Zum Inhalt springen

Schmuddelkind

Autor
  • Gesamte Inhalte

    1.193
  • Benutzer seit

  • Letzter Besuch

Blogeinträge erstellt von Schmuddelkind

  1. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    du weißt, wie wenig ich Pläne schätze. Immer wenn es etwas zu planen und zu organisieren gilt, ist es, als zwänge ich meiner Seele Atem in enge, beliebige Vorgaben. Doch wenn sie mit mir ihre Reise bespricht, wenn sie ihre Möglichkeiten aufzählt, mir Fragen stellt, wo sie am besten ankommen solle, ob ich sie am Bahnhof empfangen könne - diese belanglosen Details bedeuten mir die Welt, entsteigt ihnen doch: "Ich will bei dir sein."

    Reifte meine Begierde ganz aus dem ziellosen Geschehen heraus, indem ich mich der Weisheit einer Natur anvertraute, die größer ist als ich, so sehe ich nun, wie mein Wunsch immer mehr zur Wirklichkeit empor wächst. Da ich ganz in meine Fügung einkehrte, wurde ich zur Fügung selbst und mehr Freiheit kann ein Mensch durch eigene Wahl nicht haben. Die Grenze zwischen Müssen und Wollen ist aufgehoben. Hat dies jenseits meines Geistes eine Bedeutung?
  2. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ich weiß nicht, was geschehen wird, wenn sie hier ist und nichts anderes will ich mir vornehmen, als ein Spiegel der Begebenheiten zu sein. In der Ruhe will ich träumen. In der Anregung will ich mich rühren. Und ihre Nähe will ich mit Nähe erwidern. Meinetwegen wird sie hier sein. Bereits dies erwarte ich mit Verve und im Vertrauen auf den Moment kann ich keinen Mangel empfinden.

    Und doch, ach, ich schweige lieber...
     
  3. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    da mich heute die Vögel frühlingsgrüßend weckten und dem Kalender spotteten, beschloss ich es ihnen gleich zu tun und auch meine Pläne zu übergehen. In meiner Seele habe ich die sanften, aber fokussierten Bewegungen der leichten, weißen Wölkchen am warmen Himmel wiedergefunden und zog mit ihnen den Hang hinauf. Ach, die herrliche Weite der Landschaft, die sich vor mir erstreckte, könnte meine Sehnsucht nicht einfassen. Wäre ich nur ein Traum, ich brächte all die Bilder meiner Sinne ihr zu Geiste und wäre ihr nahe!
  4. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    ich habe ihr einige der Gedichte vorgelesen, die ich in deinem Büchlein gefunden habe. Und als ich aus de la Motte Fouqués "Waldessprache" las, wo die Klänge der Natur scheu verstummen, sobald Worte sie wiedergeben wollen, da enteilten ihr zu manchen Versen diejenigen Seufzer, die ich gerade noch zügeln konnte. Daraufhin trug sie mir Ludwig Uhlands "Einkehr" vor, worin die tiefste Dankbarkeit der Natur gegenüber ausgedrückt wird. Ihre Großmutter hat es ihr immer aufgesagt, um sie in den Schlaf zu wiegen. Überhaupt muss ihre Großmutter ein ganz besonderer Mensch sein. Sie war immer für Sanny da, auch als der Rest der Familie auseinanderbrach und Sanny sich in einem Strudel wiederfand - da war die Großmutter ihr die Ruhe hinter allen Wirren.
  5. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    heute entdeckte ich einen Ort von unbeschreiblicher Schönheit, dass ich mich wundern musste, weshalb ich die paar Kilometer bisher noch nicht auf mich genommen hatte: Bei Hanau steht ein Schloss, das der Bauherr im beschaulichen Wilhelmsbader Park vor gut zweihundert Jahren bereits als Ruine errichten ließ - eine aus Stein gemauerte Vergänglichkeit! Ich konnte die Weitsicht und Demut ob der Vergänglichkeit seines Schaffens nur bewundern. Und wie sich die Ruine so natürlich aus der Insel inmitten des kleinen Weihers erhob, wo noch vereinzelt gebrochenes Eis obenauf schwamm - als hätte dies alles nie anders sein können!

