warten verkommt, wenn ich in den Momenten an sie denke, in denen ich erkenne, dass Denken nicht genug ist. Wie soll ich nun mehr sein, als eine ungenaue Frage nach mir selbst, auf deren Antwort ich noch so lange warten muss?
     
  15. Schmuddelkind
    Ich gehöre zu den Menschen, die nicht im Flugzeug oder Bus schlafen können. Dementsprechend müde war ich von dem langen Flug von Frankfurt über London nach Bangalore. So müde, dass ich nicht verstanden habe, was der indische Polizist in der braunen Uniform von mir wollte, der mich direkt nach der Gepäckkontrolle ansprach - ich muss vorwegschicken, dass ich nie einen rechten Zugang zu dem Englisch mit indischem Akzent fand. Ich hatte bereits vorher aufgrund der Schilderungen des Indien-erfahrenen Vaters meiner Freundin gewusst, dass die indischen Behörden bei Europäern gerne überkorrekt sind, um den Eindruck einer fortschrittlichen, durchorganisierten Bürokratie zu erwecken. Also gab ich ihm alle Papiere, die ich bei mir hatte und auch wenn ich nicht erfahren konnte, worum es eigentlich ging, hat er mich nach kurzer Durchsicht durchgewunken. Zu allererst habe ich den ersten Reisescheck eingelöst; denn ohne Geld geht auch in Indien nichts und mit Geld kommt man sehr weit.

    Ein paar Schritte und dann war es endlich so weit - der erste Atemzug in der indischen Nachtluft. Die Nacht erschien mir merkwürdig schwül und was ich im fahlen orangefarbenen Laternen-Licht von Bangalore erkennen konnte, erinnerte mich beklemmender Weise an Frankfurt: hohe Gebäude, breite Straßen, Dreck. Doch allzu lange blieb mir nicht, um mich an die neue Umgebung zu gewöhnen; denn sofort stürmten dutzende Männer auf mich zu, schrien wild durcheinander und kamen mir unangenehm nah. In all dem Wirrwarr konnte ich noch verstehen, dass sie mir helfen wollten, meinen Bestimmungsort zu finden. Ich gab zu verstehen, dass ich zum Inlandsflughafen musste und mit der größten Freundlichkeit erklärte man mir, dass der nur ein paar Meter um die Ecke liege. Ich gab dem Nächststehenden 50 Rupien (ein Euro und ein paar Gequetschte) und machte mich auf den Weg dorthin.

    Es war ein geradezu winziger Flughafen, in militärisch anmutendem Braun gehalten. Als ich auf der harten Metallbank wartete, wurde mir klar, dass ich es schwer haben würde, die vier Stunden bis zum Weiterflug ohne Schlaf auszuhalten - und schlafen wollte ich mit Bedacht auf mein Gepäck nicht. Daher kaufte ich mir am nächstbesten Stand ein undefinierbares Milchshake-ähnliches Kaffee-Getränk. Kurz darauf war es nicht mehr die Müdigkeit, die mich beschäftigte, sondern meine Gastral-Aktivität. "Schnell zur Toilette!", dachte ich, doch als ich da ankam, dachte ich nur "schnell wieder raus!" Ich muss wohl nicht ins Detail gehen, aber es war unschön. Also verbrachte ich die nächsten vier Stunden totmüde und mit Bauchschmerzen, gelangweilt auf einem öden, relativ einsamen Flughafen, bis ich endlich meinen Anschluss-Flug antreten konnte.

    Tatsächlich konnte ich während des Inland-Fluges sofort schlafen und wachte erst wieder mit flauem Magen auf, als das Flugzeug seine Landeschleife drehte. Sicherheitshalber kramte ich schon die Kotztüte hervor, während sich mein Sitznachbar, ein älterer Herr in feinem Dress als Thomas-Christ vorstellte (in Indien ist es durchaus nichts Unübliches das Gespräch direkt mit religiösen Fragen einzuleiten). Wir unterhielten uns also bis zur Landung (etwa eine halbe Stunde lang) über das Christentum, über den Hinduismus und wie die Hindus christliche Traditionen aufgreifen und umgekehrt, während meine Augen immer wieder in Richtung der weit ausgedehnten Kokospalmen-Wälder bei Trivandrum abschweiften, die mir eine Vorahnung von der ursprünglichen Schönheit der Natur Keralas gewährten. Es scheint in Südindien Sitte zu sein, dass man jungen Ausländern versichert, sie würden eines Tages zu bedeutenden Persönlichkeiten ihres Landes; anders kann ich es mir nicht erklären, dass der mir völlig fremde Mann sagte: "You will be President of Germany." Das war noch vor Wulff und Köhler, so dass ich es nicht als Beleidigung aufgefasst habe.

