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Schmuddelkind

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Blogeinträge erstellt von Schmuddelkind

  1. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    als es Mitternacht wurde, schrieb sie mir: "Morgen komme ich zu dir, Liebster!" und all mein Verlangen war mit einem Male so nahe der Erfüllung. Allein zu wissen, dass sie darauf genauso sehnsüchtig wartet wie ich, bringt sie mir bereits so nah, dass das Warten selbst mir als ein Trugbild erscheint. Vielleicht ist es dies, wonach ich mich wirklich sehne - nicht ihre beruhigende Stimme, nicht ihr anregender Körper - nein, das Gefühl, in ihrer Seele ganz aufzugehen, worauf ich in solchen Momenten der Herzen Gleichklang einen Ausblick habe. Schlicht: Ich sehne mich nach Nähe!
     
    Ich bin vor mir selbst erschrocken, als ich mich heute Morgen mit dem Aufschrei "Morgen ist sie hier!" in den Tag befördert habe. Um zur Ruhe zu kommen, machte ich fast den ganzen Tag einen Spaziergang durch den Wald - so lebendig habe ich noch nie die Natur erlebt - bis ich schließlich ganz bei mir angekommen, mich an einem Orte von unbeschreiblicher Stille und ursprünglicher Schönheit wiederfand. Babsi, meine Seele spiegelte sich in der chaotischen, naturwüchsigen Harmonie der Flora, die aus wild in alle Richtungen ausgreifenden Bäumen und grünem Flechtwerk dazwischen ein idyllisches Gemäuer um mich bildete, als sei es zu meinem Schutz, so, als erschüfe ich dies alles aus dem Nichts. Da stand ein Reh, höchstens drei Schritte von mir und blickte vertrauensvoll zu mir und ich wusste, ich könnte zu ihm hin - es fräße mir aus der Hand.
     
    Inzwischen glaube ich immer mehr, dass Schönheit keine Frage von Betrachtung ist, sondern eine Wahrheit, der man auf dem Weg zu sich selbst näher kommt. Je schärfer man versucht, das Schöne vom Unansprechenden zu trennen, umso mehr verliert man den Blick für die wundervollen Dinge, deren Eindruck ganz frisch in einem unvoreingenommenen, offenen Verstande entstehen. Nur wer Mut hat, sich dem ersten Eindruck hinzugeben, wird erkennen, wie reich die Welt doch ist und in stillen Momenten weiß ich, dass dieser ganze Reichtum mir gehört.
     
  2. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ihre Zeichnung an meiner Wand spendet mir wertvollen Trost. Wie die beiden Wölfe inmitten der romantischen Landschaft so sehnsüchtig in die Ferne blicken... ach, in allem, was sie tut, in jedem Detail ihrer Kunst, in jedem Wort, womit sie unserem Dasein so viel Leichtigkeit und Sinn verleiht, in der Unbekümmertheit ihrer Gesten ist eine unerdenklich erfüllende Freiheit erlebbar. Im Geiste dieser Freiheit könnte ich auf so Vieles verzichten, fast als sei ich über das Atmen erhaben.
     
    Doch, und es mag dir wie Wahn erscheinen, mir dürstet nach so viel mehr, denn ich leide an einem ungefähren Mangel. Immerzu verzehre ich mich nach einem Wort von ihr und wenn ich sie reden höre, obgleich ich eine nie gekannte Seligkeit erfahre, will der lebendige Wunsch nach mehr nicht weichen. Was ist dieses "Mehr"? Es ist jedenfalls kein Mehr an Worten und fast glaube ich, dass es kein Wunsch ist, den ein Mensch einem erfüllen kann. Woher kommt nur diese unergründliche Sehnsucht?
     
  3. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ich habe nun schon so viele Male angesetzt, dir alles genau und wohlgeordnet zu beschreiben, aber die letzten Tage und Nächte sind zu einem wundervollen Gesamteindruck verschwommen, der keine Zuordnung mehr gestattet. Ich kann dir bestenfalls eine Ahnung dieses Eindrucks geben, indem ich dir Szenen schildere, die mich seither gefangen halten. Eines weiß ich jedenfalls noch sehr genau - dass ich mit meiner Sanny die glücklichsten fünf Tage meines Lebens verbracht habe und ich kann mit guten Gründen daran zweifeln, ob in der Welt der Menschen überhaupt größeres Glück zu erlangen ist.
     
    Alles war voller Freiheit, Schönheit und Leichtigkeit. Wie ich mich in ihrer Wohnung so heimisch gefühlt habe, wo die beiden Katzen ungezähmt um uns herumtollten und das helle Grün ihres Zimmers und die liebevoll gepflegten Pflanzen auf dem hübschen Holztischchen in der Raummitte eine heitere Natürlichkeit ausstrahlten, als verlöre sich irgendwo bei dem großen Fenster die Grenze zu dem dicht bewachsenen Wald davor oder als greife der Wald in das Zimmer hinein! Da umfing mich so eine tief empfundene Ruhe, die im Kontrast zu den Spielereien der Katzen - wie sie einander fingen und um alle Möbel herum rannten und die Kleinere auf den Sessel neben mir sprang, um eine Streicheleinheit von mir zu erzwingen - umso friedlicher erlebt wurde.
     