    Die Vergänglichkeit aller Dinge ist ein kluger Lehrer. Wie in der Natur alles vergeht und sich ständig erneuert, so auch in meiner Seele. Schon konnte ich die ersten Krokusse im Park bestaunen, da das Eis kaum geschmolzen war und in der sanften Mittagssonne belebte eine Ahnung des Frühlings meine Sinne, wenngleich ich nicht ungeduldig mit dem Winter sein mag, wenn er sich entschließt, noch etwas zu verweilen. Dies alles erinnerte mich an Sanny.

    So oft fehlen mir vor Glück gar die Worte, wenn sie mir aus der Seele spricht, dass sich ein tiefes Bedauern in mir auftut, wenn sie ihre Gedanken zu Ende bringt, weil ich ihr ewig zuhören möchte. Doch ehe sich die Bedrücktheit in meiner Seele ausbreiten kann, kommt ihr völlig aus dem Nichts ein anderer Einfall und sie erschafft einen neuen Moment, ganz nebenbei. Vor ihrem Ideenreichtum ist alles Erleben vorläufig und in dieser Vorläufigkeit finde ich Gleichmaß. Doch jeden Tag, wenn die Worte zur Ruhe kommen müssen, ist dies endgültig und ich wanke und wenn wir einander "gute Nacht" zuflüstern, möchte ich mich in meinem Bette nach ihr umdrehen und ihr in die Augen schauen. Doch da ist niemand. Ich will sie sehen! 

    All diese Wirren fanden sich heute in einem unvollendeten Sonett wieder:
     
    Es zwang mich die Unrast hinaus in die weiten,
    die wallenden Felder, die stumm mich gemacht,
    auf Gipfel, erhaben fast über die Zeiten,
    hinaus in die wütende, donnernde Nacht,
     
    hinaus mit der Leidenschaft blühender Jugend,
    auf bebenden Lippen zu nichts mehr ein Wort,
    hinfort mit der Sünde! hinfort mit der Tugend!
    hinfort von der einsamen Heimat, hinfort!
     
    Je weiter ich ging, desto ärger das Sehnen
    nach Fremde, nach Weite, nach Schönheit, nach mehr -
    ich weiß nicht... nach Einklang von Kosmos und Seele,
     
    nach etwas, das wert sei, zum Schluss zu erwähnen.
    Es drängt, ach, mein Herz denn wonach nur so sehr?
  6. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    was du über die Unvollkommenheit sagst, ist ganz richtig: gerade das Unvollkommene vermag mich mehr anzusprechen, als wenn alles so von sich geht, wie man es sich eben vorstellt. Wenn sie gerade ein wenig zu laut lacht und ich weiß, dass sie ihre Freude nicht zurückhalten kann oder wenn sie davon berichtet, wie sie aufzuräumen versucht habe, es dabei aber deutlich übertrieben habe und nun alles noch viel mehr im Chaos versunken sei und dann in scheinbarer Rechtfertigung stolz nachreicht: "Aber die Schränke sind jetzt sauber" oder wenn sie mir immer wieder eine schöne Nacht wünscht, weil sie so müde sei, doch ihre stets neu gefassten Nachtgrüße sie wieder davon abbringen, weil es sie auf ganz andere Gedanken bringt - nur die verzückendste Ehrlichkeit kann so schön unvollkommen sein.
  7. Schmuddelkind
    Aber Babsi, 
     
    du verstehst doch daher sicherlich, dass mir an Sinn und Ordnung nicht gelegen sein kann. Im Gegenteil! Die klarsten Gedanken könnten mir nicht deutlicher den Weg aufzeigen, auf welchem ich mich im achtlosen Taumel bereits befinde. Gestern, als wir einander mit den liebsten Worten in den Schlaf entließen, küsste ich gerade leise genug, dass sie es nicht hören konnte, den Hörer.
  8. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    schließlich musste ich doch meinen Pflichten nachgehen und konnte der ungeliebten Stadt meinen Besuch nicht ausschlagen. In der Stadt sind die Menschen einander bloß Hindernisse, die aneinander ungegenwärtig vorbei manövrieren. Dies bestürzt mich jedes Mal auf's Neue, in welchen Formen der Sklaverei die Menschen Fortschritt zu erkennen glauben. Eine unscheinbare Szene konnte heute besonders gut zusammenfassen, wie stumpfsinnig unsere Zeit ist:
     