    Auf dem Boden Keralas angekommen, hielt ich Ausschau nach meiner Freundin und als ich sie vor dem Gebäude sah, das Meer im Hintergrund, wollte ich ihr am liebsten in die Arme fallen, hatten wir uns doch zwei Monate lang nicht gesehen. Doch das wird in Indien als unhöfliche Zur-Schau-Stellung von Intimität angesehen, so dass ich mich zurückhielt und ihr in etwa in der gleichen Weise die Hand gab wie ihrer Freundin. Wir stiegen sogleich in die wartende Rikscha, wo ich die angenehme Abkühlung genoss, die der Fahrtwind mir bot.
     
    In einer Rikscha sitzt man zu dritt sehr gedrängt auf der Bank in einer kleinen Kabine, die zu den Seiten hin offen ist. Ich hielt mich an meinem großen Rucksack fest, der zwischen meinen Beinen kaum Platz hatte. Der Fahrtwind wehte mir um die Ohren als Bote eines Abenteuers, auf das ich mich sehr freute; jedoch konnte ich davon nicht viel zeigen, da ich am liebsten den Kopf auf meinen Rucksack sackend eingeschlafen wäre. Doch die vielen neuen Eindrücke - die gewöhnungsbedürftige Fahrweise des Rikscha-Fahrers, wie er etwa zwei Rikschas, die nebeneinander fuhren auf dem sandigen Gelände links neben der holprigen Straße überholte, ein anderes Mal rechts über den Mittelstreifen überholte, zwischen einer Rikscha und einem entgegenkommenden LKW hindurch, die Kokospalmen rings umher, zwischen denen sich allerlei dichtes Strauchwerk und gelegentlich eine Familie in einer Hütte eingerichtet hatte, die vielen Ortschaften, die so zerfasert dem Wald eine weite Ausdehnung einräumten, dass ich nie wusste, ob ich mich in der Natur oder der Zivilisation befand, die Gesangs ähnlichen Rufe geschäftstüchtiger Händler - diese Eindrücke haben alle meine Sinne eingenommen, weswegen ich den teils fürsorglichen, teils neugerigen Fragen meiner Begleiterinnen nur dürftig nachkommen konnte. Wir benötigten etwas mehr als eine Stunde für die knapp 50 km nach Varkala - ein Tempo, an das ich mich noch gewöhnen sollte.

    Unser Hotel, ein hübsches blaues Haus im Kolonialstil, lag etwas abseits. Eine Kokospalme stand neben dem Pfad zum Eingang und dahinter erstreckte sich der Wald. Wir fanden uns gleich auf dem Balkon ein, der die beiden Zimmer miteinander verband, die wir bezogen. Da ich einen vorübergehenden Anflug von Wachheit erfuhr, fühlte ich mich konzentriert genug, zu reden und wir aßen die frischeste Mango und unterhielten uns, bis wir bei Sonnenuntergang (gegen 19 Uhr) unter unsere Moskito-Netze schlüpften.
  16. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    wie mir die Enge hier unerträglich wurde und mich die eigene Trägheit angeekelt hat, habe ich mich mit dem Mond nach draußen gewagt. In den Sternen fand ich gute Gesellschaft, als ich mich in die Weite der Mainwiesen fallen ließ. Mit einem Moment packte mich das Staunen: da strahlen die Sterne so hell und ich kann keinen näheren Sinn darin erkennen, als den, dass sie millionen Jahre später von mir betrachtet werden können. Dabei wissen sie gar nicht darum.
     
    Vielleicht ist die Natur der Dinge gar nicht so verschwiegen. Vielleicht braucht man nur mehr Zeit und Aufmerksamkeit, um ihren Geheimnissen einen Sinn zu entlocken. Es mag sein, dass sich im Leben nichts anderes zuträgt, als dass einem die Zeit davon läuft und man froh sein kann, ein paar dieser Geheimnisse zu entdecken und sich somit selbst nahe zu kommen. Durchaus erscheint das Leben dem einen als bedeutungsvoll, fordernd und erfüllend, dem anderen als sinnlos und leer. Das gibt mir zu denken: Ist das Leben nicht einfach das, was wir entdecken, während wir es tun und kann das nicht als Zweck des Seins genügen? Ist es etwa mehr als ein Selbstzweck, den wir erwarten?
     