    Babsi, sie ist das hinreißendste Geschöpf, das man sich vorstellen kann! Das sehe ich jetzt noch viel klarer, obschon ich es doch vorher wusste. Als ich sie zum ersten Mal sah, in ihrem weißen, sommerlichen Kleidchen, ihrem langen, ungezähmten dunklen Haar, ihrem lebhaften Lächeln, meinen Namen als Ausdruck von Seligkeit rufend, ach, mir war so wohl! Zur Begrüßung haben wir uns lange und herzlich umarmt wie zwei Liebende, die einander nach Jahren zum ersten Mal wieder sehen. So oft musste ich mich selbst daran erinnern, dass wir uns vorher noch nie getroffen hatten, was mir angesichts dieser angenehmen Vertrautheit schwer fiel. Wir lachten viel und - oh Babsi, wenn sie lacht... da hatte ich den allergrößten Anreiz, meine Späße zu machen, für die sie einen Sinn hat.
     
    Als wir bei herrlichstem Maiwetter einen Spaziergang machten, da hat sie auf einmal mit freudigem Blick den Arm Richtung Wald ausgestreckt und voller Entschlossenheit ausgerufen: "Querfeldein!", als fänden die unzähligen Reize der reichen Natur umher durch sie ihren Ausdruck. Ich habe noch gelacht, da gingen wir bereits durch das Gebüsch. Bald hatten wir keine Ahnung mehr, wo wir waren, doch als ich inmitten des dichten Strauchwerks ihre Hand hielt, da kümmerte uns das nicht mehr, wussten wir uns doch in gediegener Sicherheit. Ich war erfüllt von einer unbestimmten Dankbarkeit, so dass die Anregung, sie zu küssen mit zutunlicher Macht über mich kam, ohne einen Beweggrund oder eine Absicht dazu nennen zu können. Oh, dass der Mensch immer nach Absichten fragt! Sind Absichten nicht nachträgliche Rechtfertigungen vor den Erwartungen herrenloser fremder Mächte, vor denen wir unsere Gefühle zu verbergen suchen? Dieser Kuss war eine gegenseitige Offenbarung der menschlichen Ursprünglichkeit, in welcher sich meine Leibhaftigkeit aufzulösen schien! Ich habe keine Erinnerung daran, aber ich weiß, dass wir irgendwann wohl doch noch nach Hause gefunden haben müssen.
     
    Es war mir alles in allem so, als ob wir keine ähnlichen Empfindungen hatten. Nein! Wir nahmen teil an derselben Unmittelbarkeit einer wesenlosen Naturerscheinung, so dass alles, was wir taten ganz und gar den Gedanken und Empfindungen des Anderen preisgegeben war. Davon könnte ich dir hunderte Beispiele geben, wovon mir folgende Begebenheit am eindringlichsten in Erinnerung geblieben ist: An einem wolkenverhangenen Nachmittag zog es uns zu den Gärten der Welt am Rande der Stadt, wo die exotischen Gartenkünste aus aller Welt zu bestaunen waren. Beide hatten wir ein genaues Auge für dieselben Wesenszüge der fremden, bunten Blüten. Doch als wir auf unserem Weg einen Spielplatz erblickten, da konnte keiner von uns mehr seine Vorfreude verbergen - ich schreibe bewusst Vorfreude, da es in der Klarheit des Moments keinen Zweifel am weiteren Hergang gab - wir stießen zugleich ein kindlich anmutendes "Karussell!" aus und eilten dorthin, um uns dem geschwinden und unschuldigen Spaß hinzugeben. In ihren Augen konnte ich sehen, wie rein ihre Freude über dieses simple Geschehen war und wie bin ich begeistert, dass sich ein solch feiner Verstand eine derartige Offenheit für das reine Erleben erhalten hat.
     
    Eines Abends, wir lagen nebeneinander auf ihrem kreisrunden Bett, ergab es sich, dass wir Gedichte rezitierten, Heine, Eichendorff und viele Andere, die uns so faszinierten. Als ich Eichendorffs "Abendlich schon rauscht der Wald" zum Besten gab und kam an die wunderschönen letzten Verse "Hier in Waldes stiller Klause, Herz, geh endlich auch zur Ruh", da entfuhr ihr ein neckisches, leicht schelmisches "Zur Ruh?! Wieso denn zur Ruh? Ich will raufen!". Ehe ich mir einen Reim darauf machen konnte, rang sie mich wild zu Boden und lachte laut und herzlich dazu. Darauf hielt sie mich mit Armen und Beinen gefangen, während ich mich mit raschen Bewegungen herauszuwinden versuchte; so ergab sich ein ständiges Kämpfen um eine nicht festgelegte Stellung nach unbekannten Regeln, ein Herumwälzen vom Bett auf den Boden und wieder zurück, ein heftiges Liebesraufen. Und je mehr es am Spielerischen verlor, umso mehr gewann es an Nähe, bis wir nichts weiter waren als zwei Stimmen derselben wunderschönen Melodie, die ein zärtliches, aber in Anbetracht des uns Beide führenden eingänglichen Rhythmus' beinahe überflüssiges "ich liebe dich" ausstießen.
     
    Oh, wie ist es so erfüllend, seine Muse zu lieben! Ich lag auf dem Bett und schrieb:
     
    Du Brunnen meiner tausend Sinne,
    du Anregung in allen Dingen!
    Ganz tief will ich in dir versinken
    und in dem Rhythmus leichter Minne
    schwere Atemnot bezwingen
    und endlich ganz in dir ertrinken.
     
    Sogleich griff sie nach ihrer Gitarre, spielte und sang für mich, sang mein Gedicht mit der kräftigsten Stimme, mit der man ein Liebeslied zärtlich singen kann. Ach, wie ihre zauberhafte Stimme mir ganz tief in Mark und Bein geht und an jeder Stelle meines Körpers heilige Spuren hinterlässt! Der Mensch kann von Schönheit nichts wissen, der diesem Moment nicht beiwohnte.
     