    Eine Frau mit Sonnenbrille tastete sich mit ihrem Blindenstock auf dem Bahnsteig voran. Da sprach ein Mann zu seinem Sohn: "Starr die blinde Frau nicht so an!", woraufhin diese sich zu ihnen umdrehte. Der Mann drehte sich verlegen weg, als wüsste er von nichts, während der Sohn die Frau anstarrte. Treffender als Sanny hätte ich es nicht sagen können: "Manche Menschen sehen hinter all den Regeln keine Ethik mehr."
  9. Schmuddelkind
    Gut Babsi,
     
    wir werden nicht mehr darüber reden. Doch dann lassen wir auch meine Magisterarbeit unter den Tisch fallen.
    Oh ja, die Poesie ist mir ein Leuchtturm der Seele. Sie lässt mich wissen, auch wenn ich mich einsam wähne, dass es etwas Größeres, Bedeutsameres gibt als mein vergängliches Leid, obgleich dieses im Moment des Schreibens ganz im Mittelpunkt meiner Anschauung liegt. Jedoch in der Ferne dieses Licht zu erahnen, das mir den Weg weist, das mich erkennen lässt, wo ich bin, weitet meine Vorstellung von dem, was greifbar ist, fast als könnte ich die ganze Welt umgreifen, weil ich so viel mehr erschaffen kann, als die irdische Beschränktheit des Lebens preisgibt. Ja, so viel bedeutet mir die Poesie! Ob ich dafür jüngere Beispiele habe, fragst du? Erinnerst du dich noch an folgendes Gedicht aus glücklicheren Tagen?
     
    Gartenfest
    Der Garten war voll von geladenen Gästen.
    Ich fühlte mich einsam, verloren und fremd.
    Du lugtest so vorsichtig zwischen den Ästen
    bestimmt auf den Rotweinfleck auf meinem Hemd.
     
    Ich saß auf dem Bänkchen und zählte die Streben.
    Ich haderte. Sicherlich tat ich dir leid.
    Und plötzlich und unverhofft saßt du daneben
    in deinem gehäkelten weiß-beigen Kleid.
     
    „Du bist ja ein Tollpatsch; da muss ich dich hegen!“
    erwogst du und deutetest auf meine Brust.
    Zum Glück, ach ergoss sich ein prasselnder Regen.
    Wir stellten uns unter die Tanne, bewusst.
     
    Jüngst habe ich dieses Gedicht so ziemlich verunstaltet und da bemerkte ich, dass ich einen Abschluss suche, dass ich nicht mehr am Alten und Trügerischen hängen möchte:
     
    Gartenfest II
    Kaum bist du gegangen, ging ich in den Garten,
    wo schüchterne Blicke sich trafen zurück,
    wo willige Lippen, kaum fähig zu warten,
    sich labten einstmalig am flüchtigen Glück.
     
    Hier stehe ich nun, meine Hoffnung verwaschen.
    Hier stehe ich nun und zerschlage die Bank.
    Hier stehe ich, trinke nun Rotwein aus Flaschen
    und proste der Tanne zum zynischen Dank.
     
    Hier sehe ich mich, mit mir selbst traurig tanzen,
    ich tanze mit Rotweinfleck auf meinem Hemd.
    Nach allem, was war, bliebst im Großen und Ganzen
    du wie auf dem Gartenfest immer mir fremd.
     
    So viel Verwirrung, Enttäuschung und Wut, wie in dem Gedicht zu finden ist, so viel davon ist mir nun abgenommen. Gewiss, ich denke immer noch an sie und ja, ich widme ihr auch noch immer meine Gedichte, aber ich suche meinen Schmerz auf, stelle mich meinen Empfindungen, um irgendwann einmal nicht wieder zurückblicken zu müssen. Das Leid ist ein Dämon, der einem im Nacken sitzt, solange man die Augen vor ihm verschließt. Man muss ihm in die Augen blicken und ihn niederringen. Und dazu verhilft mir die Poesie.
     
    Du fragtest auch nach meinem Umgang. In der Welt der Dichter finde ich die Gespräche, die mich vervollständigen, neben dem Briefaustausch mit dir natürlich. Da könnte ich dir eine ganze Reihe von einzigartigen Persönlichkeiten aufzählen, die alle mehr Zeit wert sind, als der Tag Stunden hat. Am meisten erfreue ich mich an den Unterhaltungen mit einer gewissen Sanny aus Berlin, die die zartesten Gedichte schreibt - Worte, die mir in ihrer Schlichtheit und Wärme durch all mein Erinnern streifen, ehe ich sie verstehe, als seien sie ihrem unbefangenen und doch so klaren Weltempfinden, an dem ich seither in einigen Briefen Anteil nehmen durfte, entflogen in eine Ganzheit, wovon man sich als Leser als einen Teil empfindet. Das ist Poesie, wie sie zuvor nicht vorstellbar war! Nicht weil sie nach Größe trachtet, sondern weil man sich ihrer Bescheidenheit und Natürlichkeit nicht entziehen kann.
     