    Ach, ich weiß nicht. Es ist vielleicht alles alberne Philosophie, die ich vor mir her trage, aber sie hat mir heute durch die Nacht geholfen. Weißt du, in der Nacht vermisse ich ihre Stimme am meisten.
     
  17. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ich lebe noch, aber meine Tod, wenn ich atme. Ich dachte, mir täte der Abstand zu ihr gut. Aber nichts kann mir als Linderung gereichen, weder ihre Worte, noch ihr Schweigen, weder meine Ruhe, noch der nutzlose Versuch, etwas mit meiner Zeit anzufangen, weder der wehmütige Blick zurück, noch der hoffende Blick nach vorn, der doch mehr von meiner Verzweiflung preisgibt, weder Reue, noch Wut.
     
    Längst bin ich mutlos geworden, grundlos, ja beinahe gegenstandslos. In meiner Existenz kann ich nichts anderes mehr sehen, als die Suche nach einer Rechtfertigung derselben. Wird dann nicht bald die Suche auch hinfällig? Babsi, nenn mir einen Ort, zu dem ich gehen kann oder ein Gift, das ich trinken kann, um ich selbst zu sein!
     
  18. Schmuddelkind
    Ach Babsi,
     
    wie mir weder das Gefühl der Wachheit noch der Müdigkeit in meine Sinne gelangen will und ich dennoch aufstehe, um nicht liegen zu bleiben und zu Bett gehe, damit der Tag vorüber geht, als sei ich ein zum Tode Verurteilter, der jeden Abend einen Strich an die Zellenwand zeichnet, nur um zu sich selbst sagen zu können, er habe einen weiteren Tag hinter sich gebracht, wohl wissend, dass es lediglich ein Tag des stumpfen Wartens war, wie ich mich mit jedem Gedanken entmenschliche, indem ich mich zur bloßen Folge meines Daseins mache, wie ich mich erdulde und an der Duldung kranke! Dies alles hat viel Undeutliches und Widersinniges, wofür ich mich schäme.
     
    Und ist das Menschsein nicht gemeinhin Grund zur Scham? Dieses stete Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeit im Wissen um die bloße Denkmöglichkeit eines reichen, erfüllten Lebens, das vor allen Ausschlägen eines wankelmütigen Schicksals wie ein großer karger Fels hervorsticht, mag denjenigen nicht berühren, der entweder aus Verderbtheit und Dekadenz diese Diskrepanz erträgt oder sie aus Einfältigkeit gar nicht sieht. Ach, wie sind sie zu beneiden, die schlichten Gemüter und die abgestumpften Zynisten, die Naturmenschen und die vollkommenen Bürger! Und je länger ich darüber nachdenke, umso ärger beneide ich die, die darüber keinen Gedanken verschwenden und umso mehr erschrecke ich vor mir selbst.
  19. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    verzeih mir, dass ich so selten schreibe! Mir fehlt selbst hierzu meist die Kraft. Ich wage kaum einen Schritt nach draußen, habe schon seit Wochen die Sonne nicht gesehen. Doch mir fehlt sie nicht, ebensowenig wie der August, von dessen Gegenwärtigkeit ich ohne deine hübsch beschmückten Ausführungen nichts gewusst hätte oder die Heimat, die du mir ans Herz legtest. Nein, dieses Herz ist sich selbst genug und es ist der Verschlossenheit vielmehr zugetan als der gefahrvollen Schönheit.
     