    Voller Mut blicken wir nun einer verheißungsvollen Zukunft entgegen, auch wenn die Situation gewiss nicht einfach ist. Wir sponnen unsere Gedanken, äußerten Ideen, sie könne vielleicht nach Frankfurt ziehen oder ich eröffne in Berlin einen Buchladen oder wir ziehen gemeinsam aufs Land und halten uns einen Hof. Dies sind gewiss alles keine Dinge, die wir in naher Zukunft verrichten werden und den meisten in unserer Lage würde da Angst und Bange, aber dass wir völlig ungezwungen darüber sinnieren konnten, ohne einen Zwang oder Druck zu verspüren, bezeugt unser gegenseitiges Vertrauen. Nichts ist versprochen, doch alles ist möglich und das ist eine süße Gewissheit.
     
    Als ich mich auf den Heimweg machte, da war mir so unwohl, als zöge ich von zu Hause aus. Eine Kraft, so stark, dass jedes Leugnen, jeder Verweis auf die Unsinnigkeit metaphysischer Bilder keine Macht mehr hatte, hielt einen wesentlichen Teil meinserselbst zurück, während mein Körper durch die wildwuchernden Wälder Brandenburgs reiste und sich bald zwischen den grünen Hügeln Thüringens wiederfand. Mich erreichte zum ersten Mal eine Ahnung, wie schön dieses Deutschland sein muss, das mir doch so fremd ist. Aber diese Schönheit kann die Sehnsucht nach Heimat nicht befriedigen, die ich endlich in Berlin fand.
     
  4. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    wie unzureichend bin ich mir selbst, da mir fehlt, was mir am meisten wert ist und ich schäme mich ob meiner Eitelkeit, dennoch nach Ausdruck zu suchen. Als wir gestern telefoniert haben, war Sanny - oh wieso zwinge ich mich selbst zu der Erinnerung - so traurig, die unerfüllte Sehnsucht nach Nähe wiederzugeben. Ihre Stimme, beinahe stumm, trug Züge einer verzweifelten Sinnsuche in einem tragischen Geschehen, dem wir unsere Teilnahme nicht versagen können. Und ich... ich konnte meine Tränen nicht länger zurückhalten. Zu treffend drückte sie die Essenz meiner inneren Unruhe aus, als sie seufzte: "Komm zurück!", da ich doch, kaum zu Hause angekommen, vom Willen ganz durchdrungen war, wieder abzureisen.
     
    Der Tag erscheint mir wie eine heitere Melodie, in der meine Seele voller Vorfreude auf den Schlussakkord aufgeht, der jedoch ausbleibt, so dass mein Bewusstsein zu einem leidvollen Warten verkommt, wenn ich in den Momenten an sie denke, in denen ich erkenne, dass Denken nicht genug ist. Wie soll ich nun mehr sein, als eine ungenaue Frage nach mir selbst, auf deren Antwort ich noch so lange warten muss?
     
  5. Schmuddelkind
    Babsi,
     
    sie wird zu mir kommen! Mit den freudigsten Worten hat sie mir versichert, oh welch ein Verlust, wenn ich es wiedergebe, dass sie mich spätestens in einem Monat besuchen wird. Und dieses Mal füllt sich der Gedanke daran mit so viel Schönheit, dass es an Gewissheit heran reicht, so dass es nun entweder wahr ist oder ich träume. Alle Macht ist mir entglitten! Meine Gesichtszüge lassen sich nicht mehr zügeln in ihrem Bestreben, die Ahnung einer geheimnisvollen Spontaneität zum Ausdruck zu bringen.
     
    Ich habe es mir bereits tausend mal vorgestellt und lebendig erlebt und weiß doch, dass dies letztendlich bloß Hervorbringungen von Erfahrung und Fantasie sind. Da schäme ich mich fast, dass ich ihr einzigartiges Wesen mit der Beschränktheit meiner noch so reichen Fantasie und schönsten Erfahrung betrachte. Ich sollte gar nicht mehr daran denken, wenn der Gedanke so karg ist verglichen mit der erfüllenden Vagheit der reinen, naiven Vorfreude.
     
    Und doch - wenn ich daran denke, mit ihr die Eindrücke zu teilen, die ich mein eigen wähne, Eindrücke der sanften Farben der Gräser und Apfelbäume am nahen Hang bei Abendsonne, des wohlig stimmenden grünen Lichts, worin alles am Enkheimer Ried versunken ist, der engen Pfade in meinem Wäldchen, wo jede Lücke vom Efeu so durchdrungen ist, dass man das Gefühl hat, fernab des gewöhnlichen Daseins zu wandeln, Eindrücke, die in ihrer Fülle und Besonderheit ganz in meinem Allerinnersten eingeschlossen sind, dass ich nicht weiß, wo mein Körper aufhört und die Natur anfängt... da kann ich mich des Glücks nicht erwehren, das die Vorstellung in mir frei legt, sie werde an diesen intimen Empfindungen teilhaben. Wenn bereits die Erwartung dieses Treffens so voller Nähe ist, wie wird es dann endlich sein, wenn sie vor mir steht, so nah, dass ich sie berühren könnte?
     