    Ich werde dir demnächst davon weiter berichten. Sanny hat mir gerade geschrieben. Und ich möchte noch rasch antworten, bevor ich zu Bett gehe.
     
    Gute Nacht!
  10. Schmuddelkind
    Danke Babsi,
     
    da offenbare ich dir meine Träume und alles, was du liest, ist "Magisterarbeit". Nun ja, ich muss mich erst wieder in das Thema einfinden. Die Mathematik hinter den Gesamtzusammenhängen habe ich zumindest ausformuliert. Allerdings wollen sich mir die Details noch nicht öffnen. Ich weiß mir keinen Rat, wie ich Rawls' Differenzprinzip einer Messung zugänglich machen soll. Und dann kommt mir wieder der Gedanke, wie unsinnig es ist, Gerechtigkeit zu messen. Gewiss wirst du mich mit viel Tücke zitieren, dass es, um eine Veränderung zu bewirken, unumgänglich sei, Sachverhalte klar und präzise darzulegen. Jedoch möchte ich dich auch an deine Zitate erinnern: "Den Weg zu denken, bedeutet nicht, den Weg zu gehen." Wie recht du damit hast!
     
    Wird denn nicht allen Dingen ihre Bedeutung genommen, wenn wir ihnen Zahlen zuordnen? Wo ist die Schönheit Beethovens, wenn wir Frequenzen messen, Fourier-Transformationen betreiben und alles, was einmal sinnhaft war, quantifizieren? Wo sind das Herzblut, die Neugier und der Fleiß eines Schülers in einer Schulnote zu finden? Worin versickert die Inspirationsquelle zeitloser Ideen wie Freiheit, Gerechtigkeit und Liebe, wenn alles mit Zahlen gesagt sein soll? Überhaupt möchte ich mir keinen Elfenbeinturm in meinem Kopf einrichten. Ich will die Welt in mir wiederfinden.
     
    Egal wie kalt es ist - meine Spaziergänge haben daher Bestand. Die Kälte am ganzen Körper zu spüren, den Schmerz in den Fingern und Zehen zu empfinden - das ist eine dieser ursprünglichen Erfahrungen, nach denen man sich heimlich sehnt, nur um zu wissen, dass die Welt sich nicht um den Menschen dreht und dieser vielmehr dankbar sein kann, seinen Körper als einen Teil des Weltenganzen zu begreifen. Und wenn ich mich so ganz der Natur hingebe, wenn auch nur für wenige Stunden, erkenne ich gerade in meiner Machtlosigkeit, wie sie sich ganz mir offenbart - etwa in dem verträumten Funkeln des zugefrorenen Weihers im nahen Wäldchen. Babsi, du musst dies einmal sehen!
     
    Allmählich wird mir mein Maintal also immer werter, auch da ich nicht mehr durch so viel Forderndes abgelenkt werde - zumindest so viel Gutes kann ich bereits am Alleinsein finden. Auch der Austausch mit all den Dichtern und Schriftstellern im Forum tut mir gut. Nicht nur, weil es bedeutsam ist, sondern auch, weil unter Menschen, wie sie sich zufällig irgendwo antreffen lassen, nie so viel mir Bekanntes, Anregendes und Ersehntes zu finden ist. Durch meine Gedichte finde ich Klarheit, wenn - oder weil - sie auch oft viel Verwirrung tragen. Und in den Gedichten anderer finde ich Trost.
     