    Die Heimat ist eine Erinnerung daran, dass wir von irgendwoher kommen. Daran möchte aber gewiss nur der erinnert werden, der weiß, dass er irgendwo hin will. Darum verstehst du sicher, dass ich dich in nächster Zeit nicht besuchen werde, obgleich mir dein Wort das Klarste und Sinnhafteste ist, das ich zwischen all dem stummen Tumult erkennen kann. Ein Gefühl des Unerwünscht-Seins verbindet sich mit jedem Erleben. Da ist es erträglicher, mich auf Unwesentliches zu beschränken. Wenn diese vier Wände die Grenzen meiner Welt bilden, dann ist die Einsamkeit doch nur der Preis für die Autonomie.
  20. Schmuddelkind
    Mit dem Aufwachen dürstete mir nach spiritueller Versenkung. Daher habe ich den ganzen Tag dafür genutzt, jede einzelne Internetseite zu durchforsten. Mein Fazit: drei Sterne. Mir ist übrigens aufgefallen, dass das Internet voll von Verschwörungstheorien ist. Ich denke, die Regierung verbreitet über das Internet sämtliche Verschwörungstheorien, um die Menschen gegen Fakten zu immunisieren, bis unsere Gehirne für die totale Staatspropaganda empfänglich sind und wir zu willenlosen Ausführorganen eines Genosuizids werden, der von jener geheimen Sekte von langer Hand geplant wurde, die sämtliche Schlüsselpositionen in Politik, Wirtschaft und Kultur innehat. Wer mir widerspricht, gehört zu denen.
  21. Schmuddelkind
    "Allahu akbar", weckte mich die körnige Lautsprecherstimme vom Minarett der nahe gelegenen Moschee am nächsten Morgen. Selten hat sich Schlaf so gut angefühlt. Wie es meine Art ist, erkundete ich als erstes die Gegend. Die anderen beiden konnte ich dafür begeistern, mich zu begleiten. Durch einen engen, von Palmen gesäumten Pfad kamen wir in den Ort, von wo wir die Straße Richtung Strand entlang gingen. Auf dem Weg sprach mich der Stand eines Kokoshändlers an. Dieser steckte einen Strohhalm in die Nuss, gab sie uns zu trinken und schnitt sie anschließend in einige Stücke, die wir auf dem Weg verzehrten.

    Die touristisch orientierte Strandpromenade, auf der sich zu unserer Rechten Restaurants, Bars, Internetcaés und Ayurveda-Massage-Praxen aneinander reihten, gewährte zu unserer Linken einen freien Blick auf den etwas unruhigen indischen Ozean. Über eine Treppe, die in die feuerrote Felsenwand geschlagen war, die von der Promenade abfiel, gelangten wir zum Strand. Obwohl Inder in aller Regel nicht öffentlich baden (oft gar nicht schwimmen können), waren einige indische Familien zwischen den Touristen zu finden, da sie aus der bereits morgens so drückenden Schwüle geflohen, ein Picknick an der frischen Meeresluft bevorzugten. Nachdem wir uns ein paar Minuten im Wasser abgekühlt hatten, zog ich mir den ersten und einzigen Sonnenbrand meines Lebens zu (nein, die Sonne über Indien ist gewiss nicht mit der italienischen Sonne vergleichbar).

    Es zog uns nun zum Ortskern, wo Rikschas sich zwischen den Fußgängermassen hindurch drängten und den allgegenwärtigen rötlich-braunen Sand aufwirbelten. Varkala ist keine große Stadt. Der halbe Ort musste sich also auf den wenigen Sträßchen versammelt haben, die im Schatten bunter Wohnhäuser zu dem besandeten Platz vor dem Tempel zusammen trafen. Allerlei unterschiedliche Leute: unter den Bäumen auf dem Tempelplatz stand in seinem orangefarbenen Gewand ein Bettelmönch mit stoischer Ruhe, dem wir ein paar Rupien gaben. Exil-Tibeter gingen mit einer Kasse umher. Ein Sikh ging mit einem Moslem, ganz im Gespräch vertieft, so dass er beinahe mit einem Jungen zusammenstieß, der mit seinen Freunden Fangen spielte und daher aus einer kleinen Gasse zwischen zwei Häusern hervor huschte, in der sich ein Rinnsal gebildet hatte. Hier und da gab es Stände, um die herum, angelockt durch die Rufe der Händler, viele Passanten standen. Und ständig gingen Menschen in den Tempel ein und aus.

    Wir befanden, dass es Zeit war, zu Mittag zu essen und betraten eines der älteren Wohnhäuser am Platz. Hinab in einen grauen Keller, vorbei an der Küche, die ungewöhnlich einsehbar war und in der in aller Geruhsamkeit gekocht wurde (wir gehörten zu den ersten Gästen des Tages), nahmen wir auf einer Terasse hinter dem Haus Platz. Von dort erstreckte sich ein etwas größeres, rechteckiges Wasserbecken, in welchem ein paar Frauen ihre Wäsche wuschen. Es waren keine Speisekarten zu finden. Stattdessen gab der Kellner uns zwei vegetarische Gerichte zur Auswahl. Mein Leibgericht war zum Glück darunter: Palak Paneer, also Spinat mit weichem Rahmkäse. Ein Wort zu indischem Essen: durch die reichhaltige Beimischung von Gewürzen ist es wirklich lecker (wohl das beste Essen, das ich kenne), aber auch sehr scharf. Zu jedem Gericht bekommt man so viel Reis und Fladenbrot wie man benötigt und in der Regel ist die Bedienung sehr aufmerksam und füllt ungefragt auf. Man isst, indem man ein Stück Brot mit der reinen, also rechten Hand (mit der linken sollte man das Essen gar nicht berühren, da diese zur Reinigung nach dem Toilettengang gebraucht wird) abreißt und damit Reis und Gemüse aufnimmt. Es gibt also kein Besteck.