  6. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    mich hält hier nichts mehr. Ich fahre zu ihr! Morgen früh breche ich mit dem bisschen Geld, das ich zusammengespart habe nach Berlin auf und werde auf dem Weg zu ihr jeden Gedanken an den Weg zu ihr überwinden, bis ich bei ihr bin. Ein Drängen steigt in mir auf, das mich zu entschlosseneren Taten führt als ein bewusster Entschluss es vermag und du wirst mich für verrückt halten und mich verstehen. Ich weiß nicht, wann ich wieder komme, aber ich werde dir sicher bald schreiben.
     
  7. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ich bin ganz beseelt von der Aussicht, sie bald in meine Arme schließen zu können! Das ist der Gedanke, mit dem ich morgens aufstehe und das ist der Gedanke, mit dem ich abends einschlafe und es ist der Gedanke, der mir immer wieder den Tag sinnvoll erscheinen lässt, an dem ich meine sonst so bescheidene Existenz voranschleppe. 
     
    Wie viele Male habe ich gestern während meiner Route durch den wunderschönen Spessart die malerische Landschaft gar nicht gesehen, da ich nur den wohlgeformten Sinn ihrer Worte bei mir hatte und wie oft half mir der herrliche Anblick der Wiesen und Felder, die auf den rundlichen Hügeln in unerdenklich schönen Farben leuchteten, darüber hinweg, nicht eben ihrer Stimme lauschen zu können! Wie oft konnte ich voller Stolz ins Tal rufen: "Sie liebt mich!"; denn dass sie es tut, das fühle ich so eindringlich, nah und gewiss, wie mir das Herz schlägt, wenn ich an sie denke. Dennoch - so oft kam es mir wie ein Mangel meines eigenen Daseins vor, dass sie nicht bei mir ist! Da bin ich die eine Hälfte einer Umarmung, ein Kuss ins Leere, ein unbekanntes Versprechen. Oh, welch herber Reichtum, aber ein Reichtum ganz bestimmt!
     
  8. Schmuddelkind
    Ob ich Grund zur Hoffnung habe? Ich habe Hoffnung, nach der mein Herz verlangt, die jeden Grund hinfällig macht. Ist das nicht genug? Und ich weiß, was du mir entgegnen wirst. Du wirst mich zur Besonnenheit mahnen und mich fragen: "Hoffnung, was ist das? Du kannst sie nicht berühren, nicht umarmen, nicht küssen." Ich habe Hoffnung. Und sollte ich daran zu Grunde gehen, so habe ich für diese Hoffnung gelebt. Wenn das kein gutes Leben ist, dann kann unter dem Himmel kein gutes Leben sein. Jedenfalls ist es mehr, als für Brot und Arbeit zu leben.
  9. Schmuddelkind
    Ach Babsi,
     
    ich kann keine fünf Minuten an einem Orte mehr bleiben. Unaufhörlich gehe ich in meiner Stube auf und ab, bis mir ein Gedanke einfällt, der es wert ist, aufgeschrieben zu werden; dann werde ich schnell unzufrieden und mache einen Spaziergang. Doch auch die Anmut der friedvollen Main-Promenade in Hanau ist mir nicht genug. Also suche ich das Idyll in meinem stillen Wald, jedoch selbst die Abgeschiedenheit, die ich dort finde verschafft mir keine Befriedigung mehr. So wandle ich hin und her, der Einbildung erliegen, in der Bewegung könne ich die Zeit abschütteln.
     
    Ach, Zeit! Was ist das bloß? Ich kann die Zeit nicht sehen, nicht berühren, habe keine Vorstellung davon, woraus sie sich zusammensetzt und dennoch hat sie meinen ganzen Körper in Gewalt, nimmt meinen Geist in Besitz. Und ich weiß: ich habe auf so manche Dinge länger schon gewartet, doch das ist eben das schlimme Spiel, das die Zeit mit uns treibt, dass etwas umso ferner wird, je mehr man sich danach sehnt.
     
    Während ich dir schreibe, weine ich und weiß nicht, ob aus Freude oder Bekümmerung. Mir ist, als sei mir etwas genommen, obgleich es immer mehr Teil meinerselbst wird und zugleich bin ich rasend vor Glückseligkeit! Verzeih! Wovon dies alles kommt, hätte ich beinahe vergessen, dir zu schreiben: gestern Abend, ich ging auf dem Feld in Richtung der Pferdekoppel, hatten wir ein langes Gespräch, in dem sie mir so oft und betroffen klagte, wie lange es noch sei, bis wir uns sehen und dass sie am liebsten sofort käme. Babsi, wie schwer es mir fiel, ihre Sehnsucht zu ertragen, die ich doch ebenso heftig erwidere, davon kannst du keine Vorstellung haben, da du die geringste sprachliche Annäherung an das Gefühl für eine maßlose Übertreibung hieltest. 
  10. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    gnadenlos ist die Einsamkeit! Ihre Großmutter liegt im Krankenhaus und Sanny fuhr merklich besorgt 200 km, um sie zu besuchen. Ach, diese gute Seele! Eben schrieb sie mir ausführlich und jeder Gedanke, den sie äußert ist voller Anteilnahme für das ernste Schicksal der alten Frau, die einer der wertvollsten Menschen in ihrem Leben ist und dennoch hat sie, mit ihren eigenen Sorgen ringend, auch meine Sorgen im Blick. Unterwegs schrieb sie mir noch, dass sie an mich denke, obwohl sie doch so ungern unterwegs schreibt, wo sie nur schwer zu der Ruhe findet, die sie beim Schreiben braucht. Da ahnte ich, wie wichtig ich ihr sein muss und wünschte mir, es gäbe diesen traurigen Anlass nicht.
     