    Mir tut es wirklich leid, wie es eben einem Freund nur leidtun kann, zu lesen, wie du zwischen all den Zeilen deiner Vita so wenig Leben noch erkennen kannst. Nur, was soll ich dir anderes sagen? Dass dich, die du immerzu nur tätig bist und die die Welt nur bei Tage besieht, so viel Undeutlichkeit ängstigt, kann mich nicht überraschen und ich sage es nicht, um dich zu kränken, sondern um dir einen Weg aufzuzeigen - es muss ja nicht mein Weg sein. Wenn man einmal eine solche Verpflichtung eingegangen ist, wozu sich die meisten wohl genötigt sehen, sind alle Entscheidungen vorgezeichnet. Ich habe es dir schon oft gesagt und ich werde nicht müde, es zu sagen: Wir brauchen nicht mehr Pläne - wir brauchen mehr Zeit!
  11. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    heute Nacht hatte ich einen Traum: Ich spürte, dass ich sterben würde. Und als meine Zeit gekommen war, stand ich auf und wurde, indem ich in das Wasser ging, zu dem Wasser selbst. Und ich umfasste die ganze Welt und spürte ihren tiefsten Grund. Und ich trug die Seerosen in den Tümpeln und die Schiffe auf den Meeren zugleich. Die völlige Stille des Ozeans barg ich in mir, während ich die Kraft der Gezeiten wiedergab, mich an den schroffen Felsen der Küsten zu erschöpfen. Und ich tränkte die Pflanzen, Tiere und Menschen und verlieh ihrer dürstenden Trauer Ausdruck. Und ich rauschte durch die Gebirge, drängte mich durch das alte Gestein, ließ mich durch die Wälder treiben und ruhte in den Seen, worin ich die Sterne spiegelte. Und ich wohnte mir selbst inne, zerfiel in mir, zerstreute mich im Nebel der Welt und fand mich, herabprasselnd in mir selbst wieder. Und dies war mein Atem, bis ich erwachte.
     
    Was dies mir wohl sagen möchte? Du kennst mich - wenn ich verliebt bin, gibt es keinen schlimmeren Romantiker als mich und dies kommt mir nicht eben zugute. Dann spüre ich den Weltschmerz in seiner ganzen Intensität und kann zuweilen ein unausstehlicher Zyniker werden, bis mich ebendies wieder zur Vernunft bringt. Und bin ich mit mir selbst im Reinen, gehe ich für eine Weile völlig in der Ruhe auf. Doch bald ist mir nichts lieber, als mich in philosophischen Fragen zu verlieren, die nichts mehr befördern als weitere Fragen. Jeder Atemzug meiner Seele ist nichts weiter als die Reaktion vorangegangener Atemzüge. Wie bin ich so unbeständig?
     
    Als wir jedoch zu Silvester - oh, und für diese schöne Nacht möchte ich dir und den anderen, die hiermit herzlichst gegrüßt sein sollen, wehmütig danken - als wir also zu Silvester einfach geradeaus fuhren - ohne Ziel, ohne Zeitgedenken - da fühlte ich mich auf dem richtigen Wege und habe all diese Zweige meiner Selbst zu einer kräftigen Wurzel zusammengeführt erlebt, die von eurer Freundschaft gewässert wurde. Dass just, als wir uns dem neuen Jahr näherten, dieser schönste Berg der gesamten Vogesen sich vor uns auftat, von wo aus wir die herrlichste Sicht auf das Feuerwerk hatten, womit die Menschen die Enttäuschungen des vergangenen Jahres zum Himmel jagten! Ich bin jedenfalls fest entschlossen, meine Enttäuschungen hinter mir zu lassen, um dieses Jahr in der Welt meine Wurzeln zu schlagen. Ich arbeite inzwischen auch schon wieder fleißig an meiner Magisterarbeit und mir geht es jedenfalls nicht schlimmer, als man es erwarten könnte.
     
    Ich hoffe, du hast klarere Träume!
  12. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    du weißt, dass mir mein Geburtstag recht wenig bedeutet. Umso mehr bedeutet es mir, dass du dennoch daran gedacht hast. Vielen lieben Dank, auch für das Buch, das du mir geschickt hast! So manches Gedicht habe ich darin gefunden, das mir unbekannt war. Besonders hat mich Ludwig Tiecks Glosse (Liebe denkt in süßen Tönen) beschäftigt, denn in der Tat kann Liebe nicht in Worten gedacht werden und indem man sagt "ich liebe dich" wird die Liebe undeutlich, die eben noch in meinen zitternden Lippen klar zu erspüren war. Wenn ich dennoch jemandem mitteilen möchte, was ich für sie empfinde, denn Liebe kann nur schwer gehalten werden, so habe ich doch nur Worte dafür. Muss dann Liebe nicht letztendlich unerfüllt bleiben?