    Wir verbrachten noch ein paar Tage in Varkala, bevor wir weiter zogen. Vor allem zwei Dinge sind mir aus jenen Tagen in Erinnerung geblieben:
    1. Ich habe die erste goldene Regel für Indien-Urlauber gelernt: Bestelle niemals in Indien eine Pizza! Die Freundin meiner Freundin hat es am doch recht touristisch ausgerichteten Strand-Restaurant ausprobiert und bekam ein Chapati (Fladenbrot) mit Ketchup.
    2. Wir sind auf Elefanten am Strand entlang geritten. Die Elefantenhaut ist rau und mit borstigen Haaren gespickt, was besonders unangenehm ist, wenn man Sonnenbrand an den Beinen hat. Außerdem ist es eine äußerst wackelige Angelegenheit. Aber ein außergewöhnliches Erlebnis ist es allemal, zumal es uns vergönnt war, in der Ferne Delphine zu beobachten.
  22. Schmuddelkind

    Briefe
    Liebe Babsi,
     
    bin ich denn schon so wenig Teil meiner selbst, dass ich die Regungen nicht aufbringen kann, gegen die sich niemand wehren könnte, der ihrem Grunde erliegt? Es war nur eine Frage der Zeit, aber die Zeit erscheint mir verstorben: bis Ende der nächsten Woche muss ich meine Wohnung geräumt haben. Ich sollte mich schämen, aber ich wundere mich nur.
  23. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    heute Nacht hatte ich einen Traum: Ich spürte, dass ich sterben würde. Und als meine Zeit gekommen war, stand ich auf und wurde, indem ich in das Wasser ging, zu dem Wasser selbst. Und ich umfasste die ganze Welt und spürte ihren tiefsten Grund. Und ich trug die Seerosen in den Tümpeln und die Schiffe auf den Meeren zugleich. Die völlige Stille des Ozeans barg ich in mir, während ich die Kraft der Gezeiten wiedergab, mich an den schroffen Felsen der Küsten zu erschöpfen. Und ich tränkte die Pflanzen, Tiere und Menschen und verlieh ihrer dürstenden Trauer Ausdruck. Und ich rauschte durch die Gebirge, drängte mich durch das alte Gestein, ließ mich durch die Wälder treiben und ruhte in den Seen, worin ich die Sterne spiegelte. Und ich wohnte mir selbst inne, zerfiel in mir, zerstreute mich im Nebel der Welt und fand mich, herabprasselnd in mir selbst wieder. Und dies war mein Atem, bis ich erwachte.
     
    Was dies mir wohl sagen möchte? Du kennst mich - wenn ich verliebt bin, gibt es keinen schlimmeren Romantiker als mich und dies kommt mir nicht eben zugute. Dann spüre ich den Weltschmerz in seiner ganzen Intensität und kann zuweilen ein unausstehlicher Zyniker werden, bis mich ebendies wieder zur Vernunft bringt. Und bin ich mit mir selbst im Reinen, gehe ich für eine Weile völlig in der Ruhe auf. Doch bald ist mir nichts lieber, als mich in philosophischen Fragen zu verlieren, die nichts mehr befördern als weitere Fragen. Jeder Atemzug meiner Seele ist nichts weiter als die Reaktion vorangegangener Atemzüge. Wie bin ich so unbeständig?
     
    Als wir jedoch zu Silvester - oh, und für diese schöne Nacht möchte ich dir und den anderen, die hiermit herzlichst gegrüßt sein sollen, wehmütig danken - als wir also zu Silvester einfach geradeaus fuhren - ohne Ziel, ohne Zeitgedenken - da fühlte ich mich auf dem richtigen Wege und habe all diese Zweige meiner Selbst zu einer kräftigen Wurzel zusammengeführt erlebt, die von eurer Freundschaft gewässert wurde. Dass just, als wir uns dem neuen Jahr näherten, dieser schönste Berg der gesamten Vogesen sich vor uns auftat, von wo aus wir die herrlichste Sicht auf das Feuerwerk hatten, womit die Menschen die Enttäuschungen des vergangenen Jahres zum Himmel jagten! Ich bin jedenfalls fest entschlossen, meine Enttäuschungen hinter mir zu lassen, um dieses Jahr in der Welt meine Wurzeln zu schlagen. Ich arbeite inzwischen auch schon wieder fleißig an meiner Magisterarbeit und mir geht es jedenfalls nicht schlimmer, als man es erwarten könnte.
     