    Als sie mir die Szene schilderte, wie sie in das Krankenzimmer kam, erschrocken darüber, wie schwach ihre Großmutter da lag und doch nahm meine starke Sanny alle Kraft zusammen, um ihr einen angenehmen Nachmittag mit ihren Liebsten zu ermöglichen, wie sie vor Bekümmertheit beinahe zitterte, sich jedoch nichts anmerken ließ und die Hand der guten Frau hielt, um ihr etwas von der Ruhe und Wärme zu schenken, an der ich schon so oft dankbar teilhaben durfte, da stiegen mir die Tränen in die Augen, fast als ginge es um meine eigene Großmutter. Von ihrer Aura bin ich nun schon so sehr gefangen, dass mir oft in den Sinn kommt, wir seien untrennbar, obgleich wir einander noch nie sehen durften.
     
    Ach, wie gerne wäre ich jetzt bei ihr und hielte sie in meinen Armen, da ich ihre Einsamkeit erlebe und ihre Tränen auf meinen Augen spüre! Arm ist der Mensch, der nicht helfen kann.
     
  11. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ihr Foto erfüllte mich heute über den ganzen Tag mit beschwingter Heiterkeit. Wie bin ich ihr dankbar, dass ich an solch einem trüben Tag so viel Schönheit sehen darf! Ich weiß nicht, soll ich ihre Augen mit dem leuchtenden Blau des seichten Meeres an einem hellen Sandstrand vergleichen oder das Meer mit ihren Augen? Doch warum überhaupt vergleichen? Warum alte und benutzte Worte gebrauchen für einen wonniglichen Eindruck, der so spontan in meinem Geiste entsteht und mein ganzes Wesen auf eine Weise einnimmt, die mit jedem Wort an Kraft verlöre.
     
    Sind Begriffe nicht in Wirklichkeit Unbegriffe, die unfähig, den Zauber in den Dingen einzufangen, den Menschen vom wahren Begriff, vom Begreifen des reinen Gefühls abbringen? Nichts wäre über sie oder mich oder uns gesagt, suchte ich nach einem Wort für unsere Beziehung, sagte ich, sie sei eine Brieffreundin, eine Freundin, meine Angebetete. Ach, wie sind all diese Worte so falsch! Und wie sind die unzähligen sentimentalen Seufzer so wahr und vielsagend, die mir entfahren, wenn sie etwas äußert wie: "Warum bist du nur so weit weg?" Seufzer, die lange entstehen, ehe ich einen Begriff oder irgendeinen Gedanken dazu habe, als unterstünden meine Lippen und meine Stimme in dem Augenblicke ganz ihrer Macht.
     
    Mein hilfloses Gestammel vor der Herzlichkeit und Wärme ihres Ausdrucks ist so viel weiser als jedes Sinnieren darüber, wer sie für mich ist oder sein könnte.
     
  12. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    "schlaf schön, Liebster" - "Liebster"! Das ist ein neues Wort und eine neue Welt. Oh, wie ist mir Vieles so anders, seit sie dieses Wort geschrieben hat! Wie bin ich mir mit einem Mal selbst so wertvoll, da ich weiß, dass ich ihr Liebster bin! Wie sich ein Heiliger fühlt, das kann nur wissen, wer von einem Engel erwählt wurde. Ich verstehe nichts und umarme alles!
     
  13. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    wenn ich an sie denke, dann ist alles voller Schönheit, ohne dass ich auch nur ein einziges Bild vor mir sähe. Und wenn ich sie reden höre, verliert sich alles umher im Nichts, bis ich nur noch an ihrem Empfinden teilhabe, an nichts Anderem, und dann bin ich verloren in so vielen Gefühlen, zu denen ich schon gar keine Gedanken mehr habe.
     
    So ist es wohl zu erklären, dass ich dir an dem letzten Telefonat mit ihr unterschlug, wie sie mir die liebsten Komplimente machte mit einer kindlichen Spontaneität und Aufgewecktheit, dass ich das alles noch viel näher an meinem Herzen führe. Da sprach sie von meiner Gabe, zu schlichten und zu beruhigen und dass es doch gerade die unterschiedlichen Gemüter sind, die am stärksten aufeinander einwirken - dass die hitzigen Gemüter die Ruhigen und Sanftmütigen zur Schlichtung inspirieren und diese wiederum mit ihrer geruhsamen Aura nicht selten einen Eindruck auf die Temperamentvollen machen und dass auf diese Weise gerade die Unterschiede eine Gemeinschaft so reich werden lassen, so dass man daher gar nicht von einer Tugend oder Untugend, einem guten oder schlechten Charakter reden kann. Aber wie ich über ihre Worte nachdachte, wie ich noch nie über mich selbst dachte, da wusste ich, dass ich zumindest auf sie einen mäßigenden Einfluss haben muss, den sie sogleich beschwingt mit dem Verweis entkräftigte, dass sie kaum einmal auf mich höre. Da musste ich ganz kräftig lachen, dass die Diskussion beendet war.
     
    Oh, wie sie die einfachsten Dinge in eine Philosophie verwandelt, um diese dann wieder zum Gegenstand ihres nächsten Spaßes zu machen! Das hat etwas Wundervolles, etwas Reines, zu beobachten, wie sie sich stets mit ganzem Herzen dem widmet, was in ihrem offenen Sinn gerade ein Interesse aufkommen lässt.
     