    Aber wenn ich mit ihr rede! Oh Babsi, wenn ich mit ihr rede - gestern hielt sie mich bis Mitternacht und länger am Hörer, um meine erste Gratulantin zu sein - wenn ich mit ihr rede, werden solcherlei Befürchtungen hinfällig. Da verwirren sich all meine Gedanken. Worte versuchen eher kläglich, dies zu überkommen. Aber meine Hinneigung ist so klar, wie ich Sanny sehen kann, wenn ich ihrer Stimme lausche - das kann ich gewiss - und ich bin über Entfernungen, Erwartungen und überhaupt über meinen Geist, ach, über die ganze Welt erhaben. Dies sind mehr als Worte! Ich weiß nicht, was dies ist. Erfüllt sich nicht etwa schon die Liebe in diesen schlichten Hergängen?

    Etwa wenn sie mich zärtlich aber nachdrücklich auffordert, ich solle ihr noch mehr erzählen - "Bitte! Du erzählst so schön" - sodass ich es ihr nicht ausschlagen könnte, wenn ich wollte. Und dann, wenn ich mitten in den inneren und äußeren Erfahrungen während meiner Waldeseinsamkeit angelangt bin, nichts weiter ahnend als den Fortgang meiner Geschichte, unterbricht sie mich plötzlich und da werden mir meine Worte selbst ganz egal, als ich sie singen höre. Erst da erkannte ich, dass es wohl mein Geburtstag sein müsse, hatte ich doch zuvor noch gar nicht daran gedacht. Oh Babsi, als wäre ich gerade in diese Welt geraten, verzückt und neugierig und in heiterer Verwirrung über all die schönen Reize! Und sogleich schickte sie mir ihr Geschenk - ein Bild, das sie nur entweder durch die feinste Beobachtung oder durch die weitschweifigste Fantasie zeichnen konnte:

    Zwei kleine Kinder, die einander mit großen, staunenden Augen anblicken, die Hände ungelenk aber sehnsüchtig zueinander ausgestreckt, mit einem ungehaltenen Lachen, wozu nur eben Kinder imstande sind. Ach, sie haben noch kaum etwas gelernt über diese Welt und schon so viel dessen verstanden, was die meisten von uns vergaßen, während wir "reifer" wurden, also uns Vorsicht und Misstrauen aneigneten. Babsi, einen schöneren Geburtstag hatte ich wohl selbst als Kind nicht erlebt! Habe heute Nacht auch kein Auge zugetan, da ihr Lied und ihr Bild mit meinem Empfinden zu einer untrennbaren geistigen Erscheinung zerflossen. Und dies war mir der schönste Traum.
  13. Schmuddelkind
    Ach Babsi,
     
    du liebenswerte Schwindlerin! Fragst mich, ob ich mir sicher sei, dass sie nur eine Brieffreundin sei und kennst die Antwort schon längst. Was soll ich's leugnen? Nicht etwa erkenne ich sie in den Mustern meiner Welt, nein! Meine Welt erkenne ich in ihrem Wesen. Meine Wünsche erwachen in ihren Atemzügen und schweigen sogleich selbstgenügsam in ihr Lachen hinein.

    Sie ist meine Verdandi und ich bin glückselig in den Fäden des Werdens verloren.
  14. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    wie habe ich mich gefreut, dich eher wiederzusehen, als ich es erwartet hatte, auch wenn ich die Umstände, die dies ermöglicht hatten, gerne gemieden hätte! Nur, man kann sich seine Umstände nicht zurechtlegen. Ich kann wohl sagen, dass die Tage der Heimat mit all ihren sorglosen Erinnerungen, der Freundschaft und wohl auch des regelmäßigen Essens mich gekräftigt haben.

    Heute erst, nach meiner Rückkehr, habe ich Sanny von meinem Schwächeanfall berichtet. Zuvor hatte ich ihr nur in aller Eile geschrieben, dass ich für ein paar Tage nicht erreichbar sein würde, da ich vor meiner zügigen Abreise keine Gelegenheit gesehen hatte, ihr alles ausführlich darzulegen und jede halbgare Erklärung hätte sie wohl nur beunruhigt. Da hat sie mich, nachdem sie sich nach meinem Befinden erkundigt hatte, so liebevoll gescholten und mir gestanden, sie habe sich gerade daher Sorgen gemacht und sie pochte darauf, dass ich sie, wenn ich ihre Hilfe brauche, jederzeit anrufen solle, selbst wenn es nachts um drei sei.