    Ich hoffe, du hast klarere Träume!
  24. Schmuddelkind
    Danke Babsi,
     
    da offenbare ich dir meine Träume und alles, was du liest, ist "Magisterarbeit". Nun ja, ich muss mich erst wieder in das Thema einfinden. Die Mathematik hinter den Gesamtzusammenhängen habe ich zumindest ausformuliert. Allerdings wollen sich mir die Details noch nicht öffnen. Ich weiß mir keinen Rat, wie ich Rawls' Differenzprinzip einer Messung zugänglich machen soll. Und dann kommt mir wieder der Gedanke, wie unsinnig es ist, Gerechtigkeit zu messen. Gewiss wirst du mich mit viel Tücke zitieren, dass es, um eine Veränderung zu bewirken, unumgänglich sei, Sachverhalte klar und präzise darzulegen. Jedoch möchte ich dich auch an deine Zitate erinnern: "Den Weg zu denken, bedeutet nicht, den Weg zu gehen." Wie recht du damit hast!
     
    Wird denn nicht allen Dingen ihre Bedeutung genommen, wenn wir ihnen Zahlen zuordnen? Wo ist die Schönheit Beethovens, wenn wir Frequenzen messen, Fourier-Transformationen betreiben und alles, was einmal sinnhaft war, quantifizieren? Wo sind das Herzblut, die Neugier und der Fleiß eines Schülers in einer Schulnote zu finden? Worin versickert die Inspirationsquelle zeitloser Ideen wie Freiheit, Gerechtigkeit und Liebe, wenn alles mit Zahlen gesagt sein soll? Überhaupt möchte ich mir keinen Elfenbeinturm in meinem Kopf einrichten. Ich will die Welt in mir wiederfinden.
     
    Egal wie kalt es ist - meine Spaziergänge haben daher Bestand. Die Kälte am ganzen Körper zu spüren, den Schmerz in den Fingern und Zehen zu empfinden - das ist eine dieser ursprünglichen Erfahrungen, nach denen man sich heimlich sehnt, nur um zu wissen, dass die Welt sich nicht um den Menschen dreht und dieser vielmehr dankbar sein kann, seinen Körper als einen Teil des Weltenganzen zu begreifen. Und wenn ich mich so ganz der Natur hingebe, wenn auch nur für wenige Stunden, erkenne ich gerade in meiner Machtlosigkeit, wie sie sich ganz mir offenbart - etwa in dem verträumten Funkeln des zugefrorenen Weihers im nahen Wäldchen. Babsi, du musst dies einmal sehen!
     
    Allmählich wird mir mein Maintal also immer werter, auch da ich nicht mehr durch so viel Forderndes abgelenkt werde - zumindest so viel Gutes kann ich bereits am Alleinsein finden. Auch der Austausch mit all den Dichtern und Schriftstellern im Forum tut mir gut. Nicht nur, weil es bedeutsam ist, sondern auch, weil unter Menschen, wie sie sich zufällig irgendwo antreffen lassen, nie so viel mir Bekanntes, Anregendes und Ersehntes zu finden ist. Durch meine Gedichte finde ich Klarheit, wenn - oder weil - sie auch oft viel Verwirrung tragen. Und in den Gedichten anderer finde ich Trost.
     
    Mir tut es wirklich leid, wie es eben einem Freund nur leidtun kann, zu lesen, wie du zwischen all den Zeilen deiner Vita so wenig Leben noch erkennen kannst. Nur, was soll ich dir anderes sagen? Dass dich, die du immerzu nur tätig bist und die die Welt nur bei Tage besieht, so viel Undeutlichkeit ängstigt, kann mich nicht überraschen und ich sage es nicht, um dich zu kränken, sondern um dir einen Weg aufzuzeigen - es muss ja nicht mein Weg sein. Wenn man einmal eine solche Verpflichtung eingegangen ist, wozu sich die meisten wohl genötigt sehen, sind alle Entscheidungen vorgezeichnet. Ich habe es dir schon oft gesagt und ich werde nicht müde, es zu sagen: Wir brauchen nicht mehr Pläne - wir brauchen mehr Zeit!
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