  14. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    du verzeihst mir gewiss, dass ich schmunzeln musste angesichts deiner Ratschläge, wie ich sie erobern solle. Doch ich will sie nicht erobern, will nicht überzeugen, nicht taktieren. Keine Pläne! Wenn sich ihre natürliche Zuneigung zu mir im natürlichen Ausdruck meines Seins spiegelt, dann, nur dann kann ich erlöst werden. Mäßigung - ist das nicht eine Lüge vor dem eigenen Herzen? Ein Betrug, den der Verstand wider die eigene Seele führt?
     
    Ich bin in all dem Schönen so sehr versunken, dass mir das Wahre beinahe unwichtig wird. Wie sie mir gestern ganz und gar unbedeutende Buchstabenfolgen schrieb, so dass ich es mit ähnlichem Unsinn erwiderte und sich daraus ein Dialog entwickelte, den niemand nachvollziehen könnte, jedoch getragen von einem gemeinsamen Geist, als ob wir die einzigen beiden Menschen auf der Welt wären, die diese Sprache verstünden, da wusste ich nicht, ob ich sie wegen ihres Eigensinns oder ihren Eigensinn ihretwillen so gern habe. Doch mich beschäftigte das nicht weiter, weil ich ganz in dem überwältigenden Gefühl verloren war, Teil eines wundervollen Zaubers zu sein, der alle Züge meines Daseins, von der Anschauung der Natur bis hinunter zu den kleinsten Regungen meiner Mimik vor der Heiterkeit ihrer Worte belebt.
     
  15. Schmuddelkind
    Oh Babsi,
     
    wie reich bin ich! Eben hat sie mit "deine Sanny" geschlossen. Meine Sanny - es gibt, ich bin mir sicher, jenseits meiner Sinne keine Entsprechung für die wohlige Verzückung und das erregte Zittern meiner Seele angesichts dieser wundervollen Worte.
     
  16. Schmuddelkind
    Und dennoch Babsi,
     
    ich bleibe dabei: wie könnte ich einer regelmäßigen Beschäftigung nachgehen, wenn ich bereits in der Ruhe so rastlos bin? Aber sprechen wir nicht mehr davon!
    Dein aufrichtiges Interesse an meinen Gedichten ist rührend und soll nicht unbefriedigt bleiben; darum hier meine neuste Arbeit:

    Mein Grab
     
    Ich habe mir ein hübsches Grab bestellt,
    wo ich zur Nacht, wenn ich nicht schlafen kann
    auf feuchter Erde meine Ruhe finde.
     
    Dann sage ich zum Scherz: "Adieu, oh Welt!
    Nun reich mir dar dein mageres Gebinde!"
    und fang ganz bitterlich zu weinen an.

    Indessen verwirren sich alle Seins-Umstände zusehends zu einem undurchsichtigen Geflecht, das keinen klaren Gedanken mehr zulässt. Es sind alles einfache, harmlose Worte, die mich erreichen und dennoch fällt es mir so schwer, eine Bedeutung zu erkennen. Bin ich der Welt schon so weit entflogen? Ich habe ihr von Lindas jüngstem Brief erzählt, in dem sie erneut versucht hat, mich zu einer Rückkehr zu ihr zu bewegen. Sanny meinte dazu: "Dich vergisst man eben nicht so schnell. Das hat sein Gutes und sein Schlechtes."
     
    Oh, wie mich jede ihrer liebevollen Annäherungen ins tiefste Mark trifft! Warum tut es derart weh, bedeutsam zu sein? Fühlte ich mich nicht freier und gesünder, hätte sie mich längst vergessen? Oder ist dies ein Hinweis darauf, dass ich wieder hoffen darf? Ach, mein Mund wird mir trocken und und mein Atem brennt, wenn ich daran denke, weitere Wochen hoffen zu dürfen, bangen zu müssen, sich der Sehnsucht und der Angst ganz hinzugeben und keinen Gedanken mehr zuzulassen, der nicht eher oder später zu ihr führt. Ob ich dazu noch die Kraft habe? Ob es nicht am Ende vergebens sein wird? Ist am Ende nicht alles vergebens?
     
    Ich weiß nicht, ob dies alles noch meine Angelegenheit ist, dieses Leben, das ich nicht verstehe. Immer weiter schleicht sich in den Wirren aus Glück und Unglück jeder Bezug zu mir selbst davon. Wie mächtig schätzt sich der Mensch, der Verstand hat und wie ohnmächtig ist er doch in dem Moment, in dem er zittert!
     
  17. Schmuddelkind
    Es gibt gute Nachrichten! Endlich konnte ich den Antrag auf Corona-Soforthilfe für Freiberufler ausfüllen. Nein, der Antrag wurde noch nicht bewilligt. Nein, er wurde noch nicht einmal geprüft. Ich hatte auch bis dahin noch keinen Kontakt zu einem Verantwortlichen - weder persönlich, noch telefonisch, noch schriftlich. Aber mir wurde endlich erlaubt, den Antrag auszufüllen. Juhuu!
     
    Warum ich mich darüber so freue, bedarf sicherlich Einiges an Erklärung. Seit letzten Freitag um 12 Uhr war es möglich, diesen Antrag online - und nur online - auszufüllen, verbunden mit dem Versprechen: "Wir lassen niemanden im Stich." Punkt zwölf klickte ich auf die Schaltfläche, die mich zum Schotter führen sollte. Punkt zwölf brach die Internetseite völlig überlastet zusammen. Wer konnte auch ahnen, dass halb Berlin gleichzeitig die Hand ausstreckt, wenn es 5.000 Euro zu verschenken gibt?
     