    "Aber jetzt gehen die Empfindungen mit mir durch", entschuldigte sie sich sogleich ebenso liebevoll: "Da mache ich dir Vorwürfe, wo du meinen Trost bräuchtest! Ich bin froh, dass du wieder da bist! Es war ganz schön leer ohne dich und mein Telefon ist schon ganz kalt geworden." So sehr ich mich nach ihren innigen Worten verzehrte, denn auch ich muss zugeben, dass ich ohne Sanny nebensächlich war und nur die Spaziergänge mit dir darüber hinwegtäuschen konnten - beinahe wäre mir unwichtig gewesen, worüber sie redete, da meine Seele allein in der Zärtlichkeit ihrer Stimme schon zur Ruhe kommt. Mein Sehnen ist ein Wolkenbruch und ihr Sinnen ein stiller, tiefer See.
  15. Schmuddelkind
    Babsi,
     
    ich schreibe dir zitternd vor Angst. Heute ist Lindas Geburtstag, woran ich gewiss keinen Gedanken verschwendet hätte, hätte sie sich nicht mit so viel Gewalt in meinen Tag gedrängt. Sie klingelte bei mir und ich sah sie durch das Guckloch in meiner Tür. Zunächst hielt ich es für die beste Idee, mich still hinzusetzen, so zu tun, als wäre ich nicht da und zu warten, bis der Spuk vorüber gehen würde. Aber wie lange hätte ich regungslos bleiben müssen?

    Als sie nach einer Weile noch immer klingelte und klopfte und mich anflehte, ihr die Tür aufzumachen, damit sie mir erklären könne, was ich gar nicht hören möchte, ging ich wieder in Richtung der Tür und rief: "Verschwinde!" Dies konnte sie, auch nach wiederholter Aufforderung, nicht akzeptieren und blieb still vor meiner Tür stehen, hielt mich für Stunden in meiner Wohnung gefangen. Hin und wieder ging ich zur Tür, schaute durch das Guckloch und sah den Wahnsinn in ihren Augen, den sie für Liebe hielt. Noch nie fühlte ich mich so hilflos und bedroht. Gerade erst ist sie gegangen und ich zittere vor Angst.
  16. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    zurzeit lese ich einen Roman über einen Schriftsteller, der die Menschen um sich herum, allen voran seine Geliebte, auf die niederträchtigste Weise manipuliert, um in seinem Leben eine anregende Geschichte zu finden, die er niederschreiben kann. Als ich Sanny davon erzählte, kommentierte sie es mit trockenem Witz: "Blöde Literaten!" Ich entgegnete, dass jener Schriftsteller zwar Einiges durcheinander bringe, aber dass man in seiner Geschichte auch etwas erkennen könne, das in der Kunst ohnehin von statten gehe. Ist es nicht so, dass das Leben, ob dies ein Künstler beabsichtigt oder nicht, sich ebenso aus der Kunst gestaltet wie die Kunst aus dem Leben?

    Wenn ich ein Gedicht schreibe, die entfesselte Euphorie, die stille Glückseligkeit, ebenso wie das düsterste Leid aus dem Innersten hervorhole, aus einer Seelentiefe schöpfe, die ich in meinem einfältigen Dasein sonst nie hätte ergründen können, so leitet mich dies doch an, dem Weg, der sich dabei auftut, zu folgen. Und in diesem Kreislauf aus Inspiration und Schöpfung mag es einem Künstler so vorkommen, als sei die Kunst das wahre Leben, wonach sich das irdische Dasein bloß abbilde. Zumindest weiß ich, dass der Stift das mächtigste Werkzeug des Menschen ist. Wie viele Poeten haben sich wohl schon in den Tod gedichtet?

    Sanny erkannte sich selbst in einigen meiner Worte, da sie, wie sie mir verriet, ihre Gedichte zwar nicht über sich, jedoch unmittelbar aus der Ehrlichkeit eines empfundenen Augenblickes heraus schreibe und weil ich weiß, wie sonst wohl niemand, was dies bedeutet, ist es mir, als nähme ich in solchen Momenten ihres Selbstgründens teil, wenn ich ihre Gedichte lese, als fände ich ihre Poesie in mir wieder. Und da wir uns wohl, wie ich es mir kaum anders erklären kann, in der Inniglichkeit einer gemeinsamen Poesie begegnet sein mussten, äußerte sie ihren Wunsch, sich noch eingehender mit mir auszutauschen. Ohne es zu wissen, hatte ich wohl darauf gewartet und ergriff den Moment, ihr vorzuschlagen, künftig miteinander zu telefonieren.
  17. Schmuddelkind
    Nein Babsi,
     
    so sehr ich deine aufgeregte Neugier verstehe - so töricht will ich nicht sein, mich von einem Unglück in das nächste zu stürzen. Jetzt wirst du alles bereden wollen und um uns die Zeit zu ersparen, antworte ich dir gleich:

    Berlin liegt nicht eben auf meinen Routen, selbst wenn ich sehr ausgedehnte Spaziergänge suche. Dies allein verbietet schon jede weitere Sehnsucht und doch weiß ich, dass du es nicht gelten lassen wirst, mich so sachlich dieser Angelegenheit zu entziehen. Also sei versichert, dass ich in ihrer Freundschaft alles finde, was ich in der Hinneigung zu Menschen suche! Ihre Zuwendung regt mich dazu an, mich mitzuteilen, ihre Worte lassen mich zur Ruhe kommen, in ihren Gedanken erkenne ich mich selbst, auch und gerade dann, wenn sie mir ganz neu sind und ihr heiteres Gemüt weckt in mir längst verdrängte Lebensfreude.

    Wenn ich dies alles gefunden habe, wieso sollte ich nach mehr verlangen? Nichts weiter will ich sein als demütig und dankbar ob dieser Freundschaft. Allerdings gefällt mir dein Einfall außerordentlich, ich solle einmal mit ihr telefonieren. Hab dafür tausend Dank! Denn auf das Naheliegendste wäre ich nicht gekommen. Ich werde es ihr bestimmt vorschlagen.
  18. Schmuddelkind
    Ja Babsi,
     
    ja, ich weiß, wie sie aussieht (sie schickte mir ein Foto) und ja, sie ist schön - um es ganz ehrlich zu sagen, so schön wie ihre Gedichte: eine unausgeschmückte, selbstgenügsame Schönheit, ein Blick aus klaren, blauen Augen, wie aus einer unergründlichen Seelentiefe, zarte Lippen, die nichts verlangen, als zu lächeln und dunkles, geheimnisvolles Haar. Nie habe ich das Gemüt eines Menschen so sehr in seinem Äußeren entsprochen gesehen.

    Aber jetzt red mir bloß nichts ein, was du am Ende doch nur bereuen wirst! Nein, ich bin ganz und gar glücklich mit dem Werden, dass ich ja nichts sein möchte, schon gar nicht ein verzweifelt Liebender.
  19. Schmuddelkind
    Liebe Babsi,
     
    Linda hat mir geschrieben. Und wie sich ihr Ausschweigen anlasslos in unangebrachte Redseligkeit verwandelte, hat etwas Merkwürdiges. Sie schrieb, dass sie mich vermisse, dass sie untröstlich sei über ihre Fehler und dass sie hoffe, ich könne ihr verzeihen. Diese Anmaßung, sich so unvermittelt und wortlos aus meinem Leben zu schleichen und jetzt die Auswirkungen ihrer eigenen Grausamkeit nicht ertragen zu können, hat keine Antwort verdient. Und so wenig ich ihr Verhalten verstehen kann, so sehr verschafft es mir Klarheit: Nun kann ich ganz gewiss sagen, dass ich von ihr endgültig gelöst bin.
     
    Sanny indes verband damit die Bitte, ich möge mein Gemüt davon nicht aus der Ruhe bringen lassen und ich bin ihr gefolgt. Tatsächlich würdigte ich dieser Unart während meines Schriftwechsels mit Sanny keines Gedankens. Da fällt mir ein, Sanny hat ein Sonett geschrieben und da ich nie so viel Freiheit, Leichtigkeit und Natürlichkeit durch solch formtreue Ordnung ausgedrückt gesehen hatte, konnte ich mir nicht anders helfen, als ihr Virtuosität anzuerkennen. "Ach was", schrieb sie "höchstens aus Versehen" und da ich ihr das fast glauben muss, sehe ich bei ihr, wie oft schon, Leichtsinn und Wahrhaftigkeit vereint. Nichts tue ich derzeit lieber, als, ihr zum Dank, zu lachen.
×
×
  • Neu erstellen...

Wichtige Information

Community-Regeln
Datenschutzerklärung
Nutzungsbedingungen
Wir haben Cookies auf deinem Gerät platziert, um die Bedienung dieser Website zu verbessern. Du kannst deine Cookie-Einstellungen anpassen, andernfalls gehen wir davon aus, dass du damit einverstanden bist.