    Ab 13 Uhr war es dann möglich, sich in einer Warteschlange einzureihen. Pünktlich um 13 Uhr reihte ich mich ein - an Platz 56.739. Zwei Stunden später war ich bereits auf Platz 53.244 vorgerückt. Bemerkenswert, dass die Regierung die Digitalisierung auf alle Aspekte behördlicher Vorgänge anwendet. Wenn man keine Nummer ziehen müsste, würde das die Menschen nur irritieren. So fühlt man sich gleich wieder wie beim Amt - nur eben zuhause.
     
    Im Laufe des Tages erreichte ich immerhin einen Platz zwischen 40.000 und 50.000, als mir mitgeteilt wurde, dass die Bearbeitung nun bis zum Folgetag pausiere und ich den PC mehrere Tage anlassen müsse, um meinen Platz in der Warteschlange nicht zu verlieren. "Mal sehen, ob die Soforthilfe meine erhöhten Stromkosten deckt", dachte ich. Am nächsten Tag - ich befand mich dann bereits auf Platz zweiunddreißigtausend nochwas - kam es, wie es kommen musste: Aus nicht abzugewöhnender Vernunft schaltete ich den PC aus und verlor meinen privilegierten Platz im vorderen Zehntel der Warteschlange.
     
    Gerade so konnte ich den Impuls unterdrücken, meinen PC zu zerschmettern. Leider hat die Behörde über das Wochenende auch ihre Internetpräsenz eingestellt. Ordnung muss sein - auch in der Krise. Also konnte ich mich erst am Montag wieder in die Warteschlange einreihen - Platz 152.384. Als ich mich heute, Mama Merkel im Stillen dankend, der Spitze der Schlange näherte, war ich zum ersten Mal froh, mich in Quarantäne zu befinden. Denn das tagelange Campieren vor dem PC in der Hoffnung auf mir zustehende Leistungen hat auch einen Haken: Wenn man an der Reihe ist, hat man maximal 30 Minuten Zeit, seinen Platz in Anspruch zu nehmen. Man stelle sich mal vor, jemand müsste zu dieser Zeit arbeiten - mitten am Tag! Die armen Trottel!
     
    Für das Ausfüllen des Antrags wurde mir dann eine Stunde Zeit gegeben. Ein Zeitfenster, das mir nicht erlaubte, mich von der Nennung dutzender Paragraphen unter Drohung von Gefängnisstrafe abschrecken zu lassen. Viel zu lange hatte ich gewartet, um einen Freiheitsentzug annähernd so hoch zu gewichten wie die Möglichkeit, Formulare auszufüllen. Da ist es eben von Vorteil, ein Gott zu sein.
     
    Interessanterweise gab es keine einzige konkrete Frage zu meinen wirtschaftlichen Verhältnissen. Was dem am nächsten kam, war lediglich eine Aufforderung, ich solle bestätigen, dass ich Geld brauche. Damit hatte ich dann auch keine Probleme. Wenn es so einfach ist, warum lassen sie die Leute dann ihr Leben ins Internet verlagern? Warum nicht gleich das Geld mithilfe von Drohnen auf die Straße regnen lassen?
     
    Aber so leicht wie man das Geld bekommt, so leicht können sie es einem auch wieder wegnehmen. Eine genaue Bedürftigkeitsprüfung findet ggf. hinterher statt. Naja, wenn der Staat dann irgendwann Geld von mir zurückverlangt, kann er gerne eine Nummer ziehen.
     
    Denn am siebten Tag erschuf ich die Gleichgültigkeit.
  18. Schmuddelkind
    Babsi!
     
    Etwas tun soll ich?! Und dann gleich etwas Sinnvolles? Du meinst also, ich sei untätig. Sei dir dessen versichert, dass kaum eine viertel Stunde vergeht, ohne dass ich zum Stift greife, um irgendetwas zu schreiben, irgendeinen Gedanken, ein Gedicht oder einen Brief. Ich schreibe wie ein Getriebener in der Hoffnung, wenn es auf Papier sei, dann sei dieses ganze schwere Gift aus meinem Herzen und meinem Körper geschieden. Dennoch, du hast recht: ich tue nicht genug. Ich schreibe nicht genug. Ich könnte niemals genug schreiben!
     
  19. Schmuddelkind
    Ob diese Tiefe meiner Empfindungen auf Gegenseitigkeit beruht oder ob sie diese zumindest erwirken mag, ist in der Tat eine Frage, die ich gerne beantwortet finden möchte. Ich kann dir darauf nur Albernes sagen: Wenn ich meine Gedanken nicht zu Ende denke, nicht einmal bis zum ersten Punkt, um mich in ihren Gedanken zu verlieren, ganz nah, ganz tief, wenn ich sie wie ein Gedicht lese, wenn ihr Schweigen unerträglich laut in mir wird und ich sie anrufe wie in einem Gebet, um ihre Stimme zu hören, so kann ich mir jedenfalls darauf keinen anderen Reim machen als dass so viel Sehnsucht nicht von einem einzigen Menschen allein empfunden werden kann - fast als müsse sie diese Sehnsucht teilen, wenn in dieser Welt etwas Sinnhaftes sein soll.

    Wärst du bei mir
    Wärst du bei mir an meiner Brust,
    verlör ich keine Träne und kein Wort
    darüber, wie es wär, wärst du jetzt fort,
    als hätt ich davon nie gewusst.
  20. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    heute hat sie's mir wieder geschrieben: "Ich vermisse dich!". Es ist, ich verstehe es, das Unschuldigste und Liebste, das ein Geschöpf äußern kann, indem sie es schreibt, voller natürlicher und herzlicher Hinneigung, der reinste Ausdruck eines gutmütigen Wesens. Aber es ist ein Verbrechen vor der Verletzlichkeit einer zarten Natur, wenn sie es mir schreibt. Was hat sie für ein Recht, mich zu vermissen, wenn ich kein Recht habe, etwas daran zu ändern? Und in dem Augenblicke, in dem ich das niederschreibe, schäme ich mich dafür: Wer bin ich, sie für ihre Gefühle zu schelten und sie gleichzeitig ganz in meinem innersten Empfinden einzuschließen?
    Ich weiß nicht mehr, was ich glauben und was ich meinen soll.
     
  21. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ich bin ein entzweiter Mann! Gestern hatte sie Geburtstag. Wie wild schlug mir mein Herz vor Freude und Aufregung, als sie mir schrieb, sie wünsche sich kein Geschenk sehnlicher, als dass ich sie anriefe! Und doch, wie war es mir zugleich so schwer! Wie kann mir diese wunderschöne Stimme, die mir so viel wert ist, eine Strafe für mein Verlangen sein? Die schlimmsten Fehler, die wir machen, sind unvermeidlich. Kann ein Mensch sich einen anderen Menschen aussuchen? Nein, er wird hingezogen oder abgestoßen oder treibt träge davon. Und doch fällt dies alles mit unerträglicher Wucht auf uns zurück.
     
    Ich habe sie angerufen; denn ich konnte nicht anders. Ich will nur sie! Ich sehe es ganz klar, ohne einen Gedanken davon denken zu müssen. Da erschlug mich wieder die ganze Schwerelosigkeit ihres freimütigen Wesens, das mich doch tragen sollte, das mich befreien sollte: "Wir haben schon so lange nicht mehr telefoniert. Ich hab dich vermisst!". Wie sie diese bedeutsamen Worte mit einer solchen Selbstverständlichkeit, Reinheit und Leichtigkeit sagen konnte... Da hatte ich Mühe meine Unrast zu verbergen und musste aufpassen, dass sich mein Atem nicht überschlug. Was ist das für ein Leben, dass ich auf meinen Atem achte, wenn ich mit ihr spreche? Und was wäre das für ein Leben, nicht mit ihr zu sprechen?
     
    Welch eine Wonne und welch eine Folter, wieder so viel Sinn und so viel fromme Andacht vor dem Menschsein in all den natürlichen, kleinen Bewegungen ihrer Stimme und all den noch so profanen Äußerungen über ihren Geburtstag, ihre Familie und ihre Arbeit zu vernehmen! Eine unbeschreibliche Regung durchfuhr meine Seele, als sie davon schwärmte, mit mir ein Glas Wein zu trinken. Manchmal denke ich, wenn ich es ausdrücken könnte, dass... alles, ach! Wenn es Worte dafür gäbe, dann müsste sie es verstehen und dann hätte sie ein Einsehen und ein Mitempfinden. Dann bilde ich mir ein, könnte sie nicht anders, als meine Gefühle zu teilen.
     
    Sie fuhr fort: "Aber leider bist du so weit weg, du Lieber." und ihre Stimme füllte sich mit einer Wehmut, die man nicht darstellen kann, wenn man sie nicht empfindet. Aber was sind Raum und Zeit als bloße Vorstellungen, Entsprechungen unserer Angst? Und was sind sie wert, wenn man keine Angst mehr hat, nicht einmal vor dem Tod? Ich wünschte, ich wär so weit!
     
  22. Schmuddelkind
    Mit dem Aufwachen dürstete mir nach spiritueller Versenkung. Daher habe ich den ganzen Tag dafür genutzt, jede einzelne Internetseite zu durchforsten. Mein Fazit: drei Sterne. Mir ist übrigens aufgefallen, dass das Internet voll von Verschwörungstheorien ist. Ich denke, die Regierung verbreitet über das Internet sämtliche Verschwörungstheorien, um die Menschen gegen Fakten zu immunisieren, bis unsere Gehirne für die totale Staatspropaganda empfänglich sind und wir zu willenlosen Ausführorganen eines Genosuizids werden, der von jener geheimen Sekte von langer Hand geplant wurde, die sämtliche Schlüsselpositionen in Politik, Wirtschaft und Kultur innehat. Wer mir widerspricht, gehört zu denen.
  23. Schmuddelkind
    In Detmold wollte ein Mann demonstrieren, dass der Corona-Virus absolut harmlos ist. Also schlich er sich in die Intensivstation eines Krankenhauses ein, um dort die Krankenhausabfälle zu stehlen, einzukochen und die Dämpfe zu inhalieren. Er starb an mehreren Krankheiten, u.a. Corona. Corona ist natürliche Auslese in Zeitraffer. 
  24. Schmuddelkind
    Ach Babsi,
     
    bald füllt sich der Mond zum ersten Male seit... Und ich denke an den letzten Vollmond, in dessen mildem Lichte ich mich ihr so nahe wähnte. Auch denke ich an sie. Vielleicht blickt sie auch gerade gen Himmel und erkennt, dass wir vor des Mondes Angesicht an demselben Orte sind und gemeinsam in die Ferne blicken. Ach, irriges Geschwätz! Wieso sollte sie? Allerdings ist sie mein Mond und ihrem geruhsamen Wesen ist meine ganze Unrast zugedacht.
     